125. Bundesgesetz über den Ersatz von Schäden aufgrund einer strafgerichtlichen Anhaltung oder Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz 2005 - StEG 2005)
Der Nationalrat hat beschlossen:
1. Abschnitt
Anwendungsbereich
§ 1. (1) Der Bund haftet nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes für den Schaden, den eine Person durch den Entzug der persönlichen Freiheit zum Zweck der Strafrechtspflege oder durch eine strafgerichtliche Verurteilung erlitten hat.
(2) Die Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes (AHG), BGBl. Nr. 20/1949, bleiben unberührt.
2. Abschnitt
Ersatzpflicht des Bundes
Ersatzanspruch
§ 2. (1) Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 steht nur einer Person zu, die
- 1. durch eine inländische Behörde oder eines ihrer Organe zum Zweck der Strafrechtspflege oder auf Grund der Entscheidung eines inländischen Strafgerichts gesetzwidrig festgenommen oder angehalten wurde (gesetzwidrige Haft);
- 2. wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung festgenommen oder in Haft gehalten wurde und in der Folge durch ein inländisches Strafgericht freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt wurde (ungerechtfertigte Haft) oder
- 3. durch ein inländisches Strafgericht nach Wiederaufnahme oder Erneuerung des Verfahrens oder sonstiger Aufhebung eines früheren Urteils freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt oder neuerlich verurteilt wurde, sofern in diesem Fall eine mildere Strafe verhängt wurde oder eine vorbeugende Maßnahme entfiel oder durch eine weniger belastende Maßnahme ersetzt wurde (Wiederaufnahme).
(2) Das Organ, das der geschädigten Person den Schaden zufügte, haftet ihr nicht.
Ausschluss und Einschränkung des Ersatzanspruchs
§ 3. (1) Eine Haftung des Bundes ist ausgeschlossen, soweit
- 1. in den Fällen der gesetzwidrigen Haft, der ungerechtfertigten Haft und der Wiederaufnahme mit einer nachfolgenden milderen Strafe oder weniger belastenden Maßnahme die Zeit der Anhaltung auf eine Strafe angerechnet wurde;
- 2. im Fall der ungerechtfertigten Haft die geschädigte Person nur deshalb nicht verfolgt wurde, weil die Ermächtigung zur oder der Antrag auf Strafverfolgung zurückgenommen wurde oder die Strafbarkeit der Tat aus Gründen entfiel, die erst nach der Festnahme oder Anhaltung eintraten;
- 3. im Fall der ungerechtfertigten Haft die geschädigte Person nur deshalb nicht verfolgt wurde, weil sie die Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen hatte oder
- 4. im Fall der Wiederaufnahme an die Stelle der aufgehobenen Entscheidung nur deshalb eine günstigere trat, weil inzwischen das Gesetz geändert worden ist.
(2) In den Fällen der ungerechtfertigten Haft und der Wiederaufnahme kann das Gericht die Haftung des Bundes mindern oder auch ganz ausschließen, soweit ein Ersatz unter Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf die Haftgründe und auf die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, unangemessen wäre. Ist die geschädigte Person aber in einem Strafverfahren gemäß § 259 Z 3 der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl. Nr. 631/1975, freigesprochen worden, so kann dabei die Verdachtslage nicht berücksichtigt werden.
(3) Die Haftung des Bundes kann jedoch im Fall der gesetzwidrigen Haft weder ausgeschlossen noch gemindert werden, wenn die Festnahme oder Anhaltung unter Verletzung der Bestimmungen des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, BGBl. Nr. 210/1958, oder des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, erfolgte.
Mitverschulden
§ 4. (1) Die Haftung des Bundes kann wegen eines Mitverschuldens nach § 1304 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB), JGS Nr. 936/1811, eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, wenn die geschädigte Person an ihrer Festnahme oder Anhaltung ein Verschulden trifft, insbesondere weil sie
- 1. den Verdacht oder einen Haftgrund dadurch herbeiführte, dass sie sich in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu einer späteren Verantwortung belastete oder wesentliche entlastende Umstände verschwieg oder sonst gegen die Festnahme oder Anhaltung sprechende Gründe nicht vorbrachte,
- 2. eine ordnungsgemäße Ladung nicht befolgte oder
- 3. gelinderen Mitteln zuwider handelte.
