AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W242.2203881.1.01
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Heumayr über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Maga Hela AYNI-RAHMANZAI, RA in Wien 05., Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX , eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2016 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Erstbefragung des Beschwerdeführers erfolgte noch am selben Tag.
Der Beschwerdeführer wurde am 30.06.2016 einem Verfahren zur Altersfeststellung unterzogen.
Das Asylverfahren wurde am 18.07.2016 zugelassen.
Am 04.07.2018 wurde er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.
Mit Bescheid XXXX 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihm auch keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Seine Entscheidung begründete die Behörde im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer keine gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgung glaubhaft gemacht habe.
Gegen diesen Bescheid vom XXXX 2018 erhob der Beschwerdeführer am 17.08.2018 fristgerecht Beschwerde und begründete diese im Wesentlichen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit des Bescheides und der Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Der Beschwerdeführer wurde durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX am XXXX 2019, GZ. XXXX , gemäß §§ 27 Abs. 2a 2. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall und 27 Abs. 2 SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Probezeit wurde mit drei Jahren bestimmt. Das Urteil ist am XXXX 2019 in Rechtskraft erwachsen.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte mit Beschluss vom 05.03.2020 das Beschwerdeverfahren gemäß § 24 AsylG 2005 ein. Am 02.11.2020 wurde durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Diesem Antrag wurde durch Verfahrensanordnung vom 04.11.2020 gefolgt.
Mit Schreiben vom 12.10.2021 teilte der Beschwerdeführer mit, dass er an psychischen Problemen leiden würde, die einer Rückführung nach Afghanistan entgegenstehen würden, betonte jedoch seine Einvernahmefähigkeit.
Am 15.10.2021 wurde der Beschwerdeführer im Rahmen einer öffentlichen und mündlichen Beschwerdeverhandlung einvernommen. Die Verhandlung musste aufgrund von Hinweisen auf psychische Probleme, die Zweifel an seiner Einvernahmefähigkeit zu Tage förderten, vertagt werden.
Mit Beschluss vom 08.11.2021 wurde eine psychiatrische Begutachtung angeordnet und am 01.12.2021 ein entsprechendes psychiatrisches Gutachten erstellt.
Mit schriftlichem Anbringen vom 01.02.2022 zog der Beschwerdeführer seine Beschwerde gegen den Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 16.07.2018 zurück und brachte vor, dass er Analphabet sei und in seiner Heimat über keine familiären Anbindungen mehr verfügen würde. In Afghanistan würde eine extrem schlechte Sicherheits- und Versorgungslage herrschen, sodass er nicht einmal in den Großstädten Fuß fassen könnte.
Mit Beschluss vom XXXX 2022, GZ. XXXX , wurde das Beschwerdeverfahren gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides eingestellt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX , wobei seine Identität nicht feststeht. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum sunnitischen Islam, ist ledig und hat keine Kinder. Seine Muttersprache ist Dari. Er wurde in Afghanistan geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger und wohnte in der Provinz Baglan in XXXX .
Der Beschwerdeführer leidet an einer depressiven Episode mit psychotischen Zeichen im Sinne einer akustischen Halluziose.
Zum (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen spätestens am XXXX 2016 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
In Österreich verfügt der Beschwerdeführer über keine Familienangehörige.
Der Beschwerdeführer wurde durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX , rechtskräftig seit dem XXXX 2019, wegen Vergehen gemäß §§ 27 Abs. 2a 2 F, 27 Abs. 1 Z1 2. Fall und 27 Abs. 2 SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass er mit einem Komplizen am XXXX 2029 im XXXX Stadtpark Cannabiskraut verkauft hat. Hinzu kam, dass er auch Cannabiskraut zum weitern Verkauf bereitgehalten und solches auch zum Eigengebrauch innegehabt hat. Mildernd wurde durch das Gericht das Geständnis des Beschwerdeführers und sein jugendliches Alter gewertet. Erschwerend erachtete das Gericht das Zusammentreffen von drei Vergehen.
Im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich hat der Beschwerdeführer an einem Bildungskurs teilgenommen.
Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit aus Afghanistan und der dort derzeit herrschenden Sicherheits- und Versorgungslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Er kann insbesondere nicht in zumutbarer Weise auf die Städte Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat als eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem daher ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation auszugsweise wiedergegeben:
„1. COVID-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
2. Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
2.1. Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
3. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Opiumproduktion und die Sicherheitslage
Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).
3.1. Erreichbarkeit
Letzte Änderung: 16.09.2021
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen (TD 5.12.2017). Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet (TD 26.1.2018). Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.) (STDOK 4.2018; vgl. TD 5.12.2017), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (STDOK 4.2018; vgl. USAID o.D.a, WB 17.1.2020, ESRI 13.4.2020, ArN 11.11.2020, TD 8.1.2019, TN 25.5.2019, CWO 26.8.2019).
Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (GIZ 7.2019; vgl. AT 23.11.2019, PAJ 12.12.2019, ABC News 1.10.2020). Die Präsenz von Aufständischen, Zusammenstöße zwischen diesen und den afghanischen Sicherheitskräften sowie die Gefahr von Straßenraub und Entführungen entlang einiger Straßenabschnitte beeinflussen die Sicherheit auf den afghanischen Straßen, unter anderem auch auf den Highway 1 (Ring Road) (USDOS 24.6.2020; vgl. EASO 9.2020). Einige Beispiele dafür sind die Straßenabschnitte Kabul-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. ST 24.4.2019), Herat-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. PAJ 5.1.2019), Kunduz-Takhhar (KP 20.8.2018; vgl. CBS News 20.8.2018) und Ghazni-Paktika (AAN 30.12.2019).
Ring Road
Die Ring Road, auch bekannt als Highway One, ist eine Straße, die das Landesinnere ringförmig umgibt (HP 9.10.2015; vgl. FES 2015) und Teil des 3.360 Kilometer langen Hauptverkehrsstraßenprojekts ist, das 16 Provinzen und Großstädte wie Kabul, Mazar, Herat, Ghazni und Jalalabad miteinander verbindet (STDOK 4.201; vgl. TN 9.12.2017, USAID o.D.a).
Trotz der Ankündigung des damaligen Präsident Ghani aus dem Jahr 2015, die Ring Road in neun Monaten fertigzustellen, ist ein ein ca. 150 km langes Teilstück zwischen Badghis und Faryab weiterhin unvollständig (SIGAR 15.7.2018). Die fehlenden 150 Kilometer sollen künftig den Distrikt Qaisar [Anm.: Provinz Faryab] mit Dar-e Bum [Anm.: Provinz Badghis] verbinden; dieses Straßenstück ist der letzte unbefestigte Teil der 2.200 km langen Straße. Im November 2020 sind die Arbeiten an diesem Teil der Ring Road noch im Gange, wenn auch nur zögerlich, weil Hindernisse wie Unsicherheit, mangelnde Kooperation der lokalen Bevölkerung, mangelnde Leistung der zuständigen Behörden und Unterauftragnehmer es schwierig machen, den Zeitpunkt der Fertigstellung des Projekts abzuschätzen (RA KBL 20.11.2020).
Abschnitt Kandahar - Kabul - Herat
Die Ring Road verbindet wichtige afghanische Städte wie Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif (TD 12.4.2018). Sie erstreckt sich südlich von Kabul und ist die Hauptverbindung zwischen der Hauptstadt und der großen südlichen Stadt Kandahar (REU 13.10.2015). Der Kandahar-Kabul-Teil der Ring Road erstreckt sich vom östlichen und südöstlichen Teil Kandahars über die Provinz Zabul nach Ghazni in Richtung Kabul, während die Ring Road westlich von Kandahar durch Gereshk in Helmand und Delaram in Nimroz verläuft (ISW o.D.).
Der Abschnitt zwischen Kabul und Herat umfasst 1.400 km (IWPR 26.3.2018). Die an die Ring-Road anknüpfende 218 km lange Zaranj-Dilram-Autobahn (Provinz Nimroz, Anm.), auch „Route 606“ genannt, soll zukünftig Afghanistan mit Chabahar im Iran verbinden (AD 15.8.2017; vgl. TET 9.8.2017, TD 24.5.2017).
Anrainer beschweren sich über den schlechten Zustand des Abschnitts Kandahar-Kabul-Herat (TN 14.3.2018). Ursachen dafür sind die mangelnde Instandhaltung und ständige Angriffe durch Aufständische (IWPR 26.3.2018). Die meisten Teile der Autobahn Kabul-Kandahar sind durch Angriffe und Gewalt beschädigt (TN 28.9.2020; vgl. HOA 7.9.2020).
Abschnitt Baghlan-Balkh
Die Baghlan-Balkh-Autobahn ist Teil der Ring Road und verbindet den Norden mit dem Westen des Landes. Sie gilt als eine unabdingbare Transitroute zwischen der Hauptstadt der Provinz Baghlan, Pul-e Khumri, und den nordwestlichen Provinzen Samangan, Balkh, Jawjzan, Sar-e Pul und Faryab (AAN 15.8.2016).
Salang Tunnel/Salang Korridor
Der Salang-Korridor gilt als Vorzeigeobjekt des Kalten Krieges und wurde im Jahr 1964 zum ersten Mal eröffnet (TD 21.10.2015). Er ist die einzige direkte Verbindung zwischen der Hauptstadt Kabul und dem Norden des Landes (WP 22.1.2018; TD 21.10.2015). Der Salang-Tunnel, durch den über 80 % des Nord-Süd-Handels Afghanistans verläuft (USAID o.D.b.), ist 2,7 km (1,7 Meilen) lang. Er wurde ursprünglich für eine Tagesnutzung von 1.000 - 2.000 Fahrzeuge gebaut. Heute befahren ihn jedoch täglich über 10.000 Transportmittel, was den Bedarf an Instandhaltungsarbeiten erhöht (WP 22.1.2018). Der Bau der Umspannstation des Salang-Tunnels wurde am 15.10.2019 abgeschlossen und kompensiert den Verbrauch von einer Million Liter Dieselkraftstoff pro Jahr, die bis dahin für den Betrieb der Generatoren des Tunnels erforderlich waren (USAID o.D.b; vgl. PAJ 19.12.2019).
