Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts zu lauten hat:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 8. 2012 Pflegegeld der Stufe 3 in Höhe von 442,90 EUR monatlich zu gewähren, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden jeweils am Ersten des Folgemonats im Nachhinein, sowie die mit 1.066,93 EUR (darin 177,09 EUR USt und 4,40 EUR Barauslagen) bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei die mit 1.103,56 EUR (darin 183,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die am 29. 8. 1927 geborene Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin. Sie ist verwitwet, lebt in Österreich und bezieht Hinterbliebenenleistungen von einer belgischen und einer deutschen Rentenversicherung, jedoch keine österreichische Pensionsleistung. Ihr Pflegebedarf nach dem österreichischen BPGG beträgt mehr als 120 und weniger als 160 Stunden. Demnach stünde ihr Pflegegeld der Stufe 3 in Höhe von 442,90 EUR monatlich zu.
Mit Bescheid vom 31. 8. 2012 wies die beklagte Partei in Berichtigung ihres (antragsabweisenden) Bescheids vom 23. 8. 2012 den Antrag der Klägerin vom 25. 7. 2012 auf Gewährung des Pflegegeldes zurück, weil die Klägerin nur eine belgische Pension beziehe und daher der belgischen Krankenversicherung unterliege. Daher sei der Antrag auf Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit beim zuständigen Entscheidungsträger in Belgien einzubringen.
Die dagegen erhobene Klage ist auf Gewährung des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstellung gerichtet. Die Klägerin beziehe an Pensionszahlungen aus Belgien und Deutschland nach ihrem längst verstorbenen Mann insgesamt nur ca 1.000 EUR pro Monat. Der gemäß VO (EG) 883/2004 für die Rentenzahlung und Versicherung zuständige belgische Träger verweigere das nach belgischem Recht zu leistende Pflegegeld mit der verordnungswidrigen Begründung, dass solches nicht ins Ausland bezahlt werde. § 3a BPGG garantiere einen Pflegegeldanspruch auch bei Nichtvorliegen der „Grunddeckung“.
Die beklagte Partei beantragte Klagsabweisung. Da die Klägerin keine österreichische Pensionsleistung sondern Hinterbliebenenleistungen aus der belgischen und deutschen Rentenversicherung beziehe, sei sie nicht nach österreichischen Rechtsvorschriften in der österreichischen Krankenversicherung versichert, sondern beanspruche über die Wiener Gebietskrankenkasse lediglich Sachleistungen auf Kosten des ausländischen Versicherungsträgers. Pflegegeld sei nach der Judikatur des EuGH als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 anzusehen. Pflegebedürftige Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich hätten Anspruch auf Pflegegeld, sofern sie in Österreich krankenversichert seien. Aufgrund des belgischen Rentenbezugs unterliege die Klägerin jedoch der belgischen Krankenversicherung und der belgischen Pflegeversicherung, weshalb ein Antrag auf Pflegegeld beim zuständigen Entscheidungsträger in Belgien einzubringen sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Rs Jauch [C‑215/99] und Hosse [C‑286/03]) sei das Pflegegeld ‑ ungeachtet gewisser Besonderheiten ‑ eine Leistung bei Krankheit und keine beitragsunabhängige Sonderleistung gemäß den Art 4 Abs 1 lit a bzw Art 4 Abs 2b VO (EWG) 1408/71 . Gemäß Art 19 Abs 1 lit b dieser VO (nunmehr Art 21 Abs 1 VO [EU] 883/2004) der auf Leistungen bei Krankheit, also auch auf das Pflegegeld anzuwenden sei, erhielten Personen, die in einem anderen als den für die Versicherungsleistung zuständigen Mitgliedstaat wohnten, Geldleistungen direkt vom zuständigen Träger, nicht jedoch vom Träger des Wohnorts ausbezahlt, was im Ergebnis eine Exportpflicht bedeute. Da es sich um eine Frage der Zuständigkeit handle, könne auch nicht