European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E116587
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Der Antragsteller hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Begründung:
Der Antragsteller ist der Vater des 1994 geborenen Antragsgegners. Der Vater war aufgrund eines Beschlusses des Bezirksgerichts Döbling vom 4. 10. 2011 verpflichtet, dem Sohn einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 370 EUR zu leisten. Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens über den Unterhaltsherab-setzungsantrag des Vaters ist nur mehr, ob die (teilweise) Selbsterhaltungsfähigkeit des Sohnes tatsächlich oder zumindest im Rahmen der Anspannung fiktiv eingetreten ist (Standpunkt des Vaters) oder nicht (Standpunkt des Sohnes).
Der Vater beantragte zunächst, die Unterhaltsverpflichtung ab 1. 4. 2014 entsprechend seiner Leistungsfähigkeit herabzusetzen, weil er ab diesem Zeitpunkt eine Pension wegen Dienstunfähigkeit beziehe. Am 2. 6. 2014 beantragte der Vater die (weitere) Herabsetzung der Unterhaltsverpflichtung auf Null. Der damals 20‑jährige Sohn sei ungeachtet einer bei ihm bestehenden geringfügigen psychischen Beeinträchtigung fähig, sich selbst zu erhalten. Dem Sohn sei zumindest eine Tätigkeit auf dem geschützten Arbeitsmarkt möglich und zumutbar. Auf eine solche Tätigkeit könne der Sohn auch angespannt werden, denn es mangle ihm lediglich am Arbeitswillen. Auch im geschützten Bereich könne Entgelt erwirtschaftet werden.
Der Sohn wendet sich gegen den (weiteren) Herabsetzungsantrag im Wesentlichen mit dem Argument, dass er dauerhaft nicht selbsterhaltungsfähig sei und kein Einkommen beziehe. Er leide unter einer geistigen Störung mit einem dadurch gegebenen erheblichen Selbstfürsorgedefizit. Er benötige zur Bewältigung des Alltags ständiger Betreuung und Hilfe, weshalb für ihn auch ein Sachwalter bestellt worden sei. Er sei nur in der Lage, Arbeiten im geschützten Bereich auszuüben. Diese Tätigkeiten seien keine Erwerbstätigkeiten und hätten nur therapeutische Funktion. Da dem Sohn die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit nicht vorgeworfen werden könne, komme der Anspannungsgrundsatz nicht zum Tragen.
Das Erstgericht setzte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters ab 1. 4. 2014 auf monatlich 335 EUR und ab 1. 1. 2015 auf monatlich 315 EUR entsprechend der durch die Pensionierung bewirkten Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Vaters herab. Im Umfang dieser Herabsetzung ist seine Entscheidung unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Der Abweisung des darüber hinausgehenden Herabsetzungsantrags legte das Erstgericht folgende unangefochtene Feststellungen zugrunde:
Beim Sohn besteht eine psychiatrische Symptomatik im Sinn einer Intelligenzminderung leichter Ausprägung und einer unreifen Persönlichkeitsstruktur sowie anamnestisch eine Zwangsstörung. Für den Sohn ist seit 2013 ein Sachwalter mit den Wirkungskreisen finanzielle Angelegenheiten sowie Vertretung vor Ämtern und Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern und privaten Vertragspartnern bestellt.
Der Sohn geht keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nach, er ist einkommens‑ und vermögenslos, er befindet sich in Eigenpflege. Der Sohn kann aufgrund der bei ihm bestehenden Einschränkungen am allgemeinen Arbeitsmarkt weder einer Voll‑, noch einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Möglich ist ihm eine Vollzeitbeschäftigung im „geschützten Rahmen“; Bewerbungen im geschützten Arbeitsbereich sind aktenkundig. Die Ursache der aktuellen „Arbeitsverweigerung“ liegt in der psychiatrischen Störung des Sohnes, Krankheits‑ und Behandlungseinsicht fehlt. Es steht nicht fest, dass der Sohn seine noch nicht eingetretene Selbsterhaltungsfähigkeit verschuldete.