Durch das von der Weltbank finanzierte Trans-Hindukush Road Connectivity Project soll bis 2022 u.a. der Salang-Korridor dank einer Förderung von 55 Millionen USD renoviert werden (WB o.D.; vgl. TN 15.9.2020, TN 1.9.2018, RW 6.7.2017). In Juni 2018 kündigte das Ministerium für öffentliche Arbeiten (Ministry of Public Works - MoPW) an, dass die technischen und geologischen Untersuchungen sowie der Entwurf des neuen Salang-Tunnels gegen Ende 2019 abgeschlossen sein werden (TN 18.6.2018). Im September 2018 kündigte das Ministerium für öffentliche Arbeit an, dass die Arbeiten an den ersten 10 km des Salang-Passes begonnen hätten (TN 1.9.2018).
Gardez-Khost-Highway (NH08)
Der Gardez-Khost-Highway, auch „G-K-Highway“ genannt, ist 101,2 km lang (USAID 7.11.2016; vgl. PAJ 15.12.2015) und verbindet die Provinzhauptstadt der Provinz Paktia, Gardez, mit Khost City, der Provinzhauptstadt von Khost (PAJ 15.12.2015). Sie verbindet aber auch Ostafghanistan mit dem Ghulam-Khan-Highway in Pakistan. Mitte Dezember 2015 wurde der sanierte Gardez-Khost Highway eröffnet. Ebenso wurden 410 kleine Brücken und 25 km Schutzwände auf dieser Autobahn errichtet (PAJ 15.12.2015; vgl. USAID 7.11.2016).
Grand Trunk Road - Highway Jalalabad-Peshawar / Pak-Afghan-Highway
Die Grand Trunk Road, auch bekannt als „G.T. Road“, ist die älteste, längste und bekannteste Straße des indischen Subkontinentes (GS o.D.; vgl. Doaks o.D., Dawn 30.12.2018, EIPB 2006). Die über 2.500 km lange Route beginnt in der bangladeschischen Stadt Chittagong, verläuft über Delhi in Indien, Lahore und Peshawar in Pakistan, den Khyber Pass an der afghanisch-pakistanischen Grenze und endet in Kabul (Samaa 9.8.2017; vgl. Scroll 4.5.2018, EIPB 2006). Der Khyber-Pass erstreckt sich über 53 km durch das Safed-Koh-Gebirge und ist eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Afghanistan und Pakistan; er verbindet Kabul mit Peshawar (EB 30.3.2017; vgl. BL o.D., NG o.D.).
Der Torkham-Peshawar Highway verbindet Jalalabad mit Peshawar in Pakistan über die afghanische Grenzstadt Torkham in der Provinz Nangarhar. Sie ist eine der am stärksten befahrenen Straßen Afghanistans. Der afghanische Teil der Straße besteht aus zwei Abschnitten: der 76 km langen Torkham-Jalalabad-Straße und die Jalalabad-Kabul-Verbindung, die sich über 155 km erstreckt (ET 27.10.2016). Die Straße, die auch als „Pak-Afghan Highway“ bekannt ist, wird als Wirtschaftsroute zwischen Pakistan, Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan und den südasiatischen Ländern genutzt (ET 7.3.2016; vgl. PCQ o.D.).
Baghlan-Bamyan-Highway
Das Baghlan-Bamyan-Straßenbauprojekt ist Teil des von der Weltbank finanzierten Trans-Hindukusch-Straßenverbindungsprojekts. Die Doshi-Bamyan-Straße verbindet die Provinz Bamyan in Zentralafghanistan mit der Provinz Baghlan in Nordafghanistan als Alternative zum Salang-Pass, der einzigen Route, die Kabul mit dem Norden des Landes verbindet. Nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Arbeiten wurde ein chinesisches Unternehmen mit den Arbeiten an dem Projekt beauftragt (TN 15.9.2020; vgl. WB 3.11.2020). Im Juni 2020 hat die Bank über 100 Millionen Dollar des 170-Millionen-Dollar-Projekts annulliert, um den Hilfsfonds COVID-19 der afghanischen Regierung zu unterstützen, sagte jedoch, die Annullierung sei vorübergehend und werde die laufenden Bauaufträge nicht beeinträchtigen (TN 15.9.2020; vgl. WB 3.11.2020). Die Bauarbeiten sind erst zu 20 % abgeschlossen und wurden im Juni 2020 wegen der COVID-19-Pandemie und ihrer Auswirkungen gestoppt (USDOS 24.6.2020; vgl. AT 24.6.2020). Im September 2020 wurde die Regierung wegen einer Verzögerung der Bauarbeiten für das Projekt kritisiert. Nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Arbeiten verzögerte sich die Umsetzung des Projekts aufgrund fehlender Mittel (TN 15.9.2020).
Abschnitte Kabul-Bamyan und Bamyan-Mazar-e Sharif
Am 29.8.2016 wurde die Straße Kabul-Bamyan eingeweiht. Das von der italienischen Agentur für Entwicklung finanzierte Straßenprojekt sollte die Fahrt zwischen Kabul und Bamyan erleichtern und den wirtschaftlichen Aufschwung in der Region fördern. Durch die neu errichtete Straße beträgt die Reisezeit von Kabul nach Bamyan zweieinhalb Stunden (Farnesina 29.8.2016).
Ausgeführt durch ein chinesisches Unternehmen, wurde der Startschuss zur Weiterführung des Projektes „Dare-e-Sof and Yakawlang Road“ gegeben. In der ersten, bereits beendeten Phase, wurde Mazar-e Sharif mit dem Distrikt Yakawlang in der Provinz Bamyan durch eine Straße verbunden.
Transportwesen
Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gab [vor der Machtübernahme der Taliban] einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Die Kernfrage bleibt nach wie vor die Sicherheit (IWPR 26.3.2018). Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali (vertrauliche Quelle 14.5.2018; vgl. IWPR 26.3.2018).
Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan (vertrauliche Quelle 14.5.2018).
Der Mangel an Bussen insbesondere während der Stoßzeit in Kabul-Stadt ist eine Herausforderung für die afghanische Regierung. Im Laufe der Jahre wurde versucht, dieses Problem zu lösen, indem Indien dem Transportsystem in Kabul hunderte Busse zur Verfügung stellte (TD 8.1.2019). Es gab [vor der Machtübernahme der Taliban] einige Busverbindungen zwischen Mazar-e Sharif und Kabul. Bis zu 50 unterschiedliche Unternehmen boten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Fahrten von und nach Kabul an (STDOK 4.2018).
Flugverbindungen
Der folgenden Karte können Informationen über Militär-, Regional- und internationale Flughäfen in den verschiedenen Städten Afghanistans entnommen werden, die mit Stand 1.6.2021 - also vor der Machtübernahme der Taliban - aktiv waren (F 24 o.D.). Zu beachten ist allerdings, dass der Flughafen in Bamyan - in Abweichung zur dargestellten Karte - mit Stand Mai 2021 nicht von kommerziellen Anbietern angeflogen wurde (RA KBL 31.5.2021; vgl. F 24 o.D.). Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 wurden internationale Flüge eingestellt. Gemäß Ankündigung vom 11.9.2021 plant eine pakistanische Fluggesellschaft, wieder Linienflüge nach Kabul aufzunehmen (GN 11.9.2021).
[Anmerkung der Staatendokumentation: Zu beachten ist, dass es innerhalb von kurzer Zeit zu Änderungen der Flugverbindungen kommen kann und in der Karte ausschließlich jene Flughäfen eingetragen sind, die laut Quellen am 1.6.2021 Linienverbindungen für Passagiere oder eine geplante Flugbewegung im Zeitraum bis sieben Tage nach der Abfrage aufwiesen.]
Internationale Flughäfen in Afghanistan
In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt (LIFOS 23.1.2018). Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (AG 3.11.2017).
Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]
Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (HKA o.D.). Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (GN 11.9.2021; vgl. AJ 9.9.2021).
Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai...) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (F 24 o.D.).
Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif
Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet (PAJ 9.6.2013). Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (F 24 o.D.).
Internationaler Flughafen Kandahar
Der internationale Flughafen Kandahar befindet sich 16 km von Kandahar-Stadt entfernt und ist einer der größten Flughäfen des Landes (MB o.D.). Ein Teil des Flughafens stand den internationalen Streitkräften zur Verfügung. Eine separate Militärbasis für einen Teil des [nun aufgelösten] afghanischen Heeres war dort ebenso zu finden, wie Gebäude für Firmen (LCA 5.1.2018). Seit dem Winter 2021, als der Flughafen von den USA an die Afghanen übergeben wurde, ist ein Hauptradar des Flughafens kaputt gegangen und nun außer Betrieb. Afghanische Beamte suchten nach Auftragnehmern für den Betrieb, aber bis dahin sind die Flüge der Fluggesellschaften reduziert worden und konnten nur tagsüber landen (NYT 25.5.2021).
Ariana Afghan Airlines und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai...) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kandarhar an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kandahar (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen nach Kabul (F 24 o.D.).
Internationaler Flughafen Herat
Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt (TECH o.D.).
Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi Arabien an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (F 24 o.D.).
Zugverbindungen
In Afghanistan existieren insgesamt drei Zugverbindungen: Eine Linie verläuft entlang der nördlichen Grenze zu Usbekistan (von Hairatan nach Mazar-e Sharif, Anm.) und zwei kurze Strecken verbinden Serhetabat in Turkmenistan mit Torghundi (in der Provinz Herat, Anm.) und Aqina (in der Provinz Faryab, Anm.) in Afghanistan (RoA 25.2.2018; vgl. RoA o.D., RFE/RL 29.11.2016, vertrauliche Quelle 16.5.2018). Alle drei Zugverbindungen sind für den Transport von Fracht gedacht, wobei sie prinzipiell auch Passagiere transportieren könnten (vertrauliche Quelle 16.5.2018), es jedoch in Afghanistan nach wie vor keine Eisenbahn- oder Schienenverbindung für den Personentransport gibt. Es gibt Pläne, dies zu ändern, aber es wird nicht erwartet, dass dies in naher Zukunft geschieht (RA KBL 20.11.2020). Die afghanischen Machthaber lehnten lange Zeit den Bau von Eisenbahnen in Afghanistan ab, aus Angst, ausländische Mächte könnten ihre Unabhängigkeit gefährden (RoA o.D.).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 1.9.2021; vgl. NDTV 14.9.2021) oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen (DZ 1.9.2021). Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet (AnA 14.9.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 1.9.2021).