mit dem Gebot der Gleichbehandlung argumentiert werden (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld³ Rz 192). Die Klägerin unterliege als Bezieherin einer belgischen bzw deutschen Rente der belgischen bzw deutschen Krankenversicherung. Daher seien ausländische Träger für die Entscheidung über ihren Anspruch auf Pflegegeld zuständig. § 3 Abs 1 und § 3a Abs 1 BPGG kämen im räumlichen Geltungsbereich der VO (EU) 883/2004 nicht zur Anwendung (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 158 [so auch Rz 192 aE]). Da die Klägerin weder der österreichischen Krankenversicherung unterliege, noch eine inländische Pensionsleistung beziehe, bestehe kein Anspruch auf [österreichisches] Pflegegeld. Feststellungen zum Pflegebedarf der Klägerin würden jedoch für den Fall getroffen, dass sich das Rechtsmittelgericht dieser Rechtsansicht nicht anschließe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Auch wenn nicht festgestellt worden sei, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich habe, ergebe sich dies aus der Klage und sei von der beklagten Partei nie in Zweifel gezogen worden. Für EWR‑Bürger mit ausschließlich ausländischer Grundleistung (wie die Klägerin) sei in der Regel davon auszugehen, dass eine Zuständigkeit des österreichischen Entscheidungsträgers nicht bestehe, weil in Österreich wohnende Pflegebedürftige aufgrund der EWR‑Rente in einem anderen EWR‑Staat krankenversichert seien (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld³ Rz 191) und eine Exportpflicht von Pflegegeld in den Wohnsitzstaat bestehe. Nach Felten (ÖZPR 2011/16) sei jedoch unabhängig davon immer zu prüfen, ob nach dem nationalen Recht des Wohnsitzstaats die Voraussetzungen für den Bezug von Landespflegegeld erfüllt seien. In der Regel bestehe ein Anspruch auf Landespflegegeld, wenn die betreffende Person im jeweiligen Bundesland ihren Wohnsitz habe und pflegebedürftig sei. Nach den einschlägigen LPGG gelte das sowohl für Österreicher als auch für Staatsbürger eines EWR‑Mitgliedstaats (Felten ÖZPR 2011/15). Dies könne letztlich zu einem Doppelbezug von Pflegegeld führen: Neben dem Anspruch auf das österreichische Landespflegegeld nach nationalem Recht aufgrund des Wohnsitzes, bestehe aufgrund des Gemeinschaftsrechts Anspruch auf Export zB des deutschen Pflegegeldes wegen Bezugs einer deutschen Rente. Die VO (EG) 883/2004 verbiete jedoch das Aufeinandertreffen mehrerer Leistungen gleicher Art (Art 10) und stehe daher nationalen Anrechnungsbestimmungen nicht entgegen (Art 10 Durchführungsverordnung 987/2009). Solche speziellen Anrechnungsbestimmungen im Hinblick auf ausländische Pflegegeldleistungen seien in den einschlägigen Landesgesetzen auch vorgesehen. Ein Anspruch auf österreichisches Landespflegegeld bestehe daher zB beim Bezug deutschen Pflegegeldes allenfalls im Ausmaß der Differenz zwischen der deutschen und einer höheren österreichischen Pflegegeldleistung. Seien jedoch nach dem Recht des aufgrund der VO zuständigen Mitgliedstaats die Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld und somit den Export desselben nicht gegeben, so sei nach nationalem Recht das Landespflegegeld in vollem Ausmaß zu gewähren. In der Entscheidung vom 12. 6. 