OGH 10ObS109/21h

OGH10ObS109/21h13.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Wildmoser/Koch & Partner Rechtsanwälte GmbH in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Waisenpension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 14. April 2021, GZ 12 Rs 25/21 i‑10, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Jänner 2021, GZ 10 Cgs 191/20s‑6, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00109.21H.0913.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Erstgerichts wird wiederhergestellt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 609,68 EUR (darin enthalten 101,62 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 335,64 EUR (darin enthalten 55,94 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die Kindeseigenschaft der Klägerin iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht.

[2] Die Klägerin ist am 9. 10. 1996 geboren. Sie betreibtein Masterstudium an einer österreichischen Fachhochschule. Für den Besuch von Lehrveranstaltungen wendet sie während des Semesters 22,5 Stunden pro Woche auf, dazu kommen Lern- und Vorbereitungszeiten von durchschnittlich zehn bis zwanzig Stunden wöchentlich. Seit 20. 7. 2020 ist sie zudem bei einer GmbH als Angestellte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 25 Stunden und einem monatlichen Bruttogehalt von 1.300 EUR beschäftigt.

[3] Mit Bescheid vom 28. 7. 2020 entzog die Beklagte die Waisenpension mit Ablauf des Monats Juli 2020, weil die Arbeitskraft der Klägerin wegen des bestehenden Beschäftigungsverhältnisses nicht überwiegend für die Schul- oder Berufsausbildung beansprucht werde.

[4] Die Klägerin begehrt in ihrer Klage die Weitergewährung der Waisenpension.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Arbeitskraft der Klägerin werde überwiegend durch ihr Studium beansprucht. Es komme allein auf die überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft, nicht auf die Selbsterhaltungsfähigkeit an.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es ließ die Revision zu, weil es einer klärenden Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs zur Relevanz von neben der Ausbildung bezogenem Einkommen bedürfe. Rechtlich kam es – nach ausführlicher Darstellung der Rechtsprechung und der dazu vertretenen Lehrmeinungen – zum Ergebnis, dass neben der Ausbildung bezogene Entgelte zum Wegfall der Waisenpension führten, wenn sie die Selbsterhaltungsfähigkeit der Waise sicherten.

[7] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klagestattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig, weil die Beurteilung des Berufungsgerichts korrekturbedürftig ist. Sie ist auch berechtigt.

[10] Der Oberste Gerichtshof hat am 19. 5. 2021– nach Fassung der hier angefochtenen Berufungsentscheidung – in einem ähnlich gelagerten Fall ausführlich zur Frage der Auswirkungen von Entgelt, das neben einer die Arbeitskraft der Waise überwiegend beanspruchenden Berufsausbildung bezogen wird, Stellung genommen (10 ObS 34/21d). Die in dieser Entscheidung dargestellten Erwägungen sind auch hier maßgeblich.

[11] Demnach wurde mit der Neufassung des § 252 ASVG durch die 29. Novelle zum ASVG (BGBl I 1973/31) das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit aufgegeben. Wenn die Waise neben ihrer Schul- oder Berufsausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ist daher nach der gesetzlichen Vorgabe das Verhältnis zwischen der Beanspruchung ihrer Arbeitskraft durch die Ausbildung und der Beanspruchung durch die Erwerbstätigkeit maßgebend (vgl RS0089658). Ob die Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, ist durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der von der geltenden Arbeitsordnung oder Sozialordnung, etwa im Arbeitszeitgesetz oder den Kollektivverträgen, für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln (RS0085184). Richtschnur ist dabei ein durchschnittliches wöchentliches Ausmaß von 20 Stunden. Liegt der zeitliche Aufwand für die Ausbildung darunter, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor (RS0085184 [T5]; 10 ObS 34/21d).

[12] Im vorliegenden Fall übersteigt der Zeitaufwand, der aus dem Studium der Klägerin resultiert, und der auch ihre Lern- und Vorbereitungszeiten umfasst, jenes ihrer Teilzeitbeschäftigung deutlich.

[13] Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen nach der Rechtsprechung – von der abzugehen der Senat keinen Anlass sah (10 ObS 34/21d) – die Kindeseigenschaft nur dann weiterbestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RS0085125, vgl RS0085149).

[14] Hingegen muss eine Waise neben einem Studium, das die Arbeitskraft wie im vorliegenden Fall überwiegend beansprucht, nicht zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen. Kann sie aber neben einer zeitintensiven Ausbildung – wie im vorliegenden Fall nach den Feststellungen anzunehmen ist – nur aufgrund besonderer Anstrengung und/oder besonderer Fähigkeiten aus einer Teilzeitbeschäftigung Einkünfte in oder über der Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes erzielen, ist es nicht sachgerecht, diesen besonderen Einsatz mit dem Verlust der Waisenpension zu sanktionieren (10 ObS 34/21d; vgl RS0085139).

[15] Die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht daher auch dann fort, wenn die Waise aus einer Erwerbstätigkeit, die sie neben einer ihre Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmenden Ausbildung ausübt, ein zur Selbsterhaltungsfähigkeit führendes Einkommen erzielt (10 ObS 34/21d).

[16] Der Revision ist daher Folge zu geben; das Klagebegehren ist berechtigt.

[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Im Revisionsverfahren gebührt mangels einer dem Berufungsverfahren entsprechenden Rechtsgrundlage (§ 23 RATG) nicht der dreifache, sondern nur der einfache Einheitssatz für Nebenleistungen (RS0115069). Im Übrigen kann über den von der Klägerin gewählten niedrigen Ansatz (TP 3A statt TP 3C) nicht hinausgegangen werden (§ 405 ZPO; 10 ObS 87/11h).

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