3.2. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung: 16.09.2021
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).
4. Zentrale Akteure
Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.8.2021).
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbennung (sog. "re-hatting": wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 1.7.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 4.6.2021; vgl. AP 25.6.2021).
Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als "regierungsfeindliche Elemente" bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als "regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen" bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.7.2021).
[Anmerkung: Die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf die Konfliktdynamik und politische Landschaft Afghanistans sind mit September 2021 noch nicht abschließend ersichtlich.]
4.1. Taliban
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).
5. Struktur und Führung
Letzte Änderung: 16.09.2021
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen (RFE/RL 6.8.2021) bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten (FR 18.8.2021) ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks (RFE/RL 6.8.2021) und der Miran Shah-Schura ist (UNSC 1.6.2021). Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister (NZZ 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vgl. TN 3.9.2021).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).
6. Rekrutierungsstrategien
Letzte Änderung: 16.09.2021
[Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stellte sich die Lage folgendermaßen dar:]
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban [vor ihrer Machtübernahme im August 2021] teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LI 29.6.2017).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eine der Sonderkomitees der Quetta Schura [Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta/Pakistan] war für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).
Sympathisanten der Taliban waren Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive waren der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlten sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glaubten nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schlossen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven waren die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien konnten die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternahmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten lief über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wurde berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden oder in denen die Taliban stark präsent waren, de facto unmöglich war, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten (LI 29.6.2017).
Die erweiterte Familie konnte angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien waren, die Kämpfer stellten, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LI 29.6.2017).
Die Taliban wandten, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise wurden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die Rekrutierungsstrategien der Gruppierung sind noch keine validen Informationen bekannt]
6.1. Haqqani-Netzwerk
Letzte Änderung: 14.09.2021
Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation (ASP 1.9.2020), Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Das Netzwerk wurde von Jalaluddin Haqqani gegründet, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad [1979-1989] und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Sein Sohn Serajuddin [auch Sirajuddin] Haqqani führt das Netzwerk nun an (CRS 17.8.2021; vgl. FR24 21.8.2021). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. RFE/RL 6.8.2021). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (FR24 21.8.2021). Mit September 2020 zählten die Haqqani-Kämpfer rund 10.000 Mann in Afghanistan, was etwa 20 % der Kampfkräfte der Taliban ausmachte (ASP 1.9.2020), während eine andere Quelle Ende August 2021 von einem Anteil von rund 35 % sprach (GN 31.8.2021). Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni 2021 ist das Haqqani-Netzwerk die schlagkräftigste Truppe der Taliban (UNSC 1.6.2021). Es ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020c) sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (ASP 1.9.2020; vgl. TD 31.12.2019).
Das Haqqani-Netzwerk ist nach wie vor eine Drehscheibe für Kontakte und Zusammenarbeit mit regionalen ausländischen Terrorgruppen und die wichtigste Verbindungsstelle zwischen den Taliban und Al-Qaida (UNSC 1.6.2021). Auch wurden dem Netzwerk in der Vergangenheit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgesagt (CRS 17.8.2021; TSP 23.8.2021). Bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Haqqani-Netzwerk und dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) bestehen unterschiedliche Auffassungen (UNSC 1.6.2021). Während der afghanische Geheimdienst im Mai 2020 von einer "gemeinsamen ISKP-Haqqani-Zelle" sprach (RFE/RL 6.5.2021), ein Afghanistan-Experte Belege vergangener Kollaborationen erwähnte (GN 31.8.2021) und einige Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats von einer taktischen Zusammenarbeit zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk auf der Ebene der Befehlshaber berichten, bestreiten andere die Behauptungen einer taktischen Zusammenarbeit entschieden (UNSC 1.6.2021). Ende August 2021 wurde ein Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul verübt, bei dem mindestens 170 Menschen starben und zu dem sich der ISKP bekannte (MEE 27.8.2021; vgl. GN 31.8.2021). Kämpfer aus Khost und Paktia, Kerngebieten des Haqqani-Netzwerks, waren einer Quelle zufolge für die Sicherheit in manchen Teilen der Provinzhauptstadt zuständig, das Flughafenareal wurde jedoch von anderen Einheiten gesichert (NLM 26.8.2021).
Von den US-Truppen und der [ehemaligen] afghanischen Armee als "tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan" (ASP 1.9.2020) bzw. "gefährlichster" Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 17.8.2021; vgl. FR24 21.8.2021). Das Netzwerk wurde von den USA als ausländische Terrorgruppierung eingestuft und befindet sich auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (FR24 21.8.2021; vgl. NZZ 7.9.2021).
Trotz des Rufs des Haqqani-Netzwerks wird angenommen, dass es in einer künftigen Taliban-Regierung eine bedeutsame Rolle spielen wird (FR24 21.8.2021; vgl. TSP 23.8.2021). So wurde im August 2021 angekündigt, dass Sirajuddin Haqqani den Posten des Innenministers in der neu gebildeten "Übergangsregierung" der Taliban bekleiden wird (NZZ 7.9.2021).
6.2. Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen
Letzte Änderung: 16.09.2021
Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent [Anm.: manchmal mit AQIS abgekürzt], operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan (LWJ 8.4.2021; vgl. BAMF 12.4.2021). Gemäß einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juli 2021 ist Al-Qaida in mindestens 15 Provinzen Afghanistans aktiv, vor allem im Osten, Süden und Südosten des Landes (UNSC 21.7.2021). Ein bedeutender Teil der Führungsriege von Al-Qaida - einschließlich ihrem Anführer Aiman al-Zawahiri - hat ihre Basis in der Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, von wo aus sie eng mit AQIS zusammenarbeitet (UNSC 1.6.2021). AQIS operiert unter dem Schutz der Taliban von Kandahar, Helmand und Nimruz aus (UNSC 21.7.2021). Die Zahl der Mitglieder von Al-Qaida, einschließlich AQIS, wird auf mehrere Dutzend bis 500 Personen geschätzt (UNSC 1.6.2021).
Al-Qaida operierte überwiegend unter der Schirmherrschaft der Taliban und in Verbindung mit anderen regierungsfeindlichen Gruppen gegen die [bis 15.8.2021 im Amt befindliche] afghanische Regierung. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf die Ausbildung, einschließlich mit Waffen und Sprengstoff, sowie auf Beratung, und es wird behauptet, dass sie an Taliban-internen Diskussionen über die Beziehungen der Bewegung zu anderen dschihadistischen Gruppierungen teilnahmen (UNAMA 2.2021a). Kämpfer von AQIS waren in die Strukturen der Taliban eingebettet (CRS 17.8.2021). Die Nähe zwischen den beiden Gruppen wird auch durch die Tötung mehrerer Al-Qaida-Kommandeure bei Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte in von den Taliban kontrollierten Gebieten unterstrichen (UNSC 1.6.2021; vgl. VOA 10.11.2020).
Die Taliban und Al-Qaida sind nach wie vor eng miteinander verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen, wobei das Haqqani-Netzwerk hier eine wichtige Komponente ist. Die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen beruhen auf ideologischer Übereinstimmung, auf Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe entstanden sind, und auf der persönlichen Ebene z.B. durch Eheschließungen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge des US-Taliban-Abkommens haben die Taliban zugesichert, zu verhindern, dass Al-Qaida den Boden Afghanistans nutzt, "um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.1.2019), bestritten die Taliban dann, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.6.2020; vgl. UNSC 1.6.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gratulierte die Al-Qaida-Führung den Taliban zu ihrem "historischen Sieg" (LWJ 31.8.2021). Mit Stand 15.8.2021 ist noch unklar, welche Haltung die Taliban gegenüber Al-Qaida oder anderen islamistischen Extremisten einnehmen werden, sollten diese in Afghanistan grenzüberschreitende Gewaltaktionen durchführen. Es ist auch nicht klar, wie Al-Qaida auf die jüngsten Ereignisse reagieren wird (GN 15.8.2021).
Die US-amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen (FAZ 29.1.2021). Im August 2021 schätzte das US-Verteidigungsministerium die Präsenz von Al-Qaida in Afghanistan als nicht derart hoch ein, dass die Gruppierung eine Bedrohung für die USA darstellen würde, wie es am 11.9.2001 der Fall war (CNN 21.8.2021). Die Führung von Al-Qaida ist vielmehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt (CRS 17.8.2021). Zuvor hatte das US-amerikanische Verteidigungsministerium jedoch Präsident Biden widersprochen, der den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan damit gerechtfertigt hatte, dass Al-Qaida aus dem Land "verschwunden" sei (CNN 21.8.2021).
6.3. Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/DAESH), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Letzte Änderung: 14.09.2021
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.8.2017). Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP (WP 26.8.2021b).
Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan (NYT 2.12.2019) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.1.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gebietsverluste des ISKP haben seine Fähigkeiten zur Mitgliederrekrutierung und Mittelbeschaffung beeinträchtigt. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagon "Tausende" (MEE 27.8.2021) bzw. "Hunderte" ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte (GN 31.8.2021). Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (UNSC 21.7.2021).
Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (WP 26.8.2021a). Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45 % durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA neun Prozent aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beansprucht werden (UNAMA 26.7.2021). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20 % gesunken. Insgesamt verzeichnete AIHRC im ersten Halbjahr 2021 343 zivile Opfer bei ISKP-Anschlägen oder -Angriffen, davon 104 Todesopfer und 284 Verletzte (AIHRC 1.8.2021). Im gesamten Jahr 2020 schrieb AIHRC dagegen 403 zivile Opfer dem ISKP zu (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021), UNAMA zählte dagegen 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte). 80 % der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Ende August 2021 übernahm der ISKP die Verantwortung für einen Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul, die sich im Zuge der Massenevakuierungsflüge nach der Machtübernahme der Taliban dort gebildet hatte. Mindestens 170 Personen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen (MEE 27.8.2021; vgl. BBC 28.8.2021), neben den Zivilisten auch 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die zur Sicherung des Flughafengeländes dort postiert waren (MEE 27.8.2021).
Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. WP 26.8.2021a). Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein "Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat" beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede (WP 26.8.2021b). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten (SC 27.8.2021; vgl. WP 19.8.2019).
Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren (WP 26.8.2021a; vgl. AM 27.8.2021). Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden (GN 31.8.2021; vgl. SC 27.8.2021).
6.4. National Resistance Front (NRF), ehemalige Anführer der Nordallianz und Milizen
Letzte Änderung: 16.09.2021
National Resistance Front (NRF)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021). Nach Angaben eines Diplomaten der [ehemaligen] afghanischen Regierung befinden sich beide in Afghanistan (REU 8.9.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021; vgl. ANI 9.9.2021). Während die Front, die sich immer noch auf den bewaffneten Widerstand in Panjshir konzentrierte, [mit Stand 12.9.2021] weitgehend bedeutungslos zu sein scheint, könnte sie sich gemäß einer Analyse des Expertennetzwerks Afghanistan Analysts Network (AAN) nun zu einer breiteren politischen Front entwickeln (AAN 12.9.2021).
Ismail Khan, Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Noor
Gemäß einem Bericht, der am 4.8.2021 veröffentlicht wurde [Anm.: also kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul], haben die Machthaber in den verschiedenen Regionen Afghanistans angesichts der vorrückenden Taliban wenig Kampfeswillen gezeigt. Diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, taten dies hauptsächlich, um ihre eigenen lokalen Interessen zu verteidigen. In Herat beispielsweise beschloss der örtliche Machthaber Ismail Khan erst dann, eine Miliz zu mobilisieren, als die Taliban den Zollposten Islam Qala erreichten, von dem Gerüchten zufolge regelmäßig ein erheblicher Teil der Staatseinnahmen an ihn abgezweigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel es ihm schwer, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Selbst seine Gefolgsleute beschreiben die neue Miliz als kaum ebenbürtig gegenüber den kampferprobten Taliban (RUSI 4.8.2021). Die Miliz des ethnischen Tadschiken Ismail Khan, der in den 1980ern eine große Mudschaheddin-Truppe befehligt hatte und nach 2001 eine führende Rolle einnahm, schmolz im August 2021 dahin - aufgrund der Bedrohung durch die Taliban oder aufgrund einer geheimen Übereinkunft mit der Gruppierung. Khan wurde Berichten zufolge am 13.8.2021 gefangen genommen und tauchte drei Tage später in der iranischen Stadt Mashhad auf (TC 6.9.2021; vgl. AST 8.9.2021).
Atta Mohammad Noor, der starke Mann von Mazar-i-Sharif, zögerte einem Bericht zufolge zunächst, sich den Taliban entgegenzustellen. Als diese jedoch auf den Zollposten von Hayratan vorrückten, von dem er Berichten zufolge große Mengen an Bargeld abzweigen kann, schloss er sich dem Kampf an und mobilisierte seine Milizionäre. Die tatsächliche Wirkung dieser Truppe auf dem Schlachtfeld [Anm.: Stand 4.8.2021] war bescheiden (RUSI 4.8.2021). Der ethnische Tadschike Noor, einst Kommandant der Nordallianz (TC 6.9.2021) und Anführer eines Teils des Tanzims [Anm.: militärisch-politische Organisation] Jamiat-e Islami (ANI 9.9.2021), wie auch der ethnische Usbeke Abdul Rashid Dostum, einer der Gründer der Nordallianz (TC 6.9.2021) und des Tanzims Jombesh-e Melli Islami-ye Afghanistan (KAS 1.1.2006), sind vor den anrückenden Taliban ins Ausland geflohen (TC 6.9.2021; vgl. VOA 29.8.2021). Beide haben dem Widerstand im Panjshir-Tal die Treue geschworen, könnten aber angesichts eines Falls des Panjshir-Tals an die Taliban wieder zurückrudern (TC 6.9.2021). Schon vor Beginn der Kämpfe hatte Noor einer politischen Lösung gegenüber militärischem Vorgehen den Vorrang gegeben (TC 6.9.2021; vgl. AST 8.9.2021). Eine Gruppe rund um Dostum und Noor kündigte Ende August 2021 [Anm.: vor der offiziellen Verkündung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] an, Gespräche mit den Taliban anzustreben. Sie wollen sich in den nächsten Wochen treffen, um eine neue Front für Verhandlungen über die nächste Regierung des Landes zu bilden, so ein Mitglied der Gruppe (VOA 29.8.2021; vgl. FAZ 29.8.2021). Nach der Ankündigung der "Übergangsregierung" der Taliban wurde diese von Noor kritisiert, sie würde den Regeln widersprechen und sei zum Scheitern verurteilt (ANI 9.9.2021). Es bleibt ungewiss, wie viel Unterstützung Führer wie Atta Noor, der weithin der Korruption beschuldigt wird, und Dostum, der mehrfacher Folter und Brutalität beschuldigt und in einem Bericht des US-Außenministeriums als "Quintessenz eines Warlords" bezeichnet wird, in der Bevölkerung tatsächlich genießen (VOA 29.8.2021; vgl. AST 8.9.2021).
Gulbuddin Hekmatyar
Der Gründer der Hezb-e Islami (Hekmatyar) und vormaliger Gegner der Taliban, Gulbuddin Hekmatyar, war gemeinsam mit seinem ehemaligen Gegner Hamid Karzai und Abdullah Abdullah Teil eines Verhandlungsteams, das [Anm.: vor der Ankündigung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] unter dem Namen "Koordinationsrat" mit den Taliban über eine Regierungsbeteiligung verhandelte (TC 6.9.2021, FP 23.8.2021), welche jedoch nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Nach der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban lobte Hekmatyar diese als "idealste Regierung der letzten 50 Jahre, da sie keine Besitzer von Doppelstaatsbürgerschaften enthält" und frei von Sekulären sei (KP 11.9.2021).
Mohammad Mohaqeq und Abdul Ghani Alipoor
Mohammad Mohaqeq, Anführer der Partei Hezb-e Wahdat und während dem afghanischen Bürgerkrieg in den 1990ern ein wichtiger Hazara-Anführer der Nordallianz, zählt zu jenen afghanischen Warlords, die in den letzten Wochen versucht haben, ihre alten Milizen als Teil der "Volksaufstandskräfte" [public uprising forces] zu mobilisieren, die vor dem Fall von Kabul gegen Taliban-Kämpfer kämpften (JF 5.9.2021; vgl. RUSI 4.8.2021). Neben Mobilisierungen im Hazarajat (RUSI 4.8.2021) versuchte Mohaqeq zusammen mit Dostum und Noor, ihre Milizen in der Provinz Balkh zu mobilisieren, bevor diese am 14.8.2021 an die Taliban fiel (JF 5.9.2021; vgl. RUSI 4.8.2021). Als Kabul fiel, meldete sich Mohaqeq in den sozialen Medien zu Wort und behauptete in einem Facebook-Post, dass "die Menschen gerettet wurden" und dass die afghanische Regierung korrupt sei, außerdem sprach er sich [vor der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban] für eine Regierung unter Beteiligung verschiedener Gruppierungen aus (JF 5.9.2021, ETR 20.8.2021).
Ein Hazara-Kommandant, der gemäß Twittermeldungen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im Distrikt Behsud, Provinz (Maidan) Wardak, gegen die Taliban gekämpft hat, ist Abdul Ghani Alipoor (AWM 22.8.2021; IFE 22.8.2021; vgl. ALM 15.8.2021). Alipoor gründete 2014 eine Hazara-Miliz, mit dem Namen Jabha-ye Moqawamat (Widerstandskraft), die in den vergangenen Jahren Hazaras in Distrikten wie Behsud verteidigt hat. Im November 2018 war Alipoor [von der damaligen Regierung] wegen des Vorwurfs der Führung einer illegalen Miliz verhaftet worden. Im März 2021 hatten seine Kämpfer ein afghanisches Militärflugzeug abgeschossen (CACI 26.8.2021).
7. Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. "Scharia" bedeutet auf Arabisch "der Weg" und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vgl. NYT 19.8.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vgl. WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vgl. VOA 24.8.2021).
[Weitergehende Informationen zum konkreten Rechtssystem und Justizwesen unter der im Entstehen begriffenen Talibanregierung sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch nicht bekannt]
8. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 14.09.2021
[Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen den Aufbau der Sicherheitsbehörden unter den Taliban bekannt]
9. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 14.09.2021
Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten (UNAMA 2.2021b; vgl. AA 16.7.2021). Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 4.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021).
Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus (UNAMA 26.5.2019; vgl. USDOS 30.3.2021).
10. NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 14.09.2021
[Anmerkung: Über dies Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf NGOs sind noch keine validen Informationen bekannt. Ob und welche NGOs in Afghanistan bleiben werden und welche Funktionen sie ausüben werden wird so bald wie möglich nachgeliefert]
11. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 14.09.2021
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (BBC 20.8.2021; vgl. AP 3.9.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.8.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021).
12. Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung: 16.09.2021
Aufgrund der hohen Analphabetismusrate bevorzugen die meisten Bürger Fernsehen und Radio gegenüber Print- oder Online-Medien (USDOS 30.3.2021). Ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung - auch in abgelegenen Provinzen - hat Zugang zu Radio (USDOS 30.3.2021).
Afghanistan rangiert im World Press Freedom Index 2020 auf Platz 122 von 180 untersuchten Staaten; dies stellt eine Verschlechterung von einem Platz im Vergleich zum Vorjahr und drei Plätzen im Vergleich zum Jahr 2018 dar (RSF 2020).