2012 (C‑611/10, C‑612/10, Hudzinski/Wawrzyniak) habe der EuGH ausgesprochen, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf die in Art 13, 14 und 14a der VO (EWG) 1408/71 geregelte Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats für Angelegenheiten der sozialen Sicherheit berufen könne, um in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend tätigen auslandsansässigen Wanderarbeitnehmern oder Selbständigen, die bei ihm zur unbeschränkten Steuerpflicht optierten, einen nicht dem Sozialversicherungsrecht entstammenden Familienzuschuss zur Gänze deshalb zu versagen, weil vom Wohnmitgliedstaat der gesamten Familie ebenfalls Familiengeld bezogen werde. Der völlige Ausschluss der Familienleistung im Recht des unzuständigen Staats wegen einer vergleichbaren Leistung im zuständigen Staat stehe nicht im Einklang mit den Bestimmungen des AEUV über die Freizügigkeit (DRdA 2013/18). Damit habe der EuGH seine Rechtsprechung zur Rechtssache Bosman (C‑352/06) bestätigt, dass die Kollisionsregeln der Verordnung 1408/71 nicht zur Verdrängung eines Leistungsanspruchs nach nationalem Recht führten. Das sei auch für die Rechtslage nach der hier zur Anwendung kommenden VO (EG) 883/2004 von Bedeutung (DRdA 2012, 521). Ein unzuständiger Mitgliedstaat könne somit nach Primärrecht den Anspruch nicht versagen, wenn nach nationalem Recht die Voraussetzungen erfüllt seien. Die nationale Zuständigkeit bestehe in Übereinstimmung mit Felten (aaO) im Ausmaß der Differenz zwischen der hier belgischen und einer (allenfalls) höheren österreichischen Pflegegeldleistung. Dies stehe nicht in Widerspruch zur Entscheidung 10 ObS 1/03z, wonach mangels tatsächlichen Bezugs einer liechtensteinischen Hilflosenunterstützung die Anrechnung (§ 7 BPGG) dieser möglichen Leistung nicht in Betracht komme, weil die hier zu beantwortende Frage der nationalen Zuständigkeit vorrangig zu beantworten sei.
Im Sinn der Judikatur des EuGH sei zu prüfen, 1. ob der Klägerin grundsätzlich Pflegegeld nach österreichischem Recht zustehe; 2. wenn ja, ob und in welcher Höhe der Klägerin nach belgischem Recht Pflegegeld zustehe und 3. die Differenz zwischen der belgischen und einer allenfalls höheren österreichischen Pflegeleistung, für die die österreichische Zuständigkeit gegeben wäre. Zu Punkt 1. führte das Berufungsgericht aus, dass der Pflegebedarf der Klägerin nach dem österreichischen BPGG ‑ den unbekämpften Feststellungen zufolge ‑ jedenfalls mehr als 120 und weniger als 160 Stunden betrage, was zur Gewährung eines Pflegegeldes in der Stufe 3 in der Höhe von 442,90 EUR monatlich führe. Es sei jedoch die nationale Zuständigkeit nur im Ausmaß einer allfälligen Differenz zwischen der belgischen und der allenfalls höheren österreichischen Pflegegeldleistung gegeben. In diesem Punkt sei die Rechtssache noch nicht spruchreif, weil Feststellungen zum Pflegebedarf der Klägerin nach belgischem Recht fehlten. Das Erstgericht werde daher im fortgesetzten Verfahren Feststellungen „zum Pflegebedarf der Klägerin nach belgischem Recht“ zu treffen und dem nach österreichischem Recht zustehenden Pflegegeld gegenüberzustellen haben. Da diese Rechtsansicht mit den Parteien nicht erörtert worden sei, erweise sich die Aufhebung des Urteils als unumgänglich.
Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage der Auslegung der Koordinierungsbestimmungen der VO (EG) 883/2004 nach der Entscheidung des EuGH vom 12. 6. 2012, C‑611/10, C‑612/10 [in den verbundenen Rs Hudzinski und Wawrzyniak] keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
Dagegen richtet sich der Rekurs der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Ersturteil wiederherzustellen.
Die Klägerin beantragt in der „Revisionsrekurs‑“ (= Rekurs‑)Beantwortung, der Oberste Gerichtshof möge den (richtig:) Rekurs „als nicht berechtigt zurückweisen“; in eventu die Entscheidung des Berufungsgerichts bestätigen, die Rechtssache selbst an das Erstgericht zurückverweisen oder die Vorabentscheidung des EuGH zur Frage der Anwendbarkeit der nationalen Bestimmungen im Rahmen der Art 21 und 29 der VO (EG) 883/2004 „abtreten“.
Der Rekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt, weil bereits eine abschließende Sachentscheidung möglich ist.
