Normen
AVG §66 Abs4;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §41 Abs1;
BBG 1990 §41;
AVG §66 Abs4;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §41 Abs1;
BBG 1990 §41;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit am 29. Juni 2011 und am 6. Juli 2011 beim Bundessozialamt eingelangten Anträgen ersuchte die Beschwerdeführerin um Ausstellung eines Behindertenpasses.
Nach der Aktenlage unterzog sich die Beschwerdeführerin am 10. August 2011 einer Untersuchung durch den ärztlichen Sachverständigen Dr. H., der in seinem Gutachten vom selben Tag zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 50% gelangte. Dies begründete er damit, dass im Rahmen der Untersuchung bei der Beschwerdeführerin insgesamt vier Leiden festgestellt worden seien, wobei als führendes Leiden die mit 40% bewertete "Sprunggelenks-, Talonaviuclararthrose bds." angeführt wurde. Diesbezüglich führte der Sachverständige (u.a.) erläuternd aus, die Beweglichkeit beider Sprunggelenke sei zum Teil deutlich eingeschränkt und schmerzhaft sowie arthrotisch verdickt. Erkennbar in diesem Zusammenhang wurde im Gutachten weiters vermerkt, dass der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei, u.a. weil diese eine kurze Wegstrecke (300 bis 400 Meter) aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe zurücklegen könne. Das genannte führende Leiden werde durch ein weiteres Leiden ("Lumboischialgien bei höhergradig degenerativen WS-Veränderungen, Skoliose") um eine Stufe erhöht, woraus der genannte Gesamtgrad der Behinderung von 50% resultiere.
Auf der Grundlage dieses Gutachtens erließ das Bundessozialamt den Bescheid vom 28. Oktober 2011, in dem ausgesprochen wurde, dass die Beschwerdeführerin Anspruch auf einen Behindertenpass habe und ihr Grad der Behinderung 50% betrage.
Dagegen richtete sich die Berufung der Beschwerdeführerin, in der sie unter gleichzeitiger Vorlage eines ärztlichen Attests und eines Schreibens eines Arztes für Allgemeinmedizin die Auffassung vertrat, dass ihr Behinderungsgrad deutlich höher als 50% liege.
Unter Bezugnahme auf ein (nicht aktenkundiges) Schreiben vom 14. Dezember 2011 teilte die Beschwerdeführerin der Behörde mit E-Mail vom 4. Jänner 2012 mit, sie werde nicht zu einer weiteren Untersuchung kommen, da "das alles mit Schmerzen verbunden" sei. Zum Hinweis der Behörde auf einen möglichen Hausbesuch des Arztes zwecks Gutachtenserstellung antwortete die Beschwerdeführerin mit E-Mail vom 18. Jänner 2012, sie befinde sich durch das "ewige Hin und Her" in einem schlechten nervlichen Zustand und werde keinen Arzt empfangen.
Daraufhin holte die belangte Behörde die "Stellungnahme" des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. A. vom 24. Jänner 2012 ein, in welcher der Sachverständige das genannte führende Leiden der Beschwerdeführerin mit einem Grad der Behinderung von 30% bewertete und (unter Berücksichtigung des genannten weiteren Leidens) zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 40 v.H. gelangte.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin ab, hob den erstinstanzlichen Bescheid vom 28. Oktober 2011 auf und sprach aus, dass der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin 40% betrage und die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht vorlägen.
In der Begründung verwies sie auf das Sachverständigengutachten des Dr. A., das dieser "aktenmäßig" erstellt habe, weil die Beschwerdeführerin eine Untersuchung in Form eines Hausbesuches abgelehnt habe. Nach diesem Gutachten, das nach Ansicht der belangten Behörde schlüssig und in sich widerspruchsfrei sei, sei im Vergleich zur erstinstanzlichen Beurteilung "insofern eine Änderung eingetreten, als die Sprunggelenkserkrankung um eine Stufe geringer bewertet wurde, woraus ein um eine Stufe geringerer Gesamtgrad der Behinderung resultiert".
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, zu der die belangte Behörde die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Das Bundesbehindertengesetz, BGBl. Nr. 283/1990 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 58/2011 (BBG), lautet auszugsweise:
"BEHINDERTENPASS
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.
(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.
(3) Entspricht ein Behindertenpasswerber oder der Inhaber eines Behindertenpasses ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung nicht, verweigert er eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche ärztliche Untersuchung oder weigert er sich, die zur Durchführung des Verfahrens unerlässlichen Angaben zu machen, ist das Verfahren einzustellen. Er ist nachweislich auf die Folgen seines Verhaltens hinzuweisen.
..."
2. Die Beschwerde bringt gegen den angefochtenen Bescheid vor, dieser stütze sich auf eine bloße ärztliche Stellungnahme vom 24. Jänner 2012, die nicht nachvollziehbar sei, weil in dieser Stellungnahme - ohne dass ihr eine Untersuchung durch den Arzt vorausgegangen wäre - der Grad des führenden Leidens abweichend vom erstinstanzlichen Sachverständigengutachten (dem sehr wohl eine Untersuchung der Beschwerdeführerin zugrunde liege) bewertet werde. Außerdem seien der Stellungnahme vom 24. Jänner 2012 veraltete Befunde aus dem Jahr 2009 zugrunde gelegt worden. Schließlich erfolge in der ärztlichen Stellungnahme vom 24. Jänner 2012 auch keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den von der Beschwerdeführerin mit der Berufung vorgelegten ärztlichen Attesten, wonach die Beschwerdeführerin nicht in der Lage sei, mehr als "100m am Stück" zu gehen.