Das Afghanistan Journalists Center zählte 2020 112 gewalttätige Übergriffe auf Medienschaffende, wobei sieben Journalisten und ein Medienmitarbeiter getötet wurden (AFJC o.D.; vgl. AI 3.5.2021; TN 6.1.2021, RSF 10.12.2020, BAMF 11.1.2021). Die Taliban stritten in einer Presseerklärung vom 6.1.2021 jede (ihnen von der damaligen Regierung zugeschriebene) Beteiligung an der Tötung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft ab (BAMF 11.1.2021; vgl. TN 6.1.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) nehmen Taliban-Kräfte jedoch gezielt Journalisten und andere Medienmitarbeiter ins Visier, darunter auch Frauen (HRW 1.4.2021) und nach Angaben des Afghanistan Journalists Center waren die Taliban, Daesh [Anm.: auch IS, ISKP] bzw. unbekannte Bewaffnete für die Tötungen von Journalisten verantwortlich (TN 6.1.2021). Am 1.1.2021 wurde der Direktor einer Radiostation in der Provinz Ghor erschossen (RSF 7.1.2021). Im Mai 2021 gab RSF (Reporters Sans Frontières) an, dass in den letzten sechs Monaten mindestens 20 Journalisten und Medienschaffende Opfer von gezielten Angriffen wurden und acht, darunter vier Frauen, getötet wurden. Etwa 30 weitere haben Todesdrohungen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit erhalten (RSF 3.5.2021). Mit Ende April wurden im Jahr 2021 bereits vier Journalisten getötet (AI 3.5.2021).
Im Mai 2021 gaben die Taliban eine Pressemitteilung heraus, in der sie den Medien im Land vorwarfen, einseitig zugunsten der Regierung zu berichten, und drohten mit Konsequenzen. Einen Tag später wurde ein Journalist in der Stadt Kandahar von Unbekannten erschossen (BAMF 10.5.2021). Während die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen aus dem Land abziehen, ist Reporter ohne Grenzen (RSF) alarmiert über die eskalierende Gewalt gegen Journalisten, insbesondere gegen Frauen, durch gezielte Gewalt und Drohungen - seit Juli 2021 wurden mindestens drei Journalistinnen ermordet (RSF 19.7.2021). Die gezielten Angriffe auf Medienschaffende sorgt insbesondere in Kabul für Angst in Teilen der Bevölkerung (AA 15.7.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Ein Protest von mehreren hundert Personen wurde am 7.9.2021 durch Taliban-Kämpfer aufgelöst, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten. Augenzeugen berichteten, dass Taliban-Mitglieder Fotos und Videos der Proteste von den Telefonen der von ihnen festgenommenen Personen löschten. Auch ein Kameramann des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News wurde kurzzeitig von den Taliban festgenommen (WP 7.9.2021). Es gibt auch Berichte wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen (BBC 7.9.2021)
Nach außen hin haben sich die Taliban verpflichtet, Journalisten zu schützen und die Pressefreiheit zu respektieren, doch die Realität in Afghanistan ist nach Reporter ohne Grenzen (RSF) eine andere. Die neuen Behörden verhängen bereits sehr strenge Auflagen für die Nachrichtenmedien, auch wenn sie noch nicht offiziell sind und es gibt Berichte wonach die Taliban Journalisten Schikanen, Drohungen und auch Gewalt aussetzen (RSF 24.8.2021). Am 7.9.2021 verhafteten Sicherheitskräfte der Taliban Journalisten des in Kabul ansässigen Medienunternehmens Etilaat-e Roz. Die Reporter hatten über Proteste von Frauen in Kabul berichtet, die ein Ende der Verstöße der Taliban gegen die Rechte von Frauen und Mädchen forderten. Es wurde berichtet, dass die Taliban-Behörden die beiden Männer zu einer Polizeistation in Kabul brachten, sie in getrennte Zellen steckten und sie mit Kabeln schwer verprügelten. Beide Männer wurden am 8.9.2021 freigelassen und in einem Krankenhaus wegen ihrer Verletzungen am Rücken und im Gesicht medizinisch versorgt (HRW 8.9.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind verboten, sowohl die Versammlung selbst als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor "schweren rechtlichen Konsequenzen" sollte man sich nicht daran halten (TG 8.9.2021).
Internet und Mobiltelefonie
Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020).
Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.6.2020).
Im Laufe des Jahres 2020 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 30.3.2021).
Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 1.7.2021) und es gibt auch Berichte wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.8.2021).
13. Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Opposition
Letzte Änderung: 14.09.2021
Ein Protest von mehreren hundert Personen wurde am 7.9.2021 durch Taliban-Kämpfer aufgelöst, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten. Augenzeugen berichteten, dass Taliban-Mitglieder Fotos und Videos der Proteste von den Telefonen der von ihnen festgenommenen Personen löschten. Auch ein Kameramann des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News wurde kurzzeitig von den Taliban festgenommen (WP 7.9.2021). Es gibt auch Berichte wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray (BBC 7.9.2021) bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzen (CNN 8.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021) Auch von Todesopfern bei Protesten wird berichtet (BBC 19.8.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind verboten, sowohl die Versammlung selbst als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor "schweren rechtlichen Konsequenzen" sollte man sich nicht daran halten (TG 8.9.2021).
[Anmerkung: Weitere Informationen über Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Opposition nach der Machtübernahme der Taliban sind noch nicht bekannt]
14. Haftbedingungen
Letzte Änderung: 14.09.2021
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das MoI und das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) waren verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren und Zivilhaftanstalten. Das National Directorate of Security (NDS), war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 30.3.2021). Glaubwürdigen Berichten zufolge verwalteten regierungstreue lokale Machthaber, mächtige Personen in den Sicherheitskräften und Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.2.2019). Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene; auch herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge (USDOS 30.3.2021).
Die Haftbedingungen wurden vor der Machtübernahme durch die Taliban als hart beschrieben, Überbelegung war ein ernstes, weit verbreitetes Problem. Am 21.4.2020 erklärte der Generaldirektor der Gefängnisse, dass die Gefängnisse des Landes unter weit verbreiteten Missständen litten, darunter Korruption, mangelnde Aufmerksamkeit für die Dauer der Haftstrafen, sexueller Missbrauch minderjähriger Gefangener und fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung. Gefangene in einer Reihe von Gefängnissen führten gelegentlich Hungerstreiks durch oder nähten sich den Mund zu, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren (USDOS 30.3.2021).
Unter der ehemaligen afghanischen Regierung bestand ein Recht für Häftlinge auf Gesundheitsdienste und medizinische Untersuchungen zu Beginn der Unterbringung (UNAMA 4.2019). Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend (USDOS 30.3.2021; vgl. HRW 14.1.2020). Das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC ist sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendige ergänzende Nahrung aufkommen (USDOS 30.3.2021). Als Folge der schlechten Haftbedingungen sind psychische Gesundheitsprobleme weit verbreitet (UNAMA 4.2019).
Vor allem Frauen und Kinder wurden vor der Machtübernahme der Taliban in Haft häufig Opfer von Misshandlungen. Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt (AA 16.7.2021). Laut NGOs und Medienberichten hielten die Behörden Kinder unter 15 Jahren zusammen mit ihren Müttern im Gefängnis fest, was zum Teil auf die mangelnde Kapazität separater Kinderbetreuungszentren zurückzuführen war. Diese Berichte dokumentierten unzureichende Bildungs- und medizinische Einrichtungen für diese Minderjährigen (USDOS 30.3.2021).
Folter von Inhaftierten durch die Sicherheitskräfte war unter der ehemaligen afghanischen Regierung verbreitet (FH 4.2.2019). Gemäß einer zweijährigen Studie in den Jahren 2019 und 2020 berichten Häftlinge, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden und sich im Gewahrsam der ANDSF (Afghan National Security Forces) befinden über Folter und Misshandlung (30,3% der Befragten - im Vergleich 31,9% in den Jahren 2017 und 2018) (UNAMA 2.2021b; vgl. HRW 14.1.2020, UNAMA 4.2019). Im Gewahrsam des NDS (National Directorate of Security) gab es einen weiteren Rückgang bei der Anzahl gefolterter bzw. misshandelter Personen (16% der Befragten - im Vergleich 19,4% in den Jahren 2017 und 2018). Weiter reduziert hat sich auch die Anzahl der durch die ANP (Afghan National Police) gefolterten und misshandelten Personen (27,5% der Befragten - im Vergleich 31,2% in den Jahren 2017 und 2018) (UNAMA 2.2021; vgl. UNAMA 4.2019).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Berichten zufolge Tausende Gefangene aus den Gefängnissen befreit (AJ 17.8.2021; vgl. ANI 17.8.2021) darunter auch hochrangige Taliban (ANI 17.8.2021) und Mitglieder von ISKP und Al-Qaida (BBC 27.8.2021).
[Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen über Haftbedingungen und die Strafverfolgung unter den Taliban bekannt]
15. Todesstrafe
Letzte Änderung: 14.09.2021
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Todesstrafe in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 16.7.2021). Und zwar für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (StGb-AFGH 15.5.2017: Art. 170).
[Anmerkung: Über dies Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die Todesstrafe in Afghanistan sind noch keine validen Informationen bekannt]
16. Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 14.09.2021
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 23.8.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 16.7.2021). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 23.8.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AP 9.9.2021). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).
In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021).
In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (USDOS 12.5.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Religionsfreiheit sind noch keine validen Informationen bekannt]
16.1. Apostasie, Blasphemie, Konversion
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Zahl der afghanischen Christen in Afghanistan ist höchst unsicher, die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und mehreren Tausend (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 16.7.2021). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Der Islam spielt eine entscheidende Rolle in der afghanischen Gesellschaft und definiert die Auffassung der Afghanen vom Leben, von Moral und Lebensrhythmus. Den Islam zu verlassen und zu einer anderen Religion zu konvertieren bedeutet, gegen die gesellschaftlichen Kerninstitutionen und die soziale Ordnung zu rebellieren (LI 7.4.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 konnten christliche Afghanen ihren Glauben nicht offen praktizieren (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). In den fünf Jahren davor gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020); jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021).