Die Rekurswerberin verweist vorweg auf ihrer Auffassung nach offene bzw bereits geklärte Rechtsfragen und beruft sich ‑ im Wesentlichen ‑ weiterhin darauf, dass Belgien als zuständiger Staat das Pflegegeld zu exportieren habe. Gemäß Art 13 Abs 1 VO (EWG) 1408/71 seien die von der Verordnung erfassten Personen dem Recht nur eines Staats unterworfen. Eine gleichlautende Bestimmung finde sich in Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 : Danach unterlägen (auch) Personen, für die diese Verordnung gelte, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Diese exklusive Wirkung der Kollisionsnormen des Europäischen Sozialrechts, die die frühere Rechtsprechung beherrscht habe, werde durch zwei Entscheidungen, nämlich durch die Rechtssache Bosman sowie die verbundenen Rechtssachen Hudzinsky und Wawrzyniak relativiert, welche die Prioritätsregeln des Koordinationsrechts ergänzten und präzisierten. Offen sei jedoch, ob die in diesen Urteilen „normierten Grundsätze“, wonach über die Leistungspflicht des zuständigen Staats hinaus eine solche auch den an sich unzuständigen Wohnsitzstaat treffe, generell und insbesondere auch auf den hier vorliegenden Rechtsfall zuträfen; hier komme ein diesbezügliches Finanzierungsargument, das in den Fällen Hudzinsky und Wawrzyniak als Anknüpfungspunkt zugrunde gelegt worden sei, nämlich ebensowenig zum Tragen, wie das im Fall Bosman ins Treffen geführte Argument der Arbeitnehmerfreizügigkeit von Personen, die grenzüberschreitend als Arbeitnehmer tätig seien.
Die Rekursgegnerin hält dem entgegen, dass nach Felten (ÖPZR 2011/16, 18) im Inland jedenfalls ein Anspruch auf die Differenzleistung bestehe, wenn der ausländische Pflegegeldanspruch geringer sei, als die nach inländischem Recht zu erbringende Leistung. Auch nach dieser Auffassung bestünde eine Leistungsverpflichtung des inländischen Trägers bis zu 100 %, wenn jene des ausländischen Trägers „gegen Null“ gehe. Die Klägerin habe in der ihr vom Erstgericht aufgetragenen Bekanntgabe vom 29. 11. 2013 bereits aufgezeigt, dass die zuständige Behörde in Belgien bisher nicht bescheidmäßig über den (ihr nach belgischem Recht zustehenden) Pflegegeldanspruch entschieden habe. Pflegegeld nach belgischem Recht werde auf Basis des Gesetzes vom 27. 2. 1987 über Beihilfen für Personen mit Behinderung gewährt (Art 1 bzw Art 6). Art 7 dieses Gesetzes sehe vor, dass eine solche Beihilfe (auch das Pflegegeld) nur dann zu gewähren sei, wenn der Betrag des Einkommens der Person mit der Behinderung und der Betrag des Einkommens jener Person, mit der sie einen Haushalt bilde, den Betrag der in Art 6 erwähnten Beihilfen nicht übersteige. Mangels einer Person, die mit der Klägerin einen gemeinsamen Haushalt bilde (weil ihr Ehemann, nach dem sie den Rentenanspruch aus Belgien beziehe, lange vorverstorben sei), kämen „einzig“ der aus Belgien bezogene Rentenanspruch und allenfalls (nach Meinung der belgischen Behörde noch anzurechnende) österreichische oder andere Beihilfen, die aber ohnehin nicht bezogen würden, als berücksichtigungswürdiges Einkommen in Frage. (Schon) Diese Bestimmung führe dazu, dass ‑ trotz der geringen Höhe der aus Belgien bezogenen Pension (ca 600 EUR) ‑ der belgische Pflegegeldanspruch entfiele, weil er wohl niedriger sei, als die Pensionszahlung. Zum selben Ergebnis käme man, sollte die belgische Behörde zu Recht einen in Österreich zu gewährenden Pflegegeldanspruch „hinzuzunehmen und einzurechnen“ sein (erst Recht bei Berücksichtigung der deutschen Rentenleistung wenngleich diese nicht erwähnt werde). Sollte es zu einem Erlöschen des grundsätzlich berechtigten Anspruchs auf belgische Pflegegeldleistung kommen, läge der im Inland zu gewährende „Differenzanspruch“ bei 100 %. Die Entscheidungen (Bosman bzw Hudzinsky/Wawrzyniak) beträfen zwar keine Leistungen aus der Krankenversicherung (wozu das Pflegegeld eindeutig gehöre), die Rechtslage sei jedoch jedenfalls vergleichbar. Ein an sich unzuständiger Mitgliedstaat könne einen Anspruch nach Primärrecht nicht versagen, wenn die Voraussetzungen nach nationalem Recht erfüllt seien. Letztlich sei die Frage zu klären, inwieweit die Bestimmungen der §§ 3 Abs 1 bzw 3a Abs 1 BPGG anzuwenden seien und inwieweit nationales Recht im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 dieser entgegenstehe, wobei darüber hinaus die Anwendbarkeit des Art 21 iVm Art 29 dieser VO zu prüfen sei. Es werde daher neuerlich angeregt, diese Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH gemäß Art 234 [AEUV] „abzutreten“.