Rechtlich führte das Erstgericht, soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung, aus, dass die Erwerbsunfähigkeit des Sohnes krankheitsbedingt sei. Ihm sei nicht vorwerfbar, dass er nicht selbsterhaltungsfähig sei, sodass auch keine fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit im Rahmen der Anspannung anzunehmen sei.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters, mit dem dieser die gänzliche Enthebung von seiner Unterhaltsverpflichtung anstrebte, nicht Folge. Es führte aus, dass Kinder, die dem Pflichtschulalter entwachsen, aber dennoch objektiv nicht selbsterhaltungsfähig seien, den Unterhaltsanspruch (nur) dann wegen fiktiver Selbsterhaltungsfähigkeit verlieren, wenn sie arbeits‑ bzw ausbildungsunwillig sind. Dem Sohn sei aber nur eine Tätigkeit im geschützten Bereich möglich, die aktuelle Arbeitsverweigerung habe ihre Ursache in der psychiatrischen Störung des Sohnes. Eine Anspannung setze nur ein, wenn schuldhaft (pflichtwidrig) zumutbare Bemühungen, ein Einkommen zu erwirtschaften, unterlassen werden. Den Sohn treffe aber kein Verschulden an der bislang noch nicht eingetretenen Selbsterhaltungsfähigkeit. Der Sohn sei nicht in der Lage, am allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Im geschützten Bereich könne er, was gerichtsbekannt sei, nur ein Taschengeld verdienen. Dieses sei ihm, wie ein Vergleich mit einer intakten Familie ergebe, zu belassen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil zur Frage der Anspannung einer besachwalterten Person auf ein (Vollzeit‑)Einkommen im geschützten Bereich (geschützten Arbeitsmarkt) höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der vom Sohn nicht beantwortete Revisionsrekurs des Vaters, mit dem dieser die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Außerstreitsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Begründung des Rekursgerichts korrekturbedürftig ist. Der Revisionsrekurs ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt.
1. Der Revisionsrekurswerber rügt zusammengefasst, dass es entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichts keineswegs notorisch sei, dass durch eine Tätigkeit im geschützten Bereich lediglich ein Einkommen in Höhe eines Betrags erzielt werden könne, der in einer intakten Familie als Taschengeld anzusehen wäre. Ausgehend davon fehle es an Feststellungen, um den Unterhaltsherabsetzungsantrag des Vaters abschließend beurteilen zu können. Denn es sei dem Sohn möglich und zumutbar, am geschützten Arbeitsmarkt vollzeitig tätig zu sein. Er könne demnach in einem solchen, (kollektivvertraglich entlohnten und sozialversicherungspflichtigen) Arbeitsverhältnis ein entsprechendes Einkommen erzielen. Die Feststellung, dass dem Sohn unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsstruktur kein Verschulden an der mangelnden Erzielung von Einkommen vorgeworfen werden könne, sei aktenwidrig. Feststellungen, ob der Sohn sich in ausreichendem Maß um eine derartige Beschäftigung im „geschützten Bereich“ bemüht habe und welches Entgelt er dadurch erzielen könne, fehlten jedoch. Dazu wäre auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Bereich der Berufskunde erforderlich gewesen.
2.1 Richtig ist, dass entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichts nicht davon ausgegangen werden kann, dass das aus einer Tätigkeit im „geschützten Bereich“ erzielbare Einkommen notorisch (§ 269 ZPO) immer derart gering sei, dass es in einer intakten Familie als Taschengeld belassen wird. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der vom Rekursgericht zitierten Entscheidung 1 Ob 88/08k, weil dort festgestellt war, dass die Antragstellerin für ihre Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte ein Taschengeld von 50 EUR monatlich erhielt (ähnlich 9 Ob 31/14w).
2.2 Nach der Rechtsprechung erfolgt die Arbeit in einer sogenannten geschützten Werkstätte primär im Eigeninteresse der tätigen Person, weshalb kein Arbeitsvertrag vorliegt, auf den kollektivvertragliche Entgeltbestimmungen anzuwenden wären (vgl dazu 9 ObA 105/09w; 8 ObA 48/09f, RIS‑Justiz RS0125599; zur teilweise kritischen Lehre vgl die Zusammenstellung bei Kreiter, Beschäftigungsverhältnisse mit besonderer Zweckbestimmung [2014] 6 ff). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Höhe eines Entgelts (etwa im Sinn eines Taschengeldes) für solche Tätigkeiten in jedem einzelnen Fall je nach den bestehenden Regelungen in unterschiedlicher Höhe gebühren oder allenfalls auch vereinbart werden kann. Darüber hinaus ergibt sich aus mehreren Normen der Rechtsordnung, dass es auch auf dem „geschützten Arbeitsmarkt“ – insbesondere im Zusammenhang mit Förderungen – Tätigkeiten mit einer höheren Entlohnung gibt (§ 9 Abs 2 und 7 AlVG, „angemessene Entlohnung“; § 11 Abs 4 lit a BEinstG, Integrative Betriebe, kollektivvertragliche Entlohnung; § 34 Abs 2 Z 3, § 34a AMSG, Kombilohn für Personen mit verminderten Eingliederungschancen). Von einer Notorietät der Höhe der Entlohnung einer Tätigkeit im geschützten Arbeitsbereich kann vor diesem Hintergrund nicht ausgegangen werden.
