BVwG L503 2249333-1

BVwGL503 2249333-119.5.2023

ASVG §101
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:L503.2249333.1.00

 

Spruch:

 

L503 2249333-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH, gegen den Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 10.11.2021, Zl. XXXX , betreffend einen Antrag auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen gemäß § 101 ASVG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.05.2023, zu Recht erkannt:

 

A.) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruch des angefochtenen Bescheides wie folgt zu lauten hat:

1. Der Antrag vom 09.07.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands bei Geldleistungen bezüglich den Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 21.08.2012, Zl. XXXX , nach Klagserhebung und -zurückziehung wiederholt mit Bescheid vom 05.03.2014, Zl. XXXX , wird gemäß § 101 ASVG abgewiesen.

2. Insoweit sich der Antrag vom 09.07.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands bei Geldleistungen auf den Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 16.08.2016, Zl. XXXX , bezieht, wird der Antrag als unzulässig zurückgewiesen.

 

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: „BF“) erlitt am 15.8.2011 am Arbeitsweg mit dem PKW einen Verkehrsunfall, bei dem er sich eine (leichte) Zerrung der Halswirbelsäule (Schleudertrauma Grad 1 von Grad 1 bis 4, keine Auffälligkeiten bei Röntgen- bzw. MRT-Untersuchung, keine organischen Schäden) zuzog.

In den folgenden Monaten entwickelten sich beim BF Symptome einer funktionellen Dystonie; dabei handelt es sich um Bewegungsstörungen mit länger anhaltenden, unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur, die häufig zu verzerrenden und repetitiven Bewegungen, abnormalen Haltungen oder bizarren Körperfehlstellungen führen.

In seinem im Auftrag der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (im Folgenden kurz: „AUVA“) erstellten (ausführlichen) Gutachten vom 26.6.2012 führte Dr. XXXX , Facharzt für Neurologie, Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, abschließend aus, die Störung sei „zusammenfassend als funktionelle Dystonie, posttraumatisch aufgetreten, jedoch auch mit psychogener Ko-Komponente am ehesten im Sinne einer somatoformen Störung einzuordnen“; daraus resultiere eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40%.

Seitens der chefärztlichen Station der AUVA (Dr. XXXX ) wurde dazu am 1.8.2012 auszugsweise folgende Stellungnahme abgegeben:

„Dr. XXXX kommt zu dem Ergebnis, dass eine funktionelle Dystonie „posttraumatisch aufgetreten“, jedoch auch mit psychogener Co-Komponente am ehesten im Sinne einer somatoformen Störung vorliegt. Wenn man diese Diagnose berücksichtigt, so muss sie unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für die gesetzliche Unfallversicherung gesehen werden. Es ist beim BF eine über eine Zerrung der Halswirbelsäule hinausgehende Verletzung nicht aufgetreten. Er wurde exaktest abgeklärt und findet sich sowohl im Gehirn als auch im Rückenmark keinerlei Traumafolge. Nun ist zwar diese Störung beim BF nach dem Unfall aufgetreten, es gilt hier naturgemäß auch das gutachterliche Prinzip post hoc non est propter hoc. Unter dem Kausalitätsprinzip der wesentlichen Ursache, das für die gesetzliche Unfallversicherung Anwendung findet, kann hier kein Kausalzusammenhang mit dem Unfall bzw. der Verletzung an sich, nämlich der Zerrung der Halswirbelsäule, aus medizinischer Sicht hergestellt werden. Es handelt sich bei funktionellen Dystonien, die ohne strukturelles Korrelat auftreten, um Störungen, die weitgehend dem somatoformen Krankheitskreis zuordenbar sind und ist die wesentliche Ursache somit anlagebedingt. Der Fall wurde auch noch einmal telefonisch mit Dr. XXXX besprochen, der sich dieser Kausalitätsansicht aus medizinisch neurologischer Sicht anschließt. …“

2. Mit Bescheid der AUVA vom 21.8.2012 wurde der vom BF erlittene Unfall vom 15.8.2011 als Arbeitsunfall anerkannt. Die AUVA stellte folgende Verletzung nach diesem Versicherungsfall fest: „Zerrung der Halswirbelsäule“. Ein Anspruch auf Versehrtenrente wurde spruchgemäß verneint; die derzeit bestehenden Beschwerden stünden mit dem Unfall vom 15.8.2011 in keinem ursächlichen Zusammenhang.

3. Der BF erhob (eine rechtzeitige und zulässige) Klage beim Landesgericht XXXX als Arbeits- und Sozialgericht gegen den Bescheid der AUVA vom 21.8.2012 (Verfahren zu GZ: XXXX ). Mit Schriftsatz vom 13.1.2014 zog der BF die Klage zurück.

4. Mit Bescheid vom 5.3.2014 („Wiederholungsbescheid“) sprach die AUVA aus, dass nach Zurücknahme der Klage im Verfahren vor dem Landesgericht XXXX als Arbeits- und Sozialgericht am 14.1.2014 festgestellt werde, dass der Unfall vom 15.8.2011 als Arbeitsunfall anerkannt werde. Die AUVA stellte (wiederum) folgende Verletzung nach diesem Versicherungsfall fest: „Zerrung der Halswirbelsäule“. Die bestehenden Beschwerden stünden mit dem Unfall vom 15.8.2011 in keinem ursächlichen Zusammenhang. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

5. Mit Schriftsatz vom 3.6.2016 stellte der BF erneut einen Antrag auf Zuerkennung einer Versehrtenrente; darin machte er im Wesentlichen eine Änderung der Verhältnisse geltend.

6. Mit Bescheid vom 16.8.2016 sprach die AUVA aus, dass der Antrag auf Zuerkennung einer Versehrtenrente vom 3.6.2016 wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 15.8.2011 abgewiesen werde. Begründend führte die AUVA aus, dass im Zustand der Unfallfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten sei.

7. Der BF erhob (eine rechtzeitige und zulässige) Klage beim LG XXXX als Arbeits- und Sozialgericht gegen den Bescheid der AUVA vom 16.8.2016 (Verfahren zu GZ: XXXX ). Mit Urteil dieses Gerichtes vom 5.10.2018 wurde die Klage des BF abgewiesen. Mit Urteil des OLG Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20.11.2019 (Verfahren zu GZ: XXXX ) wurde der dagegen erhobenen Berufung nicht Folge gegeben. Der OGH wies eine gegen dieses Urteil erhobene außerordentliche Revision mit Beschluss vom 21.1.2020, GZ: XXXX , zurück.