Dazu wurde erwogen:
Rechtliche Beurteilung
1. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass die angesprochene VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über Soziale Sicherheit berücksichtigt und nur Koordinierungsregelungen vorsieht (Erwägungsgrund 4). Demnach bleiben die Mitgliedstaaten zuständig und frei in der Festlegung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialen Sicherheit (jüngst: 10 ObS 175/13b mit Hinweis auf Schuler in Fuchs, Europäisches Sozialrecht6 Art 5 VO 883/2004 Rz 1, 4 ff und 12).
1.2. Gemäß Art 2 Abs 1 der VO gilt diese für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Eine weitere wesentliche Anwendungs-voraussetzung für das EU‑Sozialrecht ist das Vorhandensein eines EU‑Bezugs. Dies bedeutet, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände sind in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen zu sehen (10 ObS 175/13b mit Hinweis auf Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht6 Art 2 VO 883/2004 Rz 15 mwN).
2. Nicht zu folgen ist jedoch der Beurteilung des Berufungsgerichts, im Sinn der Ausführungen von Felten (ÖZPR 2011/16) müsse ‑ unabhängig von der aus den einschlägigen Koordinierungsregeln der VO (EG) 883/2004 abzuleitenden Unzuständigkeit der beklagten Partei für die Pflegegeldgewährung an eine in Belgien krankenversicherte, in Österreich lebende Person ‑ immer (auch noch) geprüft werden, ob sie nach dem nationalen Recht des Wohnsitzstaats die Voraussetzungen für den Bezug von „Landespflegegeld im jeweiligen Bundesland“, in dem sie ihren Wohnsitz habe, erfülle.
2.1. Demgegenüber beruht das österreichische Pflegegeldsystem nämlich schon seit dem 1. 1. 2012 auf einer einheitlichen gesetzlichen Grundlage: Der Pflegegeldanspruch richtet sich nunmehr ausschließlich nach dem BPGG (vgl § 49 Abs 17 BPGG) und besteht seither auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG (Felten, Pflegegeld für Ausgleichszulagenbezieher aus anderen EU-Mitgliedstaaten?, ÖZPR 2014/25, 45 [46]) für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben (§ 3a Abs 1 BPGG; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld³ Rz 102 f). Die Klägerin hat als österreichische Staatsangehörige also ab 1. 8. 2012 (§ 9 Abs 1 BPGG) schon deshalb Anspruch auf Pflegegeld nach § 3a Abs 1 BPGG, weil sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und Pflegebedarf in anspruchsbegründender Höhe hat und sie auch keine der in § 3 Abs 1 Z 1‑10 BPGG angeführten Grundleistungen bezieht.
3. Dem steht nicht ‑ wie das Erstgericht unter Berufung auf Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld³ Rz 192 meint ‑ entgegen, dass die Klägerin nur belgische bzw deutsche Hinterbliebenenleistungen bezieht, und daher nach der VO (EG) 883/2004 für Geldleistungen bei Krankheit (Pflegebedürftigkeit) nicht Österreich sondern Belgien zuständig ist, wobei § 3 Abs 1 und § 3a Abs 1 BPGG im räumlichen Geltungsbereich der KoordinierungsVO nicht zur Anwendung kämen ( Greifeneder/Liebhart aaO Rz 158 [so auch Rz 192 aE]).