3.1. Voranzustellen ist, dass die Beschwerdeführerin nach Ausweis der Akten einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, nicht aber einen Antrag auf Vornahme einer Zusatzeintragung betreffend Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in diesen Behindertenpass gestellt hat. Schon deshalb gehen die Beschwerdeausführungen betreffend die 1,6 km Distanz zwischen Wohnort der Beschwerdeführerin und nächstgelegener Bushaltestelle ins Leere (vgl. zu diesem Thema im Übrigen das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Ro 2014/11/0013).
Entscheidungsrelevant ist gemäß § 40 Abs. 1 BBG, ob der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin (die nach ihren Angaben nicht erwerbstätig ist, sodass hier nicht auf den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen ist) mindestens 50% beträgt. Dies hat die Behörde gemäß § 41 Abs. 1 BBG nach der Einschätzungsverordnung unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen.
3.2. Die belangte Behörde hat ihre Entscheidung (insbesondere den Ausspruch über das Fehlen der Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses, was einer Abweisung des Antrages gleichkommt) zu Recht nicht damit begründet, dass die Beschwerdeführerin eine neuerliche ärztliche Untersuchung im Berufungsverfahren verweigert habe. Im Falle der Verweigerung einer unerlässlichen ärztlichen Untersuchung wäre nämlich der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses nicht abzuweisen, sondern gemäß § 41 Abs. 3 BBG das Verfahren einzustellen.
3.3. Vielmehr vertritt die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid - gestützt auf die Stellungnahme des Allgemeinmediziners Dr. A - die Auffassung, das führende Leiden der Beschwerdeführerin ("Sprunggelenks-, Talonaviuclararthrose bds.") sei mit einem Grad der Behinderung von lediglich 30% zu bewerten (was unter Berücksichtigung des weiteren Leidens, das eine Erhöhung um eine Stufe bewirke, einen Gesamtgrad der Behinderung von 40% ergibt).
3.4. Zunächst ist festzuhalten, dass ein erstinstanzlicher Bescheid, mit dem wegen eines entsprechenden Grades der Behinderung ein Behindertenpass erteilt wurde, im Berufungsverfahren gemäß § 66 Abs. 4 AVG auch zu Lasten des Betreffenden abgeändert werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Mai 2010, Zl. 2008/11/0158).
Entscheidend ist daher im Beschwerdefall, ob sich die Rechtsansicht der belangten Behörde, der Beschwerdeführerin stehe kein Behindertenpass zu, weil der Gesamtgrad ihrer Behinderung bloß 40% betrage, auf tragfähige Ermittlungsergebnisse stützen lässt.
Dies ist gegenständlich nicht der Fall:
Das genannte führende Leiden fällt nach den insoweit übereinstimmenden Angaben der beiden Sachverständigen Dr. H. und Dr. A. unter die Positionsnummer 02.05.33 der Einschätzungsverordnung, die Bandbreite des Grades der Behinderung durch dieses Leiden beträgt demnach 30-40%.
Der von der Erstbehörde beigezogene Sachverständige Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 10. August 2011 die Bewertung des führenden Leidens mit 40% auf die von ihm durchgeführte Untersuchung gestützt (die Beweglichkeit beider Sprunggelenke der Beschwerdeführerin sei zum Teil deutlich eingeschränkt und schmerzhaft sowie arthrotisch verdickt), gleichzeitig aber auch ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin eine kurze Wegstrecke (300 bis 400 Meter) aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe zurücklegen könne.
Dem hielt die Beschwerdeführerin in der Berufung ein ärztliches Attest vom 8. November 2011 entgegen, wonach sie nicht in der Lage sei, mehr als "100m am Stück" zu gehen. Träfe dies zu, so würde dies die genannte Bewertung des führenden Leidens mit 40% unterstreichen (eine noch höhere Bewertung dieses Leidens scheidet aufgrund der genannten Bandbreite in der Einschätzungsverordnung aus).
Es ist daher nicht nachvollziehbar, wenn der Sachverständigen Dr. A. - ohne die Beschwerdeführerin untersucht zu haben und ohne sich mit den aktuellen ärztlichen Befunden betreffend die Beschwerdeführerin inhaltlich auseinander zu setzen - in seiner Stellungnahme vom 24. Jänner 2012 zur Bewertung des führenden Leidens der Beschwerdeführerin mit lediglich 30% Behinderungsgrad gelangt. Da in der Stellungnahme vom 24. Jänner 2012 eine nachvollziehbare inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorliegenden ärztlichen Gutachten und Attesten aus dem Jahr 2011 fehlt (statt dessen nimmt diese Stellungnahme "insbesondere" Bezug auf einen nicht vergleichbar aktuellen Befund aus dem Jahr 2009), stellt diese ärztliche Stellungahme keine ausreichende Entscheidungsgrundlage dar.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
4. Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, und betrifft den Schriftsatzaufwand. Das Begehren auf Ersatz der Eingabegebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG war abzuweisen, weil diese Gebühr gemäß § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG nur zu ersetzen ist, wenn sie im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof zu entrichten war, was gegenständlich zufolge § 51 BBG nicht der Fall ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Mai 2012, Zl. 2008/11/0119, mwN).
Wien, am 27. Mai 2014
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