3.1 Dies führt jedoch entgegen der Rechtsansicht des Revisionsrekurswerbers im konkreten Fall nicht dazu, dass das Verfahren ergänzungsbedürftig wäre.
3.2 Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (RIS‑Justiz RS0047567 [T4]). Bezieht ein Kind eigene Einkünfte, die zur Befriedigung seiner konkreten Lebensbedürfnisse hinreichen, fehlt es – unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen – an einem durch Unterhaltsleistungen sicherzustellenden Bedarf. Gleiches gilt auch dann, wenn das Kind zwar tatsächlich keine eigenen Einkünfte bezieht, dazu aber unter Einsatz seiner Fähigkeiten und Kräfte in der Lage wäre und daher als selbsterhaltungsfähig anzusehen ist (§ 231 Abs 3 ABGB; 6 Ob 515/92).
3.3 Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung noch eine mögliche Erwerbstätigkeit betreibt, also arbeits‑ und ausbildungsunwillig ist, ohne dass krankheits‑ oder entwicklungsbedingt die Fähigkeiten fehlen, für sich selbst aufzukommen (RIS‑Justiz RS0114658; Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht8 [2016],170). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (10 Ob 10/15s; RIS‑Justiz RS0047605).
4.1 Zutreffend haben die Vorinstanzen ein solches Verschulden des Sohnes auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen verneint.
4.2 Der Revisionsrekurswerber stellt nicht in Frage, dass der Sohn krankheitsbedingt – und daher nicht vorwerfbar – nicht in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen.
4.3 Ob der Sohn, der beruflich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr integrierbar ist, überhaupt noch – wie vom Vater behauptet – auf dem sogenannten „Zweiten Arbeitsmarkt“, auf dem Beschäftigungsverhältnisse mit beruflich schwer integrierbaren Personen gefördert werden (positive Wiedereingliederungsprognose), eine Tätigkeit aufnehmen könnte, oder ihm dies nur mehr auf dem sogenannten „Dritten Arbeitsmarkt“, auf dem das Gleiche mit beruflich nicht integrierbaren Personen geschieht (negative Wiedereingliederungsprognose), möglich wäre (zur Unterscheidung vgl Kreiter, Beschäftigungsverhälltnisse 1; Kietaibl/Reiner, Kein Arbeitsrecht am zweiten und dritten Arbeitsmarkt? Zur Bedeutung von Nutzenverteilung und Interessenlage für den Arbeitnehmerbegriff, DRdA 2011, 526), kann dahingestellt bleiben. Denn eine Anspannung im dargestellten Sinn setzt voraus, dass dem Sohn das vom Vater behauptete Unterlassen von Anstrengungen, auf dem geschützten Arbeitsmarkt einer Tätigkeit nachzugehen, vorwerfbar wäre.
4.4 Zur Frage des Vorliegens der (fiktiven) Selbsterhaltungsfähigkeit ist das Erstgericht – wie auch das Rekursgericht – von den oben wiedergegebenen Feststellungen ausgegangen, die auf dem Gutachten des vom Gericht beigezogenen Sachverständigen für Psychiatrie und Neurologie beruhen. Dies ergibt sich aus der gesamten Begründung des Beschlusses des Erstgerichts, das auch den Inhalt eines vom Vater im Verfahren vorgelegten ärztlichen Gutachtens im Rahmen der Feststellungen wiedergegeben hat. Danach ist dem Sohn zwar noch eine Tätigkeit im geschützten Arbeitsmarkt möglich. Seine Weigerung, in diesem Rahmen eine Tätigkeit aufzunehmen („Die aktuelle Arbeitsverweigerung“) ist ihm jedoch nach den Feststellungen nicht vorwerfbar, weil sie ihre Ursache in der psychiatrischen Erkrankung („Störung“) des Sohnes hat. Die vom Revisionsrekurswerber behauptete Aktenwidrigkeit dieser Feststellung liegt nicht vor, weil diese Feststellung, wie sich auch aus der Beweiswürdigung des Erstgerichts ergibt, auf dem Gutachten des gerichtlich beigezogenen Sachverständigen beruht (RIS‑Justiz RS0043298 [T3]). Auch die vom Revisionsrekurswerber behauptete sekundäre Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegt – wovon bereits das Rekursgericht zutreffend ausgegangen ist – vor dem Hintergrund dieser Feststellung nicht vor.
Da der Sohn objektiv nicht selbsterhaltungsfähig ist und ihm Arbeitsunwilligkeit nicht vorgeworfen werden kann, kommt dem weiteren Unterhaltsherabsetzungsbegehren des Vaters keine Berechtigung zu.
Dem Rekurs war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den mangelnden Erfolg des Revisionsrekurswerbers (§ 78 Abs 2 Satz 1 AußStrG e contrario).
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