Landinfo argumentiert, dass die größte Bedrohung für einen afghanischen Konvertiten das Risiko ist, dass seine Großfamilie von der Konversion erfährt. Wenn das der Fall ist, wird diese versuchen, ihn oder sie davon zu überzeugen, zum Islam zurückzukehren. Dieser Druck kommt oft von den engsten Familienmitgliedern wie Eltern und Geschwistern, kann aber auch Onkel, Großeltern und männliche Cousins betreffen (LI 7.4.2021). Ein Konvertit wird in jeder Hinsicht stigmatisiert: als Repräsentant seiner Familie, Ehepartner, Eltern/Erzieher, politischer Bündnispartner und Geschäftspartner. Weigert sich der Konvertit, zum Islam zurückzukehren, riskiert er, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden und im Extremfall Gewalt und Drohungen ausgesetzt zu sein. Einige Konvertiten haben angeblich Todesdrohungen von ihren eigenen Familienmitgliedern erhalten (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021).
Die dominierende Rolle des Islam schränkt den Zugang zu Informationen über andere Religionen für die in Afghanistan lebenden Afghanen ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen in Afghanistan das Christentum kennen lernen, ist relativ gering. Normalerweise sind es Afghanen, die im Ausland leben, unter anderem in Pakistan oder im Iran, die mit dem Christentum in Kontakt kommen. In den Jahren zwischen dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 und deren erneuten Machtübernahme im August 2021 war die internationale Präsenz in Afghanistan beträchtlich und einige Menschen kamen möglicherweise durch ausländische christliche Entwicklungshelfer oder anderes internationales Personal mit dem Christentum in Kontakt. Verschiedene digitale Plattformen haben ebenfalls dazu beigetragen, dass mehr Menschen mit dem Christentum bekannt gemacht wurden (LI 7.4.2021).
Die Bibel wurde sowohl in Dari als auch in Paschtu übersetzt. Es konnten keine Informationen gefunden werden, die darauf hindeuten, dass die Bibel in Afghanistan zum Verkauf steht oder anderweitig auf legalem Wege erhältlich ist. Sie ist jedoch in Pakistan und im Iran erhältlich. Mehrere Ausgaben der Bibel wurden von iranischen Verlagen veröffentlicht und sind, wenn auch in begrenztem Umfang, in gewöhnlichen Buchläden im Iran erhältlich (LI 7.4.2021; vgl. LI 2017). Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Plattformen und sozialer Medien sind Informationen über verschiedene Religionen, einschließlich des Christentums, besser verfügbar als in der Vergangenheit. Die Bibel kann sowohl in Dari als auch in Paschtu kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden, ebenso wie anderes christliches Material (LI 7.4.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Apostasie, Blasphemie, Konversion sind noch keine validen Informationen bekannt]
17. Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 23.8.2021). Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (AA 16.7.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vgl. Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]
17.1. Hazara
Letzte Änderung: 16.09.2021
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2021; vgl. FH 4.3.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018).
Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.5.2021) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).
In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).
18. Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 16.09.2021
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.8.2021).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019).
Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19- Pandemie haben die Lage weiter verschärft. (AA 16.7.2021).
Anmerkung: Weitere Informationen zur aktuellen Lage betreffend der COVID-19-Krise im Zusammenhang mit Flugverbindungen bzw. Bewegungsfreiheit finden sich in dem Kapitel 'COVID-19'
Anmerkung: Weitere Informationen zum nationalen und internationalen Flugverkehr sowie zum Status der Grenzen finden sich im Kapitel Erreichbarkeit. Aufgrund der aktuellen Situation - der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 - kann es zu plötzlichen Änderungen im Hinblick auf die Öffnung und Schließung von Grenzen und auf den Flugverkehr kommen. Mit Stand September 2021 ist noch nicht abschließend klar ob bzw. welche Maßnahmen die Talibanregierung erlassen wird, um die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung einzuschränken.
19. IDPs und Flüchtlinge
Letzte Änderung: 14.09.2021
UNOCHA verifizierte im Jahr 2020 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen (UNOCHA 27.12.2020; vgl. NRC 11.2020, AI 30.3.2021) und bis 22.8.2021 wurden von UNOCHA 558.123 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert (UNOCHA 22.8.2021). Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich jedoch nicht bestimmen, zumal viele in abgelegenen Regionen oder städtischen Slums Zuflucht suchen oder in Gebieten leben, die von aufständischen Gruppen kontrolliert werden und daher nicht erfasst werden können (STDOK 10.2020).
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Mit Stand Mai 2021 werden im laufenden Jahr etwa eine halbe Million Binnenvertriebene auf humanitäre Hilfe angewiesen sein (AA 16.7.2021).
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (USDOS 30.3.2021).
IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen (USDOS 30.3.2021). Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Halle 12.2020).
Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren (AI 30.3.2021). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging. Es gibt eine von Ärzte ohne Grenzen betriebene mobile Klinik in Herat, die bei der Behandlung einiger chronischer Krankheiten hilft (Halle 12.2020).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Die Auswirkungen einer schweren Dürre, einer einbrechenden Wirtschaft, der COVID-19-Pandemie und des sich verschärfenden Konflikts in den ersten acht Monaten des Jahres haben die Menschen bereits dazu veranlasst, ihre Heimat - und das Land - zu verlassen, und es wird erwartet, dass die Situation durch den Übergang zu einer Taliban-Regierung wahrscheinlich noch verschärft werden wird (NH 30.8.2021).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 1.9.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 1.9.2021). Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen (IOM 19.8.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 1.9.2021).
Tadschikistan hat die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen zugesagt (DZ 1.9.2021; vgl. REU 2.9.2021), jedoch müsse dafür erst die Infrastruktur geschaffen werden (REU 2.9.2021; vgl. RFE/RL 2.9.2021) und auch nach Usbekistan zieht es viele Afghanen (DZ 1.9.2021; vgl. AJ 19.8.2021).
20. Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 14.09.2021
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (SIGAR 30.1.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021).
Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (DW 24.8.2021).
Dürre und Überschwemmungen
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vgl. UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021).
20.1. Armut und Lebensmittelunsicherheit
Letzte Änderung: 14.09.2021
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2021; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 9.12.2020).
Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (DW 24.8.2021).
20.2. Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Letzte Änderung: 14.09.2021
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020). Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).
Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken (Schwörer 30.11.2020).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch konnten die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls waren höher. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (IOM 2020).
[Die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf Wohnungsmarkt und Lebenshaltungskosten können noch abgesehen werden]
20.3. Arbeitsmarkt
Letzte Änderung: 16.09.2021
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vgl. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 3.12.2020).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (IOM 18.3.2021).
[Die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf den Arbeitsmarkt können noch abgesehen werden.]
20.4. Bank- und Finanzwesen
Letzte Änderung: 16.09.2021
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.8.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.8.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul, hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten dementiert er, und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.8.2021).
Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vgl. WB 2003, FA 7.9.2016).
Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld, z.B. 10.000 Euro und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).
21. Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 16.09.2021
In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.7.2021).
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).
Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 Jahre im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018).
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2021).
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.7.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2021; vgl. WHO 8.2020).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).
COVID-19
Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 gehabt (IOM 23.9.2020). Bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021). Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs im Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020).
Sicherheitslage bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste (UNAMA 2.2021; vgl. AA 16.7.2020, UNOCHA 7.3.2021, UNOCHA 19.12.2020, ICRC 17.6.2020). Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNOCHA 19.12.2020; vgl. ICRC 17.6.2020). Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (MSF 3.2020; vgl. UNOCHA 7.3.2021).
UNAMA verifizierte zwischen 1.1.2020 und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundhietsversorgung beeinträchtigten. Ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassen sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führen. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z. B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten (UNAMA 2.2021a). In der Provinz Samangan sind seit dem 4.11.2020 22 Gesundheitseinrichtungen geschlossen geblieben, was die Bereitstellung von Gesundheits- und Ernährungsdiensten in der Provinz behindert. (UNOCHA 7.3.2021). Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zugang zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich im Jahr 2021 fort (UNOCHA 7.3.2021; vgl AI 16.6.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat die Weltbank alle Hilfen für Afghanistan eingefroren (WHO 28.8.2021; vgl. HRW 3.9.2021). Mehr 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen, die im Rahmen des von der Weltbank kofinanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt werden, werden davon betroffen sein. Derzeit sind mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die NGOs, die das Projekt durchführen, haben jedoch die Umsetzung reduziert, was zur sofortigen Aussetzung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Überweisungen und ambulanter Essensversorgung führte. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügen über genügend medizinische Vorräte um die Versorgung für einige Monate aufrechtzuerhalten. In Ermangelung einer ausreichenden Finanzierung könnte die Kürzung der Hilfe Hunderttausende Afghanen ohne medizinische Versorgung zurücklassen und unverhältnismäßig viele Frauen betreffen (WHO 28.8.2021).
Angesichts der Blockade des Flughafens Kabul rufen WHO und UNICEF zur Unterstützung bei der Lieferung wichtiger medizinischer Güter nach Afghanistan auf (WHO 28.9.2021; vgl. WHO 22.8.2021)
Anmerkung: Weitere Informationen zu Lage betreffend COVID-19 finden sich im Kapitel "COVID-19".
21.1. Psychische Erkrankungen
Letzte Änderung: 14.09.2021
Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie (UNOCHA 19.12.2020).
In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden - genauso wie Kranke und Alte - gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (STDOK 4.2018; vgl. BAMF 2016). Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen (AA 16.7.2021). Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem (BDA 18.12.2018). Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert (AA 16.7.2021; vgl. BDA 18.12.2018). Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik (STDOK 4.2018).
Patienten werden bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (IOM 24.4.2019).
Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen betroffen sind (HRW 28.4.2020). Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheit häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind (UNOCHA 19.12.2020).
[Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf die Versorgung psychischer Erkrankungen sind mit Stand September 2021 noch keine validen Informationen bekannt.]