(2) Die Haftung des Bundes kann jedoch im Fall der gesetzwidrigen Haft aufgrund eines Mitverschuldens der geschädigten Person weder ausgeschlossen noch gemindert werden, wenn die Festnahme oder Anhaltung unter Verletzung der Bestimmungen des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, BGBl. Nr. 210/1958, oder des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, erfolgte.
Gegenstand des Ersatzes
§ 5. (1) Der Gegenstand und der Umfang des Ersatzes richten sich nach den Bestimmungen des ABGB. Der Schaden ist nur in Geld zu ersetzen.
(2) Der Ersatzanspruch wegen des Entzugs der persönlichen Freiheit umfasst auch eine angemessene Entschädigung für die durch die Festnahme oder die Anhaltung erlittene Beeinträchtigung. Bei der Beurteilung der Angemessenheit sind die Dauer der Anhaltung sowie die persönlichen Verhältnisse der geschädigten Person und deren Änderung durch die Festnahme oder Anhaltung zu berücksichtigen.
(3) Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 unterliegt keiner bundesgesetzlich geregelten Abgabe.
Beschränkung der Verfügbarkeit
§ 6. Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 ist Exekutions- oder Sicherungsmaßnahmen entzogen, außer zugunsten einer Forderung auf Leistung des gesetzlichen Unterhalts oder auf Ersatz von Unterhaltsaufwendungen, die die geschädigte Person nach dem Gesetz selbst hätte machen müssen (§ 1042 ABGB). Soweit Exekutions- und Sicherungsmaßnahmen ausgeschlossen sind, ist auch jede Verpflichtung und Verfügung der geschädigten Person durch Abtretung, Anweisung, Verpfändung oder durch ein anderes Rechtsgeschäft unter Lebenden unwirksam.
Rückersatz
§ 7. Hat der Bund der geschädigten Person den Schaden ersetzt, so kann er von Personen, die als seine Organe gehandelt und den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet haben, Rückersatz begehren. Auf den Rückersatzanspruch sind die §§ 3, 4, 5 und 6 Abs. 2 AHG anzuwenden.
Verjährung
§ 8. (1) Ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 verjährt in drei Jahren nach Ablauf des Tages, an dem der geschädigten Person die anspruchsbegründenden Voraussetzungen bekannt geworden sind, keinesfalls aber vor einem Jahr nach Rechtskraft der Entscheidung oder Verfügung, aus der der Ersatzanspruch abgeleitet wird. Sind der geschädigten Person diese Voraussetzungen nicht bekannt geworden oder ist der Schaden aus einer gerichtlich strafbaren Handlung entstanden, die nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, so verjährt ein solcher Ersatzanspruch erst in zehn Jahren nach der Festnahme oder der Anhaltung.
(2) Die Verjährung wird durch eine Aufforderung gemäß § 9 für die dort bestimmte Frist oder, wenn die Aufforderung innerhalb dieser Frist beantwortet wird, bis zur Zustellung der Antwort an die geschädigte Person gehemmt. Gleiches gilt bei Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil der geschädigten Person (§ 11) bis zur Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren.
3. Abschnitt
Verfahren
Aufforderungsverfahren
§ 9. (1) Die geschädigte Person soll den Bund, vertreten durch die Finanzprokuratur, zunächst schriftlich auffordern, ihr binnen drei Monaten eine Erklärung zukommen zu lassen, ob er den Ersatzanspruch anerkennt oder ganz oder zum Teil ablehnt. Das zur Entscheidung über den Ersatzanspruch berufene Gericht kann der geschädigten Person für dieses Aufforderungsverfahren nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO), RGBl. Nr. 113/1895, über die Verfahrenshilfe einen Rechtsanwalt beigeben.
(2) Hat die geschädigte Person den Bund zur Anerkennung eines Anspruchs nicht oder nicht hinreichend deutlich aufgefordert oder die Klage vor Ablauf der Frist von drei Monaten erhoben oder den Anspruch erst im Lauf eines Rechtsstreits geltend gemacht, so steht dem Bund, soweit er den Ersatzanspruch anerkennt oder erfüllt, für die Dauer von drei Monaten ab Geltendmachung, längstens jedoch bis zum Schluss der mündlichen Streitverhandlung, Kostenersatz nach § 45 ZPO zu.