8. Mit Schriftsatz seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 3.7.2020 (eingelangt bei der AUVA am 9.7.2020) stellte der BF einen Antrag gemäß § 101 ASVG. Darin brachte er im Wesentlichen vor, er habe am 15.8.2011 einen Verkehrsunfall erlitten, bei dem er sich eine Zerrung der Halswirbelsäule zugezogen habe. In den darauffolgenden Monaten hätten sich bei ihm erste Symptome einer funktionellen Dystonie entwickelt; dabei handle es sich um Bewegungsstörungen mit länger anhaltenden, unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur, die häufig zu verzerrenden und repetitiven Bewegungen, abnormalen Haltungen oder bizarren Körperfehlstellungen führen würden. Zuletzt habe die AUVA mit Bescheid vom 16.8.2016 seinen Antrag auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen Fehlens einer Änderung der Verhältnisse abgewiesen. Diese Abweisung sei falsch gewesen, weil das Gutachten von Dr. XXXX (gemeint: vom 20.1.2018) zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegen sei. In diesem Gutachten habe Dr. XXXX klar ausgeführt, dass eine Simulation unwahrscheinlich erscheine, zumal die dystone Verkrampfung im Rahmen des stationären Aufenthalts des BF im LKH XXXX durchgehend beobachtet worden sei. Auch sei er vom diesbezüglich gegen ihn durchgeführten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden. Weiters seien laut dem Sachverständigen dystone Störungen als Folge eines HWS-Schleudertraumas beschrieben und seien die Symptome zeitnah zum Trauma aufgetreten. Das Gutachten bestätige eine dissoziative Störung mit fixierter Dystonie, welche eine Folge des Arbeitsunfalls vom 15.8.2011 darstelle.

Der BF stellte den Antrag, das Verfahren bezüglich der Gewährung einer Versehrtenrente möge wiederaufgenommen und ihm die Versehrtenrente in gesetzlichem Umfang, mindestens jedoch auf Basis einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70%, gewährt werden.

9. Mit Bescheid von 5.8.2020 wies die AUVA Landesstelle Salzburg den Antrag des BF vom 9.7.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen bezüglich der Gerichtsverfahren zu GZ: XXXX und zu GZ: XXXX sowie des Wiederholungsbescheides vom 5.3.2014 als unbegründet ab. Mit Beschluss des BVwG vom 8.9.2021, Zl. L511 2235096-1/2E, wurde der Bescheid der AUVA Landesstelle Salzburg vom 5.8.2020 aus formellen Gründen ersatzlos behoben.

10. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 10.11.2021 sprach die AUVA aus, dass der Antrag des BF vom 9.7.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen bezüglich der Gerichtsverfahren zu GZ: XXXX und zu GZ XXXX owie des Wiederholungsbescheides der AUVA vom 5.3.2014 gemäß § 101 ASVG abgewiesen werde. Begründend führte die AUVA aus, wenn sich nachträglich ergebe, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht worden sei, so sei mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder des Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen. § 101 ASVG biete keine Handhabe dafür, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich – insbesondere auch die Beweiswürdigung – im Nachhinein neuerlich aufzurollen. Insbesondere liege ein wesentlicher Sachverhaltsirrtum dann nicht vor, wenn sich bloß die medizinische Einschätzung – etwa aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse eines Sachverständigen – geändert habe. Ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen würden nicht vorliegen.

11. Mit Schriftsatz seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 2.12.2021 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der AUVA vom 10.11.2021.

Darin brachte der BF zusammengefasst im Wesentlichen vor, dass die AUVA bei rechtsrichtiger Beurteilung des Sachverhaltes seinem Antrag vom 3.7.2020 (eingelangt bei der belangten Behörde am 9.7.2020; Anm.) auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes unter Gewährung einer Versehrtenrente im Hinblick auf den Arbeitsunfall vom 15.8.2011 Folge geben und zumindest auf Basis der 70%igen unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Dauerrente im Ausmaß von 70% der Vollrente zuerkennen hätte müssen. Im Erstverfahren sei der Sachverhalt zur Gewährung der Versehrtenrente nicht (ausreichend) ermittelt worden. Der Erstbescheid zum gegenständlichen Arbeitsunfall des BF sei fristgerecht mit Klage außer Kraft gesetzt worden. Im anschließenden ASVG-Prozess sei der Sachverhalt zur zentralen Frage, ob beim BF durch das Unfallgeschehen eine dissoziative Störung mit psychogen bedingter fixierter Dystonie eingetreten sei, die aufgrund der massiven Bewegungs- und Kraftdefizite eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70% ergebe, nicht ausreichend erhoben worden. In diesem Verfahren sei ein unzureichendes Gutachten aus dem Bereich Neurologie eingeholt worden. Der Sachverständige im Verfahren zu XXXX , Dr. XXXX , habe medizinisch nämlich fälschlich angenommen, dass beim BF eine artifizielle Störung vorliege, definiert durch absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen und habe den BF als Simulanten bezeichnet. Die medizinische Einschätzung des Sachverständigen sei Sachverhaltserhebungen gemäß § 55 ÄrzteG nicht nachgekommen und hätten die unzureichenden Erhebungen zu einem krass fehlerhaften Sachverständigenergebnis geführt. Auf Basis dieses fehlerhaften Sachstandes habe die Behörde unter relevantem Sachverhaltsirrtum den leistungsablehnenden Wiederholungsbescheid vom 5.3.2014 erlassen. Bei sachgerechter Untersuchung und gutachterlicher Bewertung zum damaligen Zeitpunkt wäre zu Tage getreten, dass tatsächlich eine unfallbedingte dissoziative Störung mit psychogen bedingter fixierter Dystonie unter massiven Bewegungs- und Kraftdefiziten bestehe und daraus eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70% gegeben sei.

Das medizinische Sachverständigengutachten des Sachverständigen im Invaliditätspensionsverfahren, Dr. XXXX , habe die unfallbedingte Diagnose einer dissoziativen Störung mit psychogen bedingter fixierter Dystonie unter massiven Bewegungs- und Kraftdefiziten ergeben. Auch im Anschlussverfahren zur Versehrtenrente sei der Sachverständige Dr. XXXX zur identen Diagnose wie Dr. XXXX gekommen. Bei sachgerechter Erhebung des maßgeblichen Sachverhaltes wäre also bereits im Erstverfahren mit dem erforderlichen Beweismaß der ZPO zu Tage getreten, dass beim BF eine unfallbedingte dissoziative Störung mit psychogen bedingter fixierter Dystonie bestehe und sich daraus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70% ergebe. Dieses Ergebnis ergebe sich auch aus den rechtskräftigen Feststellungen im Ersturteil vom 5.8.2010 (gemeint offenbar: 5.10.2018; Anmerkung des BVwG [Verfahren wegen Verschlechterung – Urteil des LG XXXX vom 5.10.2018, XXXX ]). Die bindenden Urteilsfeststellungen aus diesem Anschluss-Zivilprozess stünden mit dem Inhalt des Wiederholungsbescheides vom 5.3.2014 in unauflösbarem sachlichen Widerspruch. Auch aus Gründen der Rechtseinheit/Rechtsklarheit habe der BF einen Anspruch darauf, dass bescheidmäßig im Sinne des § 101 ASVG jener Zustand zur Gewährung der Versehrtenrente hergestellt werde, wie er sich aus den bindenden Urteilsfeststellungen ergebe. Aus den gleichen Sachgründen liege auch eine Fehleinschätzung auf tatsächlicher Ebene im Sinne einer unrichtigen Befundaufnahme vor. In dieser Hinsicht wurde nochmals auf das nach Ansicht des BF verfehlte Gutachten von Dr. XXXX verwiesen, der – in Widerspruch zur korrekten medizinischen Vorgangsweise – nach Sichtung von Observationsvideos keine nähere Befundung und Untersuchung mehr getätigt, sondern seine vorangegangene Bewertung „um 180 Grad gekehrt“ und dem BF ein Simulations- bzw. Aggravationsverhalten angelastet habe. Auf Basis einer klinischen Folgeuntersuchung, Befundung und Bewertung wäre auch der Sozialversicherungsträger keinem Sachverhaltsirrtum aufgesessen und hätte der Wiederholungsbescheid den Leistungsanspruch des BF auf Zahlung einer Versehrtenrente in Höhe von 70% der Vollrente ausgewiesen. Beantragt wurde insbesondere die zeugenschaftliche Befragung von Dr. XXXX sowie von Dr. XXXX .

