VwGH 2013/21/0054

VwGH2013/21/00542.8.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Landespolizeidirektion Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 9. Februar 2013, Zl. VwSen-401262/3/Gf/Rt, betreffend Schubhaft (weitere Partei:

Bundesministerin für Inneres; mitbeteiligte Partei: A D, derzeit unbekannten Aufenthalts), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrÄG 2011;
FrPolG 2005 §76 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
FrPolG 2005 §76 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76;
FrPolG 2005 §77 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs3 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §81 Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §82 Abs1;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
PersFrSchG 1988 Art1;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
AVG §56;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrÄG 2011;
FrPolG 2005 §76 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
FrPolG 2005 §76 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §76;
FrPolG 2005 §77 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs3 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §81 Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §82 Abs1;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
PersFrSchG 1988 Art1;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, der zunächst behauptete, tunesischer Staatsangehöriger zu sein, wurde nach einem Aufgriff im Gemeindegebiet von U. am 21. Jänner 2013 festgenommen. Über ihn wurde, nachdem er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis (BH) vom selben Tag gemäß § 76 Abs. 2 Z 4 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung und zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

Der Mitbeteiligte erhob mit Schriftsatz vom 6. Februar 2013 eine Beschwerde gemäß § 82 Abs. 1 FPG.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Februar 2013 erklärte der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (UVS) die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit 21. Jänner 2013 für rechtswidrig. Unter einem wurde gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG festgestellt, dass (auch) die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Schließlich wurde der Bund zum Kostenersatz verpflichtet.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde der Landespolizeidirektion Oberösterreich, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens des UVS erwogen hat:

Der belangte UVS ist in Bezug auf die Prüfung des Schubhaftbescheides vom 21. Jänner 2013 und die darauf gegründete Anhaltung des Mitbeteiligten davon ausgegangen, dass der Mitbeteiligte vor seiner Einreise nach Österreich in Bulgarien einen Asylantrag gestellt habe. Daher habe die BH annehmen dürfen, der vom Mitbeteiligten in Österreich gestellte Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz werde gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 wegen der Zuständigkeit Bulgariens zurückgewiesen werden. Demnach sei die BPD "im Grunde" berechtigt gewesen, gegen den Mitbeteiligten Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z 4 FPG anzuordnen. Auch die Annahme der BPD zum Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses erachtete der UVS "zumindest als vertretbar", weil der Mitbeteiligte, der sich "an fremdenpolizeiliche Ordnungsvorschriften offensichtlich kaum gebunden" fühle, über keinen Nachweis für seine Identität verfüge, wobei die diesbezüglichen Angaben zudem während des Asylverfahrens geändert worden seien. Außerdem habe er zu erkennen gegeben, dass er nicht gewillt sei, nach Bulgarien zur weiteren Durchführung des Asylverfahrens oder in seinen Heimatstaat zurückzukehren.

Trotzdem sah der UVS einen Begründungsmangel darin, dass die BH die nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 3. Oktober 2012, G 140/11 u.a., dessen Inhalt im angefochtenen Bescheid näher dargelegt wurde, "primär bzw. absolut" vorrangig gebotene Heranziehung gelinderer Mittel nicht nachvollziehbar verworfen habe. Unter Beachtung der dem genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prioritätensetzung hätte die BH im Schubhaftbescheid darzulegen gehabt, weshalb die Verpflichtung zur Unterkunftnahme in von der Behörde bestimmten Räumen in Verbindung mit einer periodischen (d.h. allenfalls auch mehrfachen) täglichen Meldung bei einem "Polizeikommando" sowie gegebenenfalls auch mit dem Erlag einer angemessenen finanziellen Sicherheitsleistung keinesfalls dazu hingereicht hätte, sicherzustellen, dass der Mitbeteiligte der Behörde zur Durchführung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung zur Verfügung stehe. Aus solchen Gründen, wie sie in Fällen von schlepperunterstützten Asylwerbern typischerweise vorlägen (wie: Nichtfeststehen der Identität; Fehlen von Reisedokumenten, sozialen Bindungen und finanziellen Mitteln; Rückkehrunwilligkeit; etc.), könne hingegen nicht schon per se darauf geschlossen werden, dass diese Umstände stets für die Verhängung von Schubhaft hinreichen; denn bei einer solchen Sichtweise würde die Priorität gelinderer Mittel gerade ins Gegenteil verkehrt.

Da die BH im gegenständlichen Fall nicht in einer nachvollziehbaren Weise - "geschweige denn auch entsprechend belegt" - zu erkennen gegeben habe, dass sie überhaupt die Anordnung gelinderer Mittel (sowie konkret: welche dieser Mittel) in Erwägung gezogen habe, und "davon ausgehend" das Vorliegen einer die unverzügliche Schubhaftanordnung rechtfertigenden "ultima-ratio-Situation" angenommen habe, erweise sich die bisherige Anhaltung des Mitbeteiligten als rechtswidrig. Gleiches gelte - so der UVS abschließend - "auf einer derartigen Basis" auch bezüglich der Voraussetzungen für dessen weitere Anhaltung in Schubhaft.

Von daher gleicht der vorliegende Fall jenem, der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom heutigen Tag, Zl. 2013/21/0008, zugrunde liegt. Mit diesem Erkenntnis hat der Gerichtshof einen weitgehend ähnlich begründeten, ebenfalls mit Amtsbeschwerde bekämpften Bescheid des belangten UVS, in dem - wie hier - unter ausführlicher Bezugnahme auf das erwähnte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 3. Oktober 2012 ein Begründungsmangel hinsichtlich der vorrangig gebotenen Anwendung gelinderer Mittel unterstellt wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG kann auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses - fallbezogen insbesondere auf die Punkte 2.2. und 2.3. sowie 5.3.3. und 5.3.4. -

verwiesen werden.

Am Maßstab dieses Erkenntnisses (siehe v.a. Punkt 5.3.4.) ist auch der gegenständlich zu beurteilende Schubhaftbescheid - entgegen der Meinung des belangten UVS - in Bezug auf die Frage, ob der aus den von der BH ins Treffen geführten Umständen ableitbare Sicherungsbedarf die Verhängung von Schubhaft notwendig gemacht habe und daher mit gelinderen Mitteln nicht das Auslangen habe gefunden werden können, ausreichend begründet.

Zwar hat auch der Verwaltungsgerichtshof - insoweit ist den Ausführungen des UVS im Ergebnis auch zu folgen - zum hier relevanten Schubhaftgrund nach § 76 Abs. 2 Z 4 FPG schon wiederholt klargestellt, dass ungeachtet des Vorliegens des in dieser Bestimmung enthaltenen Tatbestandes die Inhaftierung eines asylsuchenden Fremden nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die (schon) in diesem Verfahrensstadium ein "Untertauchen" befürchten lassen. Für eine solche Befürchtung müssen vor allem aus dem bisherigen Verhalten des Fremden ableitbare spezifische Hinweise bestehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2010, Zl. 2007/21/0523, mwN). In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof ausgehend von dem Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, in ständiger Rechtsprechung judiziert, es könne dem Gesetzgeber vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls nicht zugesonnen werden, er sei davon ausgegangen, alle potenziellen "Dublin-Fälle" seien statt in Grundversorgung in Schubhaft zu nehmen. Der Verwaltungsgerichtshof hat daher bereits mehrfach betont, dass die Verhängung der Schubhaft in "Dublin-Fällen" nicht zu einer "Standardmaßnahme" gegen Asylwerber werden dürfe. Es müssten vielmehr besondere Gesichtspunkte vorliegen, die erkennen ließen, es handle sich um eine von den typischen "Dublin-Fällen