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Das Bundesverfassungsgericht zwischen Leviathan und Individuum

AufsätzeUniv.-Prof. Dr. Michael KilianZÖR 2022, 627 Heft 3 v. 26.9.2022

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis unter der deutschen Bürgerschaft, dass das Bundesverfassungsgericht ein Verfassungsgericht sei, dh vorrangig ein Instrument, um die Grundrechte der Bürger gegen den Leviathan zu schützen und zu verteidigen: der letzte Fels in dessen Brandung – „und wenn ich bis Karlsruhe gehen muss ...“. Tatsächlich ist das Gericht zum beträchtlichen Teil ein Staatsgerichtshof; dies bedeutet, es schützt die Belange des Staates und dessen Organe, notfalls auch gegen die Interessen des Einzelnen. Es weist diese in seine Schranken, wie bereits eine frühe Entscheidung von 1954 zum „Menschenbild des Grundgesetzes“ (BVerfGE 4, 7, „Investitionshilfe“) mit der Gemeinschaftsgebundenheit des an sich freien Menschen allzu deutlich machte.11Wobei man hier bezweifeln könnte, ob es Aufgabe einer Verfassung oder eines Verfassungsgerichts ist, ein „Menschenbild“ zu zeichnen. Andere Rechtsordnungen und Verfassungsgerichte hätten hier eher Hemmungen oder würden gar nicht erst auf solche Gedanken kommen. Wurde doch die Verfassungsbeschwerde (Art 93 Abs 1 Nr 4a GG), mit deren Hilfe ein Grundrechtsschutz erst prozessual möglich war, zwar 1951 ins Bundesverfassungsgerichtsgesetz, aber erst 1969 ins Grundgesetz eingefügt, und somit verfassungsrechtlich abgesichert.

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