21.2. Medizinische Versorgungseinrichtungen in Afghanistan (Kabul, Herat, Balkh…)
Letzte Änderung: 16.09.2021
Kabul
Das Rahman Mina Hospital im Kabuler Bezirk Kart-e-Naw (Police District (PD) 8), wurde renoviert. Das Krankenhaus versorgt rund 130.000 Personen in seiner Umgebung und verfügt über 30 Betten. Pro Tag wird es von rund 900 Patienten besucht. Das staatliche Jamhoriat Hospital in Kabul verfügt über eine Kapazität von 350 Betten (RA KBL 20.10.2020)
Der größte Teil der Notfallmedizin in Kabul wird von der italienischen NGO Emergency angeboten. Emergency führt spezialisierte Notfallbehandlungen durch, welche die staatlichen allgemeinmedizinischen Einrichtungen nicht anbieten können und behandelt sowohl die lokale Bevölkerung, als auch Patienten, welche von außerhalb Kabuls kommen (Emergency o.D.; vgl. WHO 4.2018). Mit 20.10.2020 ist die NGO immer noch aktiv (RA KBL 20.10.2020).
Herat
Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an, von denen die meisten die Impf- und allgemeinen ambulanten Einheiten aufsuchen (WB 1.11.2016). Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken (TN 7.4.2017), unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital (RA KBL 20.10.2020). Die Anwohner von Herat beklagen jedoch, dass "viele private Gesundheitszentren die Gesundheitsversorgung in ein Unternehmen umgewandelt haben". Auch wird die geringe Qualität der Medikamente, fehlende Behandlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit der Ärzte, Krankheiten richtig zu diagnostizieren, kritisiert. Infolgedessen entscheidet sich eine Reihe von Heratis für eine Behandlung im Ausland (TN 7.4.2017).
Mazar-e Sharif
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20% dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80% öffentlich finanziert sind (STDOK 4.2018).
Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Anstelle des durch einen Brand zerstörten Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (STDOK 4.2018; vgl. RA KBL 20.10.2020). Balkh gehörte bei einer Erhebung von 2016/2017 zu den Provinzen mit dem höchsten Anteil an Frauen, welche einen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben (CSO 2018).
Weitere Beispiele für staatliche Krankenhäuser im Hinblick auf die Anzahl der Betten in anderen Provinzen:
Nangarhar: General Hospital of Public Health (550 Betten) (RA KBL 20.10.2020)
Kandahar: Mirwais Nika Hospital (350 Betten) (RA KBL 20.10.2020)
Helmand: Bast Hospital (250 Betten) (RA KBL 20.10.2020)
Bamiyan: Bamiyan Central Hospital (140 Betten) (RA KBL 20.10.2020)
Parwan: Parwan 100 Beds Public Hospital (100 Betten) (RA KBL 20.10.2020)
Es folgt eine Liste einiger Kontaktdaten staatlicher Krankenhäuser:
Ali Abad Krankenhaus: Kart-e Sakhi, Jamal Mina, Kabul University Road, Kabul, Tel.: +93 (0)20 2510 355 (RA KBL 20.10.2020)
Antani Krankenhaus für Infektionskrankheiten: Salang Watt, District 2, Kabul, Tel.: +93 (0)20 2201 372 (LN o.D.; vgl. , RA KBL 20.10.2020)
Ataturk Kinderkrankenhaus: Behild Aliabaad (in der Nähe von der Kabul University), District 3, Kabul, Tel.: +93 (0)75 2001893 / +93 (0)20 250 0312 (LN o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Indira Ghandi Children Hospital: Wazir Akbar Khan, Kabul. Tel.: 020-230-2282 (RA KBL 20.10.2020)
Istiqlal/Esteqlal Krankenhaus: District 6, Kabul, Tel.: +93 (0)20 2500674 (LN o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Ibne Sina Notfallkrankenhaus: Pull Artal, District 1, Kabul, Tel.: +93 (0)202100359 (LN o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Jamhoriat Krankenhaus: Former Ministry of Interior Road, Sidarat Square, District 2,Kabul Tel: +93 (0)20 220 1373/ 1375 (RA KBL 20.20.2020)
Karte Sae Mental Hospital: Karte sae Serahi Allaudding, PD-6, Tel.: +93(0)20 2500342 (RA KBL 20.10.2020)
Malalai Maternity Hospital: Malalai Watt, Shahre Naw, Kabul, Tel.: +93(0)20 2201 377 (LN o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Noor Eye Krankenhaus: Cinema Pamir, Kabul, Tel.: +93 (0)20 2100 446 (LN o.D.; vgl. IAM o.D., RA KBL 20.10.2020)
Rabia-i-Balki Maternity Hospital: Frosh Gah, District 2, Kabul, Tel.: +93(0)20 2104508, +93(0)799321007 (RA KBL 20.10.2020)
Wazir Akbar Khan Krankenhaus: Wazir Akbar Khan, Kabul, Tel.: ++93(0)20 230 1360 (RA KBL 20.10.2020)
Herat Regionalkrankenhaus: Khaja Ali Movafaq Rd, Herat (PAJ 3.8.2017; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Mirwais Nika Krankenhaus in Kandahar, Tel.: +93 (0)79 146 4237 (ICRC 28.1.2018; vgl. ICRC 3.2.2017, RA KBL 20.10.2020)
Es gibt zahlreiche private Kliniken, die auf verschiedene medizinische Fachbereiche spezialisiert sind. Es folgt eine Liste einiger Kontaktdaten privater Gesundheitseinrichtungen:
Amiri Krankenhaus: Red Crescent, 5 th Phase, Qragha Road, Kabul, Tel.: +93 (0)20 256 3555 (IOM 5.2.2018; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Sayed Jamaluding Psychiatric Hospital, Khoshal Mina section 1, Tel.: 93 799 128,737 (IOM 2019; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Shfakhanh Maljoy Frdos/Ferdows: Chahr Qala-e-Chahardihi Road, Kabul, Tel.: +93 (0)70 017 3124 (Cybo o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
Khair Khwa Medical Complex: Qala Najar Ha, Kabul, Tel.: +93 (0)72 988 0850 (KMC o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
DK - German Medical Diagnostic Center: Ansari Square, 3d Street, Shahr-e Nau, Kabul, Tel.: +93 (0)70 606 0141 (MK o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020)
French Medical Institute for Mothers and Children: Hinter der Kabul University, Aliabad, Kabul, Tel.: +93(0)79 107 0000 (RA KBL 20.10.2020)
Loqmah Hakim: Bagh-e Azadi Ave, Herat, Tel.: +93(0)799 40 4000 (RA KBL 20.10.2020)
Alemi Krankenhaus: Mazar-e Sharif (STDOK 4.2018; vgl. RA KBL 20.10.2020)
[Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen über die Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban auf die genannten medizinischen Einrichtungen bekannt - es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass einige der genannten Einrichtungen aktuell nicht oder nicht vollständig in Betrieb sind.]
22. Rückkehr
Letzte Änderung: 16.09.2021
IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im Jahr 2021 wurden bis August 759.046 undokumentierte Rückkehrer verzeichnet (USAID 27.8.2021).
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).
Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018).
"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2021; vgl. SFH 26.3.2021). Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2021) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).
Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 8.9.2021; vgl. IOM 19.8.2021).
[Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen über dem Umgang der Taliban mit Rückkehrern bekannt]“
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch:
Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, insb. in das Protokoll der Erstbefragung vom XXXX 2016, in das Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme vom XXXX 2018, in die Beschwerde vom 17.08.2018; Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente und (Integrations-)Unterlagen; Einsichtnahme in das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan; Einsicht in das eingeholte psychiatrische Gutachten vom XXXX 2021; Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister sowie in das Strafregister.
Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Zur Identität des Beschwerdeführers ist auszuführen, dass dieser im Verfahren keine unbedenklichen Dokumente bzw. Unterlagen vorlegte, die seine Identität mit ausreichender Sicherheit bestätigen könnten bzw. würden. Die getroffenen Feststellungen zu seinem Namen und Geburtsdatum dienen daher ausschließlich der Identifizierung des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Seine Volksgruppenzugehörigkeit, sein Familienstand, seine Muttersprache, sein Geburt- und Wohnort sowie der Umstand, dass er keine Kinder hat ergeben sich aus seinen dahingehend glaubhaften Angaben im Verwaltungsverfahren. Das erkennende Gericht sieht sich nicht veranlasst an diesen Angaben zu zweifeln.
Die Feststellung zu seinem Gesundheitszustand beruht auf dem eingeholten Gutachten des XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Der bestellte Gutachter ist allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für das Gebiet der Psychiatrie. Der Sachverständige hat den Beschwerdeführer befundet und ein in sich schlüssiges Gutachten erstellt, an dessen fachlicher Richtigkeit kein Zweifel bestellt, sodass es der Feststellung des geistigen Gesundheitszustandes zu Grunde gelegt werden konnte.
Zum (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Die Feststellungen zur Einreise und Asylantragstellung ergeben sich aus dem unbedenklichen und zweifelsfreien Akteninhalt.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet keine Familienangehörige hat beruhen auf seinen dahingehend glaubhaften Angaben im Verwaltungsverfahren und dem Umstand.
Die Feststellungen zu seinen Kursbesuchen fußen auf den im Verfahren vorgelegten Teilnahmebestätigungen an deren Richtigkeit kein Zweifel besteht.
Die festgestellte Verurteilung beruht auf Einsicht in das vorliegende Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX 2019 und auf den amtswegig eingeholten Auszügen aus dem Strafregister.
Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat und zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Die den Länderfeststellungen zu Grunde liegenden Berichte wurden dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme übermittelt bzw. in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebracht. Dem Beschwerdeführer wurde die Bedeutung dieser Berichte erklärt, insbesondere, dass aufgrund dieser Berichte die Feststellungen zu seinem Herkunftsstaat getroffen werden, sowie deren Zustandekommen. Ihm wurde die Möglichkeit gegeben in die Länderberichte Einsicht und dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer ist den Länderberichten nicht konkret entgegengetreten.
Die Feststellungen zu den Folgen bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan ergeben sich aus den Länderberichten zu Afghanistan unter Berücksichtigung der vom Beschwerdeführer glaubhaft dargelegten persönlichen Umständen im Zusammenhalt mit den Ausführungen in der aktuellen UNHCR-Richtlinie sowie den EASO Country Guidance Notes.