12. Am 16.12.2021 wurde der Akt dem BVwG vorgelegt.

Die AUVA erstattete gemeinsam mit der Aktenvorlage eine Stellungnahme (Beschwerdebeantwortung). Darin führte sie zusammengefasst im Wesentlichen aus, dass die geltend gemachten Beschwerdegründe nicht vorliegen würden. Der Bescheid vom 21.8.2012 sei mit Klage beim ASG XXXX außer Kraft gesetzt und mit Wiederholungsbescheid vom 5.3.2014 wiederhergestellt worden. Der Bescheid vom 16.8.2016 sei ebenfalls durch Klage beseitigt worden und an seine Stelle sei das abweisende Urteil des ASG XXXX zu GZ: XXXX getreten. Voraussetzung für die Herstellung des gesetzlichen Zustandes sei ein durch rechtskräftigen Bescheid abgeschlossenes Verwaltungsverfahren. Ein bereits durch Klage beim ASG außer Kraft gesetzter Bescheid könne nicht mehr im Wege des § 101 ASVG korrigiert werden, weil mit der Klageerhebung die Entscheidungskompetenz auf das Sozialgericht übergegangen sei. Dies gelte auch für den Wiederholungsbescheid. Der BF könne in diesem Sinne keinen Bescheid im Wege des § 101 ASVG korrigieren, da er in beiden Fällen das Sozialgericht angerufen habe. Der Antrag des BF sei bereits aus diesem Grund abzuweisen gewesen.

Darüber hinaus betonte die AUVA, dass weder ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt noch ein offenkundiges Versehen vorliege. Der Vorwurf, dass keine Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts stattgefunden habe, sei nicht zutreffend. Der BF übersehe, dass bereits im Zuge der Erstellung des Erstbescheids, der in weiterer Folge gerichtlich angefochten wurde, die AUVA sich mit der Frage der dissoziativen Störung bzw. der psychogen fixierten Dystonie befasst, jedoch nach Einschätzung der chefärztlichen Station diese als akausal eingestuft habe. Das eingeholte neurologische Gutachten von Dr. XXXX habe sich mit dieser Frage ausführlich befasst. Darüber hinaus seien sämtliche damals zur Verfügung stehenden medizinischen Unterlagen des BF eingeholt und der Entscheidung der AUVA zugrunde gelegt worden. Es sei zwar zutreffend, dass Dr. XXXX nach Vorlage von Videos seine Einschätzung revidiert und der BF, der im gesamten Verfahren anwaltlich vertreten gewesen sei, in der Folge die Klage zurückgezogen und die AUVA einen Wiederholungsbescheid erlassen habe. Der Wiederholungsbescheid basiere jedoch nicht, wie in der Beschwerde ausgeführt, auf den „unrichtigen“ Ausführungen von Dr. XXXX , sondern entspreche den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens des Erstbescheids und entspreche § 72 Z. 2 lit. c ASGG.

13. Mit Erkenntnis vom 22.2.2022, Zl. L503 2249333-1/3E, wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 28 Abs 2 VwGVG als unbegründet und änderte den Spruch des angefochtenen Bescheides dahingehend ab, dass er lautet: „Der Antrag vom 09.07.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen gemäß § 101 ASVG wird, soweit er die durch Klagserhebung vor dem Landesgericht XXXX als Arbeits- und Sozialgericht in den Verfahren zu GZ: XXXX und XXXX außer Kraft getretenen Bescheide der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 21.08.2012 und 16.08.2016 betrifft, als unzulässig zurückgewiesen. Soweit der Antrag den Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 05.03.2014 (Wiederholungsbescheid) betrifft, wird er abgewiesen.“ Begründend wurde – kurz zusammengefasst – ausgeführt, die Bescheide der AUVA vom 21.8.2012 und 16.8.2016 seien durch Klagserhebung außer Kraft getreten, sodass sie einer Anwendung von § 101 nicht mehr zugänglich seien. Der Wiederholungsbescheid vom 5.3.2014 habe den Bescheid vom 21.8.2012 rechtlich zwingend zu wiederholen gehabt, sodass insofern kein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen ersichtlich sei.

14. Mit Erkenntnis vom 31.1.2023, Zl. Ra 2022/08/0042, hob der VwGH das erwähnte Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts auf. Begründend führte der VwGH insbesondere aus, dass ein Anwendungsfall des § 101 ASVG auch dann anzunehmen ist, wenn dessen Voraussetzungen in Bezug auf den infolge der Klage außer Kraft getretenen Bescheid, soweit er den Inhalt des Wiederholungsbescheides bildet, zutreffen, wenn also dem Versicherungsträger bei der Erlassung des Ausgangsbescheides ein - durch die inhaltliche Übernahme auf den Wiederholungsbescheid durchschlagender - wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist und dadurch eine Geldleistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde. Ob die Voraussetzungen des § 101 im gegenständlichen Fall inhaltlich zutreffen, sei folglich im Wege einer Verhandlung zu klären.

15. Mit Schriftsatz vom 25.4.2023 wiederholte die AUVA nochmals – im Vorfeld einer durch das BVwG anberaumten Beschwerdeverhandlung samt Zeugenladungen -, dass zu keinem Zeitpunkt im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen für den Erstbescheid bzw. den Wiederholungsbescheid eine unrichtige Befundaufnahme, ein Übersehen eines konkreten Leidenszustandes oder ein Irrtum vorgelegen sei. Es handle sich lediglich um eine andere Kausalitätsentscheidung. Die Aussagen der angebotenen (gemeint: vom BVwG geladenen) Zeugen seien entbehrlich. Abschließend wurde der Antrag auf zeugenschaftliche Befragung von Dr. XXXX zum Beweis dafür beantragt, „dass weder ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt noch ein offenkundiges Versehen auf Seiten der belangten Behörde bei der medizinischen Sachverhaltsfeststellung für den Erstbescheid vorgelegen ist“.

16. Mit Replik vom 27.4.2023 trat der BF der AUVA entgegen. Die Fehleinschätzung von Dr. XXXX hinsichtlich eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den gegenständlichen Beschwerden stelle einen wesentlichen Irrtum über eine Tatfrage dar, welche letztlich bei der rechtlichen Beurteilung die entscheidende Rolle gespielt habe.

17. Am 4.5.2023 führte das BVwG in der Sache des BF eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, in der die Sachverständigen Dr. XXXX (AUVA/Facharzt für Neurochirurgie), Dr. XXXX (Facharzt für Neurologie, Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger), XXXX (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Neurologie und Psychiatrie) und XXXX (Facharzt für Psychiatrie und Neurologie) zeugenschaftlich befragt wurden. Darüber hinaus vermochte sich der erkennende Richter einen persönlichen Eindruck vom BF zu machen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF erlitt am 15.8.2011 am Arbeitsweg mit dem PKW einen Verkehrsunfall, bei dem er sich eine (leichte) Zerrung der Halswirbelsäule (Schleudertrauma Grad 1 von Grad 1 bis 4, keine Auffälligkeiten bei Röntgen- bzw. MRT-Untersuchung, keine organischen Schäden) zuzog.