3.1. Greifeneder/Liebhart (aaO Rz 183 und 192) führen dazu aus, nach der KoordinierungsVO gelte der ‑ in Art 23 VO (EG) 883/2004 konkretisierte ‑ Grundsatz, dass nur die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anzuwenden seien; aufgrund dieses Grundsatzes der Einheitlichkeit des Systems der sozialen Sicherheit könne nur vom zuständigen Staat die Sach- und Geldleistung der Krankenversicherung bezogen werden, und der Anspruch auf Pflegegeld in Österreich sei ausgeschlossen, wenn Österreich nach der KoordinierungsVO nicht der für Leistungen der Krankenversicherung zuständige Staat sei; da es sich um eine Frage der Zuständigkeit des Leistungsträgers handle, könne auch nicht mit dem Gebot der Gleichbehandlung von EU (EWR)‑Bürgern mit den österreichischen Pflegegeldbeziehern argumentiert werden.
4. Insoweit trifft zwar zu, dass die Vorschriften über die Bestimmung des anwendbaren Rechts in der ‑ von der VO (EG) 883/2004 abgelösten ‑ VO (EWG) 1408/71 nach der Rechtsprechung des EuGH unter anderem bezwecken, dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, sodass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (EuGH C‑611/10 und C‑612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Rn 41 mwN).
4.1. Unter Berufung auf Vorjudikatur hat der EuGH im eben zitierten Urteil (Rn 45 ff) jedoch ausdrücklich ausgesprochen, dass die Koordinierungsbestimmungen für Familienleistungen dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, der nach diesen Vorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehren, allein nach seinem nationalem Recht einem Wanderarbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren. Demnach kann ein Mitgliedstaat einen Leistungsanspruch nicht deshalb verneinen, weil er nach Unionsrecht nicht zuständig ist, wenn der Anspruchswerber alle Anspruchsvoraussetzungen nach rein nationalem Recht erfüllt.
4.2. Auch wenn dieses Urteil Familienleistungen betrifft, sind die auf Vorjudikate gestützten Aussagen des EuGH angesichts ihrer allgemeinen Natur auch für die Kategorie „Leistung bei Krankheit“ anwendbar (vgl Felten, Pflegegeld für Ausgleichszulagenbezieher aus anderen EU‑Mitgliedstaaten?, ÖZPR 2014/25, 45 f). Da die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen nach § 3a Abs 1 BPGG erfüllt, steht ihrem Anspruch auf Pflegegeld somit nicht entgegen, dass nach Unionsrecht Belgien der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat ist.
5. § 7 BPGG normiert, dass Geldleistungen, die wegen Pflegebedürftigkeit nach anderen bundesgesetzlichen oder ausländischen Vorschriften gewährt werden, auf das Bundespflegegeld anzurechnen sind. Diese Antikumulierungsnorm erfasst aber nur tatsächlich bezogene Leistungen; ein erst zu realisierender Anspruch rechtfertigt daher noch keine Anrechnung (vgl 10 ObS 1/03z, SSV‑NF 17/44; Pfeil, BPGG 117; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld³ Rz 233). Die Antikumulierungsvorschrift des Art 34 VO (EG) 883/2004 ist in der vorliegenden Konstellation nicht anwendbar; betrifft sie doch das Zusammentreffen einer Geldleistung wegen Pflegebedürftigkeit und einer Sachleistung aus diesem Grund. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kommt dem Ausmaß einer allfälligen Differenz zwischen der österreichischen und der (der Klägerin bisher jedenfalls [noch] nicht gewährten) belgischen Pflegegeldleistung somit keine Bedeutung zu.
5.1. Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist. Im Rekursverfahren gegen solche Aufhebungsbeschlüsse gilt das Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot) nicht (10 Ob 49/12x; RIS‑Justiz RS0043850; RS0043853; E. Kodek in Rechberger 4, § 519 ZPO Rz 24 mwN). Daher ist dem Rekurs der beklagten Partei Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und in der Sache selbst mit Stattgebung des auf Gewährung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 8. 2012 gerichteten Begehrens zu erkennen.
5.2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
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