BVwG I405 2211968-2

BVwGI405 2211968-230.11.2020

AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs10
AVG §37
AVG §66 Abs2
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs3 Satz2
VwGVG §31 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2020:I405.2211968.2.00

 

Spruch:

 

 

 

I405 2163262-2/2EI405 2211968-2/2EI405 2163263-2/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. am XXXX und 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Nigeria, Nigeria, vertreten durch RAe Dr. Martina SCHWEIGER-APFELTHALER, Graf-Starhemberg-Gasse 39/12, 1040 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.09.2020, Zln. XXXX , XXXX , XXXX , zu Recht:

A) Die angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) idgF. aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 15.09.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 22.03.2017 wurde die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) geboren und für diese von der Mutter als gesetzlicher Vertretung am 06.04.2017 ein Antrag auf Familienverfahren gestellt. Am 04.11.2018 wurde der Drittbeschwerdeführer (im Folgenden: BF3) geboren und für diesen von der Mutter als gesetzlicher Vertretung am 26.11.2018 ein Antrag auf Familienverfahren gestellt.

2. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.06.2017 betreffend BF1 und BF2 und vom 07.12.2018 betreffend BF3 wurden die Anträge der BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 gegen diese eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung gemäß § 46 nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.) Als Frist für eine freiwillige Ausreise wurden gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.07.2019 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.07.2019, Zln. I412 2163262-1/6E, I412 2211968-1/6E, I412 2163263-1/6E, als unbegründet abgewiesen.

4. Am 17.09.2019 stellte die BF1 für sich und als gesetzliche Vertreterin für die BF2 und den BF3 die gegenständlichen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 55 Abs 1 AsylG.

5. Daraufhin wurden die BF am 19.09.2019 von der belangten Behörde aufgefordert, ihren Antrag schriftlich zu begründen sowie gültige Reisedokumente vorzulegen.

6. Mit Schriftsatz vom 16.09.2019 und 17.09.2019 legten die BF durch ihren Rechtsvertreter diverse Unterlagen zum Privat- und Familienleben der BF vor und stellten zugleich einen Antrag auf Heilung des Mangels, da die BF nicht in der Lage seien, gültige Reisedokumente vorzulegen.

7. Mit gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom 29.09.2020 des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gem. § 58 Abs 10 AsylG zurückgewiesen.

8. Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, worin Mangelhaftigkeit des Verfahrens infolge mangelnder Tatsachenfeststellungen und unrichtige rechtliche Beurteilung moniert wurden. Die belangte Behörde habe es unterlassen, Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF zu treffen. Der angefochtene Bescheid sei daher aufzuheben und zurückzuverweisen.

9. Beschwerde und Bezug habender Akt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 13.11.2020 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen, Beweiswürdigung:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Dieser ergibt sich bedenkenlos aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.

2. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 leg. cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

2.2. Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

2.3. Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG. (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG Anm. 11).

2.4. § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

2.5. Der Verwaltungsgerichthof hat dazu ausgesprochen (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063), dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt.

Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat.

Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

2.6. Unter Zugrundelegung der vom VwGH in seinem Erkenntnis vom 21.10.2010, Zl. 2008/01/0245-11, dargelegten Rechtsansicht liegt zur Beurteilung der gegenständlichen Entscheidung ein mangelhafter Sachverhalt vor, dies aus folgenden Erwägungen in der Gesamtschau:

2.7. Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Wie in der Beschwerde zutreffend moniert wurde, enthalten die angefochtenen Bescheide keine bzw. kaum Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF. Stattdessen verweist das BFA lediglich auf das rechtskräftige Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.07.2019 im Asylverfahren der BF und hält fest, dass die familiären Verhältnisse der BF gleich geblieben seien. Die belangte Behörde hätte jedoch aktuelle Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF treffen müssen bzw. diese im Bescheid anführen müssen, um sodann eine Beurteilung vornehmen zu können, ob es hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der BF zu einer wesentlichen Änderung gekommen ist oder nicht.

Zudem war seit der letzten Stellungnahme der BF zu ihrem Privat- und Familienleben im September 2019 zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides im September 2020 ein Jahr vergangen, weshalb wegen des vergangenen Zeitraumes von über einem Jahr nicht mehr von der Aktualität der Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF ausgegangen werden hätte können. Vielmehr hätte die belangte Behörde vor Erlassung der angefochtenen Bescheide zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes die BF1 einzuvernehmen gehabt und so geeignete und aktuelle Feststellungen zum Privat und Familienleben der BF treffen müssen, um so zu einer abschließenden Beurteilung zu gelangen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen, vor allem weil das BFA als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist, sowie aufgrund des Umstandes, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gem. § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, da aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, liegen vor.

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