(3) Der Bundesminister für Justiz kann mit Verordnung die näheren Anforderungen an das Aufforderungsschreiben der geschädigten Person sowie die für die Mitwirkung der Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Vorbereitung der Grundlagen für die Entscheidung über die Berechtigung eines Ersatzanspruchs erforderlichen Regelungen erlassen.
Bindung
§ 10. Jede rechtskräftige Entscheidung eines inländischen Gerichts, mit der die Rechtswidrigkeit einer Festnahme oder Anhaltung ausgesprochen wird, ist für das weitere Verfahren über einen Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 bindend. Gleiches gilt für ein endgültiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem ausgesprochen wird, dass das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden ist.
Auswirkungen einer Wiederaufnahme
§ 11. (1) Wird ein Strafverfahren zum Nachteil der geschädigten Person wiederaufgenommen, so ist die Erklärung nach § 9 Abs. 1 oder die Zahlung einer anerkannten Entschädigung bis zur rechtskräftigen Beendigung des wiederaufgenommenen Strafverfahrens aufzuschieben. Die Finanzprokuratur hat hievon die geschädigte Person zu verständigen. Vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren kann der Entschädigungsanspruch nicht mit Klage geltend gemacht werden. Ein bereits anhängiger Rechtsstreit ist vom Gericht zu unterbrechen.
(2) Nach Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufgenommenen Strafverfahren sind die nach Abs. 1 aufgeschobenen Rechtshandlungen nachzuholen, das unterbrochene Gerichtsverfahren fortzusetzen oder bereits geleistete Entschädigungen zurückzufordern, sofern die geschädigte Person diese Beträge nicht gutgläubig verbraucht hat.
(3) Das Gericht, das über den Antrag auf Wiederaufnahme zu entscheiden hat, hat unverzüglich die Finanzprokuratur vom Einlangen dieses Antrags zu verständigen.
Verfahren
§ 12. (1) Auf das Verfahren gegen den Bund und das Rückersatzverfahren gegen ein Organ sind die §§ 9, 10, 13 und 14 AHG anzuwenden.
(2) Die geschädigte Person kann einen Ersatzanspruch nach § 1 Abs. 1 gegen das Organ, das ihr den Schaden zufügte, im ordentlichen Rechtsweg nicht geltend machen.
4. Abschnitt
Schluss- und Übergangsbestimmungen
In- und Außer-Kraft-Treten
§ 13. (1) Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Jänner 2005 in Kraft.
(2) Mit Ablauf des 31. Dezember 2004 tritt das Bundesgesetz vom 8. Juli 1969, BGBl. Nr. 270, über die Entschädigung für strafgerichtliche Anhaltung und Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz - StEG) außer Kraft.
Übergangsbestimmungen
§ 14. (1) Dieses Bundesgesetz ist anzuwenden, wenn
- 1. eine vor dem In-Kraft-Treten dieses Bundesgesetzes begonnene Anhaltung in den Fällen der gesetzwidrigen Haft oder der ungerechtfertigten Haft nach dem 31. Dezember 2004 geendet hat;
- 2. im Fall der Wiederaufnahme die Entscheidung, mit der eine rechtskräftige Verurteilung aufgehoben wurde, nach dem 31. Dezember 2004 in Rechtskraft erwachsen ist.
(2) In allen anderen Fällen einer Festnahme oder Anhaltung vor dem 1. Jänner 2005 sind die bisher geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden.
Verweise
§ 15. (1) Soweit in diesem Bundesgesetz auf andere Bundesgesetze verwiesen wird, sind diese in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden.
(2) Soweit in anderen Bundesgesetzen und Verordnungen auf Bestimmungen verwiesen wird, die durch dieses Bundesgesetz geändert oder aufgehoben werden, erhält die Verweisung ihren Inhalt aus den entsprechenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes.
Vollziehung
§ 16. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes ist der Bundesminister für Justiz betraut.
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Schüssel
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