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zuständigkeit und anzuwendendes Verfahrensrecht:
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 59 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG, BGBl. I 2012/87 idgF bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und im FPG bleiben unberührt.
Spruchteil A)
Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde (vgl. zur Unzulässigkeit einer teleologischen Reduktion des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und zur Fortschreibung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch im Lichte der Judikatur des EuGH zur Zuerkennung subsidiären Schutzes VwGH 21.05.2019, Ro 2019/19/0006).
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind (§ 11 Abs. 1 AsylG 2005).
Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (§ 11 Abs. 2 AsylG 2005).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen. Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein sowie ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen (z.B. VwGH 30.05.2001, 97/21/0560).
Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 25.05.2016, Ra 2016/19/0036, mwN; 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).
Der Verwaltungsgerichtshof hielt in seiner Rechtsprechung fest, dass die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert ist, dass die Ausweisung dorthin automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095 mwN; so etwa auch in inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 11. Senat, 11.04.2018, A 11 S 1729/17).
Neben der Prüfung, ob in dem betreffenden Gebiet Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen, setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001). Im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung ist das Kriterium der „Zumutbarkeit“ nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; vgl. auch VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106).
Nach allgemeiner Auffassung soll die Frage der Zumutbarkeit danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslands verfolgte oder von ernsthaften Schäden (iSd Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ ohne unangemessene Härte führen kann. Dabei ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
Es muss dem Beschwerdeführer möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
Für die zur Prüfung der Notwendigkeit subsidiären Schutzes erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr abzustellen. Kommt die Herkunftsregion des Beschwerdeführers als Zielort wegen der ihm dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (VfGH 12.03.2013; U1674/12; 12.06.2013, U2087/2012; 13.09.2013, U370/2012).
Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Judikatur eine konkrete Auseinandersetzung mit den den Asylwerber konkret und individuell betreffenden Umständen, die er bei Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu gewärtigen hätte (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0233). Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative erfordert im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül somit insbesondere nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet (VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151; 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).
Im Hinblick auf den jüngst erfolgten Regierungsumsturz durch die Taliban und die derzeit vorherrschende unsichere Sicherheitslage kann zum Entscheidungszeitpunkt nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden ist: Der größte Teil Afghanistans befindet sich unter der Kontrolle der Taliban. Aufgrund der vorhandenen Berichte ist erkennbar, dass die Taliban Afghanistan längerfristig regieren wollen und entsprechende Umgestaltungen in der afghanischen Gesellschaft vornehmen.
Im Hinblick darauf gibt es momentan kein Gebiet in Afghanistan, das nicht unter der Kontrolle der Taliban stünde bzw. ohne Kontakt mit diesen erreichbar wäre – und somit als Fluchtalternative in Betracht käme. Angesichts der Rasanz der Eroberungen der Taliban und der kurzen Zeit, die seither vergangen ist, ist – trotz der medialen Beteuerungen der Taliban – die Lage noch nicht als stabil anzusehen und momentan nicht abschätzbar, ob tatsächlich die Sicherheit gewährleistet ist und Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit von den Taliban entsprechend gewahrt werden. Hinzu kommen in ganz Afghanistan spürbare Versorgungsschwierigkeiten und die Tatsache, dass der Beschwerdeführer eine längere Zeit seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht hat. Er verfügt in Afghanistan über kein ausreichendes familiäres Netzwerk und würde er dadurch im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Situation kommen. Er verfügt auch über keine ausreichende Berufserfahrung, sodass es ihm aufgrund der aktuellen Situation nicht möglich wäre im afghanischen Berufsleben Fuß zu fassen.
Im Ergebnis wäre daher der Beschwerdeführer bei einer Niederlassung in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat oder anderswo in Afghanistan Bedingungen ausgesetzt, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, weil diese Städte sowie das restliche Gebiet von Afghanistan von den Folgen des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes in Afghanistan stark betroffen sind und ganz Afghanistan faktisch unter der Kontrolle der Taliban steht.
Die erste Voraussetzung für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (etwa in Kabul [Stadt], Herat [Stadt] oder Mazar-e Sharif), nämlich der Schutz vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiär Schutz rechtfertigen (vgl. VwGH vom 23.1.2018, Ra 2018/18/0001 mwN) ist daher nicht erfüllt, weshalb die Prüfung der Zumutbarkeit der Ansiedelung in einer der genannten Städte unterbleiben kann. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan infolge der Vorherrschaft der Taliban und der damit einhergehenden willkürlichen Tötung von Zivilisten landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, weshalb eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan eine reale Gefahr einer Verletzung Art. 3 EMRK bedeuten bzw. für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen bzw. in der Folge des innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Insgesamt herrschen damit in Afghanistan landesweit Bedingungen, welche nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiär Schutz rechtfertigen.
Das erkennende Gericht kommt im Zuge einer Gefahrenprognose (vgl. VwGH vom 31.03.2005, 2005/20/0095) zum Schluss, dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Niederlassung in Afghanistan eine Gefahr im Sinne des Art 2 und 3 EMRK droht.
Zusätzlich war zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.
Gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eines Fremden abzuweisen, wenn Aberkennungsgründe des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegen. Nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn der Fremde insbesondere eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder er von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens im Sinne des § 17 StGB rechtskräftig verurteilt worden ist.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung, GZ. Ra 2017/18/0155, vom 30.08.2017, festgehalten, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung erkannt habe, dass nur ein Flüchtling, der wegen einer "besonders schweren Straftat" rechtskräftig verurteilt wurde, als eine "Gefahr für die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats" angesehen werden könne (EuGH vom 24. Juni 2015, C-373/13, H.T. gegen Land Baden-Württemberg, ECLI:EU:C:2015:413). In der selben Entscheidung hielt er auch fest, dass der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 13. Dezember 2011, U 1907/19 (VfSlg. 19591) ausgesprochen habe, dass eine Gefahr für die Sicherheit und Allgemeinheit eines Landes nur dann gegeben sei, wenn die Existenz oder territoriale Integrität eines Staates gefährdet sei oder, wenn besonders qualifizierte strafrechtliche Verstöße (z.B. Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Drogenhandel, bewaffneter Raub) vorlägen. Ein Fremder stelle jedenfalls dann eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 dar, wenn sich diese aufgrund besonders qualifizierter strafrechtlicher Verstöße prognostizieren lassen würde. Als derartige Verstöße würden insbesondere qualifizierte Formen der Suchtgiftdelinquenz (wie sie beispielsweise in § 28a SMG unter Strafe gestellt werden) in Betracht kommen, zumal an der Verhinderung des Suchtgifthandels ein besonderes öffentliches Interesse bestünde (vgl. dazu etwa VwGH vom 22. November 2012, 2011/23/0556, mwN).
Der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 19.10.2021, Ra 2020/14/0562, lag zugrunde, dass ein Revisionswerber wegen mehrerer Vergehen nach § 27 SMG 1997, unter anderem wegen gewerbsmäßiger Tatbegehung, verurteilt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof führte dazu aus, dass die auch herangezogene Bestimmung des § 27 Abs. 2a SMG 1997 eine Qualifikation für den Drogenhandel im öffentlichen Raum vorsehe. Nach den Gesetzesmaterialien solle damit die Festnahme kleiner Drogendealer ermöglicht werden, denen zwar gewerbsmäßiges Handeln nicht nachgewiesen werden könne, die aber dennoch eine gewisse Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen würden, indem sie in der Öffentlichkeit Suchtgifthandel betreiben würden. Hinzu komme in diesem Fall, dass der Revisionswerber auch wegen der gewerbsmäßigen Begehung gemäß Abs. 3 leg.cit. verurteilt worden sei, wobei es sich um ein besonderes persönliches Schuldmerkmal handele. Vor diesem Hintergrund sei jedoch das BVwG trotz des besonderen öffentlichen Interesses an der Verhinderung des Suchtgifthandels (dazu vgl. VwGH 8.7.2020, Ra 2019/14/0272, mwN) nicht davon entbunden, zusätzlich zum Kriterium der rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, insbesondere unter Einbeziehung der Art und Schwere der Straftaten und der konkreten Tatumstände in Bezug auf die Gefährdungsprognose VwGH 19.7.2021, Ra 2020/14/0574; 17.3.2021, Ra 2021/14/0043, jeweils mwN) vorzunehmen.
Der Beschwerdeführer wurde durch ein inländisches Gericht einmal wegen dreier Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften verurteilt. Die Freiheitsstrafe von sechs Monaten wurde unter Festsetzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen. Die Bestrafung liegt am unteren Ende des Strafrahmens. Bei der Strafbemessung wurde durch das Gericht als mildernd auch auf das jugendliche Alter des Beschwerdeführers hingewiesen. Der Beschwerdeführer ist seit dieser Verurteilung am XXXX 2019 nicht mehr verurteilt worden. Zwar liegt die Bekämpfung des Suchtgifthandels im besonderen Interesse der Republik, jedoch wurde ein gewerbsmäßiger Suchtgifthandel durch den Beschwerdeführer als besondere Qualifikation seines Fehlverhaltens nicht festgestellt. Der Beschwerdeführer stellt aufgrund der von der Rechtsprechung geforderten Schwere der Straftaten und aufgrund des bislang erkennbaren Persönlichkeitsbildes keine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Hinweise auf Straftaten, welche die Existenz oder territoriale Integrität des Staates gefährden würden, haben sich im Verfahren nicht ergeben, weshalb auch der Versagungsgrund der Gefährdung der Sicherheit der Republik Österreich verneint werden kann.
Die vorliegende Verurteilung wegen dreier Vergehen nach dem SMG erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005, welcher auf die Verurteilung wegen eines Verbrechens abstellt. Die bisher einmalige Verurteilung des Beschwerdeführers steht der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten folglich nicht entgegen.
Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides ist daher stattzugeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Zur Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.):
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
Dem Beschwerdeführer ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen. Daher ist ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen.
Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. – VI. des angefochtenen Bescheides:
Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten waren die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos zu beheben.
Spruchteil B)
Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist.
Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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