In den folgenden Monaten entwickelten sich beim BF Symptome einer funktionellen Dystonie.

1.2. Bei Dystonien handelt es sich um Bewegungsstörungen mit länger anhaltenden, unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur, die häufig zu verzerrenden und repetitiven Bewegungen, abnormalen Haltungen oder bizarren Körperfehlstellungen führen.

Dystonien können auch ohne organische Ursachen bzw. Verletzungen auftreten; in diesem Fall spricht man von funktionellen Dystonien, die durch psychische Störungen bedingt sind.

1.3. Aufgrund des zeitlichen Ablaufs ist es im konkreten Fall naheliegend, dass es sich um keinen Zufall handelte, dass die funktionelle Dystonie nach dem (leichten) Autounfall auftrat. Die funktionelle Dystonie wurde folglich - wenn auch nicht mit Gewissheit, so doch mit entsprechender Wahrscheinlichkeit -, durch den Autounfall (das heißt an dieser Stelle: in bloß faktischer, nicht rechtlicher Betrachtungsweise) ausgelöst. Zur funktionellen Dystonie ist es mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gekommen, weil der BF das Unfallereignis aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner psychischen Situation somatoform verarbeitet hat. Insofern kann auch von einer dissoziativen Störung gesprochen werden.

Die funktionelle Dystonie hätte beim BF durch beinahe jedwedes alltägliche Ereignis, wie z. B. Kränkungen, (leichte) Stöße, Berührungen durch andere Personen etc., ausgelöst werden können bzw. wäre es nicht unwahrscheinlich gewesen, dass die funktionelle Dystonie auch ohne den Unfall aufgrund anderer (alltäglicher) Ereignisse aufgetreten wäre.

1.4. Die AUVA war bei Erlassung ihres (im weiteren Verlauf wiederholten) Erstbescheids vom 21.8.2012 im Wesentlichen bereits von jenem Sachverhalt ausgegangen, der soeben unter Punkt 1.3. festgestellt wurde: So stützte sich die AUVA insbesondere auf ein (ausführliches) Gutachten vom 26.6.2012 von Dr. XXXX wonach die Störung „zusammenfassend als funktionelle Dystonie, posttraumatisch aufgetreten, jedoch auch mit psychogener Ko-Komponente am ehesten im Sinne einer somatoformen Störung einzuordnen“ sei.

Davon ausgehend lag dem Erstbescheid vom 21.8.2012 die – in der chefärztlichen Stellungnahme der AUVA vom 1.8.2012 explizit dargelegte – rechtliche Beurteilung zugrunde, wonach „unter dem Kausalitätsprinzip der wesentlichen Ursache, das für die gesetzliche Unfallversicherung Anwendung findet, … hier kein Kausalzusammenhang mit dem Unfall bzw. der Verletzung an sich, … hergestellt werden [kann]. Es handelt sich bei funktionellen Dystonien, die ohne strukturelles Korrelat auftreten, um Störungen, die weitgehend dem somatoformen Krankheitskreis zuordenbar sind und ist die wesentliche Ursache somit anlagebedingt …“.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde und den Gerichtsakt sowie durch eine (ausführliche) mündliche Verhandlung am 4.5.2023, in der die Sachverständigen XXXX zeugenschaftlich befragt wurden.

2.2. Die unter Punkt 1.1. getroffene Feststellung, wonach der BF am 15.8.2011 am Arbeitsweg mit dem PKW einen Verkehrsunfall erlitten hat, bei dem er sich eine (leichte) Zerrung der Halswirbelsäule ohne organische Schäden zuzog, beruht auf den im Akt befindlichen ärztlichen Berichten sowie den diesbezüglich gleichlautenden Angaben der zeugenschaftlich befragten Sachverständigen in der Beschwerdeverhandlung und ist dieser Umstand im Übrigen unstrittig. Unstrittig ist zudem, dass sich beim BF in den folgenden Monaten Symptome einer funktionellen Dystonie entwickelten (siehe dazu im Übrigen auch näher die unter Punkt 2.4. dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen).

2.3. Die unter Punkt 1.2. getroffenen, allgemeinen Feststellungen zum Begriff der Dystonie bzw. funktionellen Dystonie beruhen auf den insofern gleichlautenden Erläuterungen der Sachverständigen in sämtlichen erstatteten Gutachten bzw. in der Beschwerdeverhandlung sowie allgemein anerkannter medizinischer Literatur.

2.4. Einer näheren Beweiswürdigung bedürfen die unter Punkt 1.3. getroffenen Feststellungen, wonach aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs naheliegend – wenngleich nicht gewiss – ist, dass die funktionelle Dystonie beim BF, weil dieser das Unfallereignis aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner psychischen Situation somatoform verarbeitet hat, durch den Autounfall ausgelöst wurde, wobei die funktionelle Dystonie aber durch beinahe jedwedes alltägliche Ereignis ausgelöst hätte werden können bzw. auch ausgelöst worden wäre.

2.4.1. Der Vollständigkeit halber sei hier eingangs angemerkt, dass es nach Ansicht des BVwG erwiesen ist, dass der BF kein Simulationsverhalten an den Tag legt. Auch war die AUVA bei Erlassung des Erstbescheids vom 21.8.2012 von keinem Simulationsverhalten des BF ausgegangen. Einzig der Gutachter Dr. XXXX revidierte im Verfahren XXXX (nach Einbringung einer Klage durch den BF gegen den Erstbescheid vom 21.8.2012) – nach Vorlage von Observationsvideos – seine ursprünglich im Detail dargestellte Diagnose einer dissoziativen Störung mit psychogen bedingter fixierter Dystonie und ging, offensichtlich ohne weitere Untersuchung des BF, nunmehr von einem Simulationsverhalten des BF aus und zog der BF daraufhin seine Klage zurück. Diesen Ausführungen von Dr. XXXX wird – im Sinne des Beschwerdevorbringens des BF – ausdrücklich nicht gefolgt, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund sämtlicher anderer Gutachten, die ein Simulationsverhalten gleich lautend ausschließen. Auch dem persönlichen Eindruck in der Beschwerdeverhandlung nach war der BF von seinen Leiden schwer gezeichnet. Zu betonen ist jedoch nochmals, dass die AUVA bei Erlassung des Erstbescheids vom 21.8.2012 gerade von keiner Simulation ausging (vgl. Dr. XXXX in seinem im Auftrag der AUVA erstellten Gutachten vom 26.6.2012: „Die Störung ist zusammenfassend als funktionelle Dystonie, posttraumatisch aufgetreten, jedoch auch mit psychogener Ko-Komponente am ehesten im Sinne einer somatoformen Störung einzuordnen“ oder Dr. XXXX in seiner chefärztlichen Stellungnahme vom 1.8.2012: „… Es handelt sich bei funktionellen Dystonien, die ohne strukturelles Korrelat auftreten, um Störungen, die weitgehend dem somatoformen Krankheitskreis zuordenbar sind und ist die wesentlichen Ursache somit anlagebedingt …“). Für den Wiederholungsbescheid der AUVA vom 5.3.2014 spielte das (revidierte) Gutachten von Dr. XXXX im Übrigen schon aus rechtlichen Gründen (bloße, zwingende „Wiederholung“ des Erstbescheids) keine Rolle.

2.4.2. Was die getroffene Feststellung anbelangt, wonach es aufgrund des zeitlichen Ablaufs im konkreten Fall naheliegend – wenn auch nicht gewiss - ist, dass die funktionelle Dystonie durch den Autounfall (das heißt hier: in bloß faktischer, nicht rechtlicher Betrachtungsweise) ausgelöst wurde, und es zur funktionellen Dystonie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gekommen ist, weil der BF das Unfallereignis aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner psychischen Situation somatoform verarbeitet hat, so beruht diese darauf, dass sämtliche mit dem Fall des BF befasste Gutachter (mit Ausnahme von Dr. XXXX , der nach Vorlage von Observationsvideos von einem Simulationsverhalten ausging – siehe dazu bereits oben), insbesondere auch jene Gutachter, die ausführlich in der Beschwerdeverhandlung befragt wurden - wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit -, zu diesem Ergebnis kamen. So gab etwa der vom BF als Zeuge beantragte Dr. XXXX , der in der Beschwerdeverhandlung ausführlich Auskunft zum Fall des BF geben konnte, zunächst an, auffällig sei vor allem der zeitliche Zusammenhang mit dem Unfall, wenngleich per se kein ursächlicher Zusammenhang ersichtlich sei. Es sei aber naheliegend, dass der Unfall beim BF eine psychische Alteration hervorgerufen habe; sein auffälliges Persönlichkeitsprofil sei mit der somatoformen Reaktionsweise in Einklang zu bringen (Verhandlungsschrift S. 12/13). Ganz ähnlich führte auch Dr. XXXX in der Beschwerdeverhandlung aus: „… ich hatte schon den Eindruck, dass hier ein Zusammenhang bestehen könnte, wobei ich laut meinem Befund angeführt habe, posttraumatisch aufgetreten, jedoch auch mit psychogener Komponente. Ich habe damals auch eine somatoforme Störung vermutet. … Der einzige Zusammenhang, der offensichtlich war, war der zeitliche. Sämtliche organischen Untersuchungen waren normal“ (Verhandlungsschrift S. 9). Im Ergebnis gleich lautend führte auch Dr. XXXX in der Beschwerdeverhandlung etwa aus: „RI: War Ihrer Ansicht nach dieser Verkehrsunfall in irgendeiner Weise ursächlich für die Dystonie? Z: Rein vom körperlichen Befund her, nein. Aber, das ist der ganze Streit der sich offensichtlich seit Jahren hinzieht, es handelt sich um eine dissoziative Störung, das sind körperliche Beschwerden, die organisch nicht erklärbar sind, sie sind organisch nicht auf den harmlosen Verkehrsunfall zurückzuführen. … Bei der dissoziativen Störung geht man von psychiatrischer Seite her aus, dass eine unbewusste Ursache der Grund des ganzen Zustandsbilds ist. Eine unbewusste Verursachung, die im Regelfall durch eine frühere psychische Traumatisierung entstanden ist. … Es ist so, dass man bei einer dissoziativen Störung ein psychisches Trauma in der Vorgeschichte findet und das kann durchaus auch einmal bei einem an sich harmlosen Verkehrsunfall der Fall sein“ (Verhandlungsschrift S. 17). „… der Autounfall im Sinne einer psychischen Traumatisierung kann ein Auslöser des Krankheitsbilds sein“ (Verhandlungsschrift S. 18). Lediglich die Ausführungen von Dr. XXXX von der AUVA wichen von den dargestellten Aussagen insofern ab, als dieser die diesbezüglichen Fragen des Richters im Wesentlichen offen ließ. In einer Gesamtschau ist somit zum Ergebnis zu gelangen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten der funktionellen Dystonie und dem Autounfall nahe liegend ist.

Was die getroffene Feststellung anbelangt, wonach die funktionelle Dystonie beim BF durch beinahe jedwedes alltägliche Ereignis, wie z. B. Kränkungen, (leichte) Stöße, Berührungen durch andere Personen etc., hätte ausgelöst werden können und wonach es nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, dass die funktionelle Dystonie auch ohne den Unfall aufgrund anderer (alltäglicher) Ereignisse aufgetreten wäre, so ist zunächst wiederum auf die sehr ausführlichen Erläuterungen des vom BF als Zeugen beantragten Dr. XXXX , der auch Facharzt für Psychiatrie ist, in der Beschwerdeverhandlung hinzuweisen. Dieser gab zwar eingangs auf Nachfragen, ob die Dystonie auch ohne den Autounfall eingetreten wäre, an, Dystonien könnten auch durch Bagatelltrauma ausgelöst werden; es sei aber nicht einschätzbar, wie hoch die Wahrscheinlichkeit beim BF gewesen wäre, die Dystonie auch ohne den Autounfall zu entwickeln (Verhandlungsschrift S. 13). Sodann führte Dr. XXXX auf weiteres Nachfragen aber auch wie folgt aus: „Dieses Ereignis hat dazu geführt, dass er [der BF] aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner psychischen Situation dieses somatoform verarbeitet hat. Als Beispiel nenne ich eine Lehrerin, die einen Tritt gegen das Bein bekommen hat. Sie hat dann genau so somatoform reagiert und es ging so weit, dass sie nur mehr mit Krücken bzw. überhaupt nicht mehr gehen konnte. Es hat ewig gedauert, bis es sich dann tatsächlich normalisiert hat. Eine derartige Dystonie kann eben durch Bagatelltraumata ausgelöst werden wie z.B. der Griff auf die Schulter, Beleidigungen. Diese Dystonie hätte auch bzw. wäre auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch jegliches anderes Bagatelltrauma ausgelöst worden. Ohne den Autounfall wäre irgendetwas anderes passiert und er hätte die Beschwerden gehabt“ (Verhandlungsschrift S. 13). … „RV: Welche Bagatell-Verletzungen wären beim BF in Frage gekommen, um eine Dystonie auszulösen? Z: Das ist eine reine Hypothese. Jegliche Bagatellverletzung, sei es ein Autounfall, sei es dass ihm jemand gegen das Bein tritt, kann zu einer entsprechenden Auslösung führen. RV: Können Sie das näher konkretisieren, indem Sie bestimmte Ereignisse als adäquat oder nicht adäquat für die Dystonie bewerten? Z: Das kann man nicht sagen“ (Verhandlungsschrift S. 15). Nur der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass nicht verkannt wird, dass im Urteil des LG XXXX vom 5.10.2018 zu XXXX ausgeführt wird, Dr. XXXX habe in seinem Gutachten herausgestrichen, dass gerade nicht jedes alltägliche Ereignis zum Ausbruch der Krankheit geführt hätte; eine derartige Aussage ist dem dem BVwG vorliegenden, schriftlichen Gutachten von Dr. XXXX aber nicht zu entnehmen. Im Ergebnis durchaus ähnlich wie die Ausführungen von Dr. XXXX in der Beschwerdeverhandlung stellten sich jene des vom BF ebenfalls als Zeugen beantragten Dr. XXXX (der unter anderem auch Facharzt für Psychiatrie ist) dar: „Der Auslöser kann ganz unterschiedlich sein. Es kann ein schwerer Auslöser sein, der auch dem Laien verständlich ist, dann kommt es aber eher zu sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen, also ein Unfall mit sehr viel Blut, Toten und Verletzten. Es können aber auch Bagatellunfälle sein, die für den Laien nicht nachvollziehbar sind, aber trotzdem zu einer psychischen Traumatisierung führen …“ (Verhandlungsschrift S. 18). Nicht konkret zu beantworten vermochte hingegen Dr. XXXX die diesbezüglichen Fragen des Richters: „RI: Ihrer Ansicht nach: Wäre die Dystonie auch ohne den Unfall aufgetreten? Z: Gute Frage. Das kann sein. … RI: Halten Sie es, soweit Sie das einschätzen können, für wahrscheinlich, dass er die Dystonie auch ohne den Unfall bekommen hätte? Z: Das kann ich nicht beantworten. RI: Gibt es da irgendeine Veranlagung dafür, dass man anfälliger ist für Dystonien? Z: Es gibt genetische Veranlagungen, die zu Dystonien führen können. Oder Erkrankungen, die dystone Symptome verursachen können. RI: Aber wie genau das in diesem Fall zu sehen ist, das können Sie nicht sagen? Z: Nein. …“ (Verhandlungsschrift S. 9/10). Hierzu ist allerdings auch anzumerken, dass Dr. XXXX in diesem Zusammenhang selbst darauf hinwies, dass er (nur) Facharzt für Neurologie, nicht jedoch auch Psychiatrie ist und es sich hierbei um psychiatrische Fragestellungen handelt (Verhandlungsschrift S. 10). Vor dem Hintergrund, dass Dr. XXXX und Dr. XXXX Fachärzte und Sachverständige sowohl für Neurologie, als auch für Psychiatrie sind, konnten die diesbezüglichen Feststellungen unbedenklich auf die ausführlichen und nachvollziehbaren Ausführungen dieser beiden Sachverständigen in der Beschwerdeverhandlung gestützt werden.

2.4.3. Aus dem eben Gesagten ergibt sich bereits auch die unter Punkt 1.4. getroffene Feststellung, wonach die AUVA bei Erlassung ihres (im weiteren Verlauf wiederholten) Erstbescheids vom 21.8.2012 im Wesentlichen bereits von jenem Sachverhalt ausgegangen war, der nunmehr vom BVwG unter Punkt 1.3. festgestellt wurde: So stützte sich die AUVA insbesondere auf ein (ausführliches) Gutachten vom 26.6.2012 von Dr. XXXX , wonach die Störung „zusammenfassend als funktionelle Dystonie, posttraumatisch aufgetreten, jedoch auch mit psychogener Ko-Komponente am ehesten im Sinne einer somatoformen Störung einzuordnen“ sei. Es haben sich keinerlei grundlegende Unterschiede zwischen der Einschätzung des Krankheitsbilds des BF bei Erlassung des Erstbescheids durch die AUVA am 21.8.2012 und jener durch das BVwG im gegenständlichen Verfahren ergeben, woran auch der – vom BF in der Beschwerdeverhandlung aufgegriffene – Umstand nichts zu ändern vermag, dass es sich beim seinerzeitigen (Haupt-)Gutachter, Dr. XXXX , (nur) um einen Facharzt für Neurologie handelte, obwohl die gegenständlichen Fragen mehr psychiatrischer Natur sind. Vielmehr haben sich die seinerzeitigen Ausführungen von Dr. XXXX durch die nunmehrigen Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen Dr. XXXX und Dr. XXXX dem Grunde nach als zutreffend erwiesen.

Ausgehend von diesem Sachverhalt lag dem Erstbescheid vom 21.8.2012 die – in der chefärztlichen Stellungnahme der AUVA vom 1.8.2012 explizit dargelegte – rechtliche Beurteilung zugrunde, wonach „unter dem Kausalitätsprinzip der wesentlichen Ursache, das für die gesetzliche Unfallversicherung Anwendung findet, … hier kein Kausalzusammenhang mit dem Unfall bzw. der Verletzung an sich, … hergestellt werden [kann]. Es handelt sich bei funktionellen Dystonien, die ohne strukturelles Korrelat auftreten, um Störungen, die weitgehend dem somatoformen Krankheitskreis zuordenbar sind und ist die wesentliche Ursache somit anlagebedingt …“.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde mit der im Spruch bezeichneten Maßgabe:

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch einen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

3.2. Rechtliche Grundlagen im ASVG und ASGG:

3.2.1. § 101 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) lautet:

Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen

§ 101. Ergibt sich nachträglich, daß eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen.

3.2.2. § 71 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG) lautet auszugsweise:

Wirkungen der Klage

§ 71. (1) Wird in einer Leistungssache nach § 65 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 bis 8 die Klage rechtzeitig erhoben, so tritt der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft; Bescheide, die durch den außer Kraft getretenen Bescheid abgeändert worden sind, werden insoweit aber nicht wieder wirksam.

[...]

3.2.3. § 72 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG) lautet auszugsweise:

Zurücknahme der Klage

§ 72. Für die Zurücknahme der Klage gelten folgende Besonderheiten:

1. Der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid tritt durch die Zurücknahme der Klage nicht wieder in Kraft;

2. nimmt ein Versicherter seine Klage zurück, so

a) bedarf er hiezu in keinem Fall der Zustimmung des Versicherungsträgers;

b) gilt sein Antrag soweit als zurückgezogen, als der darüber ergangene Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten ist;

c) hat der Versicherungsträger binnen vier Wochen ab Kenntnis von der Klagsrücknahme mit Bescheid jene Leistung festzustellen, die er dem Versicherten auch nach dem Zeitpunkt der Zurücknahme der Klage nach dem § 71 Abs. 2 zu gewähren hätte, wenn die Klage nicht zurückgenommen worden wäre; auch sonst hat der Versicherungsträger in Rechtsstreitigkeiten, in denen das Vorliegen eines Arbeits(Dienst)unfalls strittig ist, einen Bescheid zu erlassen, der dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht;

[...]

3.3. Im konkreten Fall bedeutet dies:

3.3.1. Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass der VwGH im gegenständlichen Verfahren ausgesprochen hat, dass ein Anwendungsfall des § 101 ASVG auch dann anzunehmen ist, wenn dessen Voraussetzungen in Bezug auf den infolge der Klage außer Kraft getretenen Bescheid, soweit er den Inhalt des Wiederholungsbescheides bildet, zutreffen, wenn also dem Versicherungsträger bei der Erlassung dieses Ausgangsbescheides ein - durch die inhaltliche Übernahme auf den Wiederholungsbescheid durchschlagender - wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist und dadurch eine Geldleistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde (VwGH vom 31.1.2023, Zl. Ra 2022/08/0042, Rz 15). Die Prüfung der Voraussetzungen des § 101 ASVG hat gegenständlich somit im Hinblick auf den – wenn auch außer Kraft getretenen und später wiederholten - Erstbescheid der AUVA vom 21.8.2012 zu erfolgen.

3.3.2. Zur Frage des Vorliegens eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt:

3.3.2.1. Ein Irrtum über den Sachverhalt liegt nur vor, wenn der Sozialversicherungsträger Sachverhaltselemente angenommen hat, die mit der Wirklichkeit im Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht übereinstimmten (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 21. Dezember 2005, 2002/08/0281, und vom 28. März 2012, 2012/08/0047, jeweils mwN). Einen Tatsachenirrtum in diesem Sinn könnte etwa eine unrichtige Befundaufnahme durch einen Sachverständigen - etwa das Übersehen eines konkreten Leidenszustandes - darstellen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 27. Juli 2001, 2001/08/0040, und vom 18. März 1997, 96/08/0079) [VwGH vom 29.8.2022, Zl. Ra 2021/08/0126].

In der Außerachtlassung einer gesicherten Erkenntnis des Faches durch einen Sachverständigen könnte ein offenkundiges Versehen liegen. § 101 ASVG bietet aber keine Handhabe dafür, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich - insbesondere auch die Beweiswürdigung - im Nachhinein neuerlich aufzurollen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 26. Mai 2004, 2001/08/0030, und vom 28. März 2012, 2012/08/0047). Insbesondere liegt ein wesentlicher Sachverhaltsirrtum dann nicht vor, wenn sich bloß die medizinische Einschätzung - etwa aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse - geändert hat (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis 2012/08/0047, mwN) [VwGH vom 13.9.2017, Zl. Ra 2016/08/0174].

3.3.2.2. Im gegenständlichen Fall ist hierzu auf die obige Beweiswürdigung zu verweisen, wonach die AUVA bei Erlassung ihres Erstbescheids vom 21.8.2012 im Wesentlichen bereits von jenem Sachverhalt ausgegangen war, der sich nunmehr vor dem BVwG – bei nachträglicher Betrachtungsweise und unter Einbeziehung mehrerer Sachverständiger – als zutreffend erwiesen hat. Ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt lag dem Bescheid der AUVA vom 21.8.2012 somit unzweifelhaft nicht zugrunde. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle nochmals angemerkt, dass das – vom BF bemängelte und vom BVwG den getroffenen Feststellungen nicht zugrunde gelegte – Gutachten von Dr. XXXX , in dem dieser dem BF im Verfahren XXXX (zuletzt) ein Simulationsverhalten unterstellte, bei Erlassung des Erstbescheids vom 21.8.2012 noch gar nicht vorlag und auch bei Erlassung des Wiederholungsbescheids schon aus rechtlichen Gründen keine Rolle spielen konnte.

3.3.3. Zur Frage eines offenkundigen Versehens (in rechtlicher Hinsicht):

3.3.3.1. Nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Oktober 1996, Zl. 96/08/0057, kann wegen des Erfordernisses der „Offenkundigkeit“ nicht jegliches Versehen rechtlicher Art im Wege des § 101 ASVG (hier: § 69 GSVG, ist gleichlautend mit § 101 ASVG) nachträglich erfolgreich geltend gemacht werden. Eine offenkundige Art des Versehens liegt nach der in diesem Erkenntnis näher zitierten Lehre und Rechtsprechung nur dann vor, wenn eine klare und eindeutige gesetzliche Bestimmung unrichtig ausgelegt wurde und dies redlicherweise nicht bestritten werden kann. Davon könne nicht gesprochen werden, wenn der bekämpfte Leistungsbescheid das Ergebnis einer - wenn auch möglicherweise unzutreffenden - komplizierten rechtlichen Beurteilung sei (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 8. April 1997, Zl. 97/08/0089) [VwGH vom 12.9.2012, Zl. 2009/08/0090].

3.3.3.2. Die Frage, ob der AUVA bei Erlassung des Erstbescheids vom 21.8.2012 ein offenkundiges Versehen in rechtlicher Hinsicht unterlaufen ist, ist im konkreten Fall insoweit relevant, als die die AUVA eine Kausalität des Autounfalls für die funktionelle Dystonie – in rechtlicher Hinsicht – verneinte. Folglich ist somit zu prüfen, ob diese Rechtsansicht zutreffend war oder allenfalls auf einem – offenkundigen – Versehen beruhte.

3.3.3.3. Wie bereits oben ausgeführt, ist zwar nicht erwiesen, aber doch naheliegend, dass zwischen dem (leichten) Autounfall des BF und dem Auftreten der funktionellen Dystonie in naturwissenschaftlicher Hinsicht ein Kausalzusammenhang (gemäß der Äquivalenztheorie, wonach ursächlich jede Bedingung ist, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele) besteht.

Die Entscheidung, ob – nach Feststellung des Kausalverlaufs mit Hilfe der Äquivalenztheorie –das Unfallgeschehen der Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung zurechnen ist, ist eine Frage der rechtlichen Beurteilung. Die gedankliche Grundlage oder auch Methode dieses wertenden Vorgangs der Entscheidungsfindung folgt der „Theorie der wesentlichen Bedingung“. Dieser Vorgang beinhaltet (vereinfacht) eine Abwägung der Interessen des Versicherten gegen jene der Versichertengemeinschaft. Im Falle mehrerer nach der Äquivalenztheorie gefundener Mitursachen wird mit Hilfe einer Gewichtung und einer Abwägung entschieden, ob eine Ursache mit ausreichendem Versicherungsbezug für den Unfall „wesentlich“ (und daher für die Zurechnung ausschlaggebend) ist (Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, Vor §§ 174-177, Rz 34, 36). Vereinfacht bedeutet das: Die Zurechnung zur Unfallversicherung unterbleibt, wenn die aus der Risikosphäre der Unfallversicherung stammende Ursache im Hinblick auf andere mitwirkende Ursachen als unwesentlich erscheint (Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, Vor §§ 174-177, Rz 40).

Wenn eine krankhafte Veranlagung und ein Unfallereignis für die Entstehung einer Körperschädigung zusammenwirken, so sind nach der zu den unfallversicherugsrechtlichen Bestimmungen ergangenen Judikatur des OGH beide Umstände Bedingungen für das Unfallgeschehen. Dafür, ob die Auswirkungen des Unfalles eine rechtlich wesentliche Teilursache des nach dem Unfall eingetretenen Leidungszustandes sind, ist entscheidend, ob dieser Zustand auch ohne den Unfall etwa zur gleichen Zeit eingetreten wäre oder durch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis hätte ausgelöst werden können, ob also die äußere Einwirkung (Unfall) wesentliche Teilursache oder nur Gelegenheitsursache war (vgl. die Entscheidung des OGH vom 21. Dezember 1993, 10 Ob S 234/93 = SSV-NF 7/127) [VwGH vom 18.6.2014, Zl. 2013/09/0172; in diesem Sinne etwa auch VwGH 24.3.2011, Zl. 2010/09/0223 und vom 27.1.2011, Zl. 2008/09/0188].

Im vorliegenden Fall handelt es sich beim (leichten) Autounfall des BF am Arbeitsweg – per se betrachtet – unzweifelhaft um eine aus der Risikosphäre der Unfallversicherung stammende Ursache. Konkret kommt jedoch hinzu, dass – den getroffenen Feststellungen zufolge – die Dystonie aufgetreten ist, weil der BF das Unfallereignis aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner bereits bestehenden psychischen Situation somatoform verarbeitet hat (vgl. etwa den – vom BF als Zeugen beantragten - psychiatrischen Sachverständigen Dr. XXXX in der Beschwerdeverhandlung, Verhandlungsschrift S. 17: „… geht man von psychiatrischer Seite her aus, dass eine unbewusste Ursache der Grund des ganzen Zustandsbilds ist. Eine unbewusste Verursachung, die im Regelfall durch eine frühere psychische Traumatisierung entstanden ist. … . Es ist so, dass man bei einer dissoziativen Störung ein psychisches Trauma in der Vorgeschichte findet und das kann durchaus auch einmal bei einem an sich harmlosen Verkehrsunfall der Fall sein“; vgl. auch den psychiatrischen Sachverständigen Dr. XXXX in der Beschwerdeverhandlung, Verhandlungsschrift S. 13, wonach das „auffällige Persönlichkeitsprofil mit der somatoformen Reaktionsweise in Einklang zu bringen ist“ oder, anders und sehr lebensnah formuliert, wiederum Dr. XXXX , Verhandlungsschrift S. 15: „Manche Leute halten viel aus, bei manchen können bereits geringe Einflüsse von außen zu einer Störung des psychischen Wohlbefindens führen und das führt zu einer somatischen Verarbeitung“). Zudem war auch den expliziten Ausführungen von Dr. XXXX zu folgen, wonach die funktionelle Dystonie beim BF durch beinahe jedwedes alltägliche Ereignis, wie z. B. Kränkungen, (leichte) Stöße, Berührungen durch andere Personen etc., ausgelöst werden hätte können bzw. es nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, dass die funktionelle Dystonie auch ohne den Unfall aufgrund anderer (alltäglicher) Ereignisse aufgetreten wäre (arg. Verhandlungsschrift S. 15: „Eine derartige Dystonie kann eben durch Bagatelltraumata ausgelöst werden wie z.B. der Griff auf die Schulter, Beleidigungen. Diese Dystonie hätte auch bzw. wäre auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch jegliches anderes Bagatelltrauma ausgelöst worden. Ohne den Autounfall wäre irgendetwas anderes passiert und er [der BF] hätte die Beschwerden gehabt)“.

Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht des BVwG in Anbetracht der oben dargestellten Rechtsprechung davon auszugehen, dass die Entstehung der funktionellen Dystonie – im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung – wesentlich der Veranlagung bzw. früheren psychischen Traumatisierung des BF zuzurechnen ist und nicht dem (leichten) Autounfall.

Nur der Vollständigkeit halber sei auch auf das im Fall des BF ergangene Urteil des OLG Innsbruck vom 20.11.2019, Zl. XXXX verwiesen, welches im Ergebnis zur gleichen rechtlichen Beurteilung gelangt: „Im Übrigen ist dem in der Berufungsbeantwortung der Beklagten aufrecht erhaltenen (Rechts-)Standpunkt beizupflichten, dass der Unfall vom 15.8.2011 nicht kausal für die nunmehr vorliegenden neurologischen Beschwerden des Klägers ist. … Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgeführt, dass es für den Gegenbeweis (der Kausalität) völlig ausreicht, wenn der Versicherte irgendein Verletzungstrauma erlitten hätte, das ebenso leicht wie im Schutzbereich aufgetreten wäre und dieselben Folgen ausgelöst hätte (10 ObS 248/92 [10 ObS 249/92, 10 ObS 250/92]). Nicht anders können die hier vorliegenden sinngemäßen Feststellungen verstanden werden, wonach auch ein körperliches Trauma mit geringfügigen Verletzungen die Dystonie auslösen hätte können. Mangels Einschränkung auf bestimmte Arten von Traumata konnte also jedes die körperliche Unversehrtheit des Klägers leicht beeinträchtigende Geschehnis, das in rechtlicher Hinsicht als relativ häufig vorkommendes alltägliches Ereignis zu qualifizieren wäre, die Dystonie auslösen. Damit können auch hier die Folgen des Unfalls nicht dem Risikobereich der gesetzlichen Unfallversicherung zugerechnet werden, sodass letztlich eine rechtliche Kausalität zu verneinen ist.“

3.3.3.4. Es ist somit auch die rechtliche Beurteilung der AUVA in ihrem Bescheid vom 21.8.2012, wonach die Beschwerden des BF mit dem Unfall vom 15.8.2011 in keinem (gemeint: rechtlich betrachtet) ursächlichen Zusammenhang stehen, zutreffend.

Folglich liegt unzweifelhaft auch kein Versehen, geschweige denn ein offenkundiges Versehen, in rechtlicher Hinsicht vor.

3.3.4. Wie bereits oben angemerkt, hat der VwGH im gegenständlichen Verfahren ausgesprochen, dass ein Anwendungsfall des § 101 ASVG auch dann anzunehmen ist, wenn dessen Voraussetzungen in Bezug auf den infolge der Klage außer Kraft getretenen Bescheid, soweit er den Inhalt des Wiederholungsbescheides bildet, zutreffen, wenn also dem Versicherungsträger bei der Erlassung dieses Ausgangsbescheides ein - durch die inhaltliche Übernahme auf den Wiederholungsbescheid durchschlagender - wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist und dadurch eine Geldleistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde (VwGH vom 31.1.2023, Zl. Ra 2022/08/0042, Rz 15). Die Prüfung der Voraussetzungen des § 101 ASVG hat gegenständlich somit im Hinblick auf den – wenn auch außer Kraft getretenen und später wiederholten - Erstbescheid der AUVA vom 21.8.2012 zu erfolgen.

Vor dem Hintergrund, dass einerseits der (relativ unbestimmt formulierte) Antrag des BF nach § 101 ASVG vom 3.7.2020 (eingelangt am 9.7.2020) wohl so zu verstehen ist, dass er sich sowohl auf den Erstbescheid der AUVA vom 21.8.2012, als auch auf den Wiederholungsbescheid der AUVA vom 5.3.2014, als auch auf den (weiteren) Bescheid der AUVA vom 16.8.2016 bezieht, und dass andererseits die AUVA im Spruch des gegenständlich bekämpften Bescheids vom 10.11.2021 abgesehen von ihrem Wiederholungsbescheid (nur) auf die entsprechenden Gerichtsverfahren verweist, wiewohl sich eine Entscheidung nach § 101 ASVG stets auf bestimmte Bescheide zu beziehen hat, war die Beschwerde des BF – aus Gründen der Rechtsklarheit – mit der Maßgabe abzuweisen, dass der Antrag vom 9.7.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands bei Geldleistungen bezüglich den Bescheid AUVA vom 21.8.2012, nach Klagserhebung und -zurückziehung wiederholt mit Bescheid vom 5.3.2014 (vgl. dazu VwGH vom 31.1.2023, Zl. Ra 2022/08/0042), gemäß § 101 ASVG abgewiesen wird. Insoweit sich der Antrag des BF (auch) auf den Bescheid der AUVA vom 16.8.2016 bezieht, war der Antrag als unzulässig zurückzuweisen, zumal dieser Bescheid durch eine (rechtskräftig abgewiesene) Klage außer Kraft getreten und somit einer Anwendung des § 101 ASVG nicht mehr zugänglich war (vgl. in diesem Sinn ausdrücklich VwGH vom 31.1.2023, Zl. Ra 2022/08/0042, Rz 11).

Es war somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, da die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Zur Frage der rückwirkenden Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen gemäß § 101 ASVG besteht bereits eine umfassende und einheitliche – auszugsweise auch zitierte – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, von der die gegenständliche Entscheidung auch nicht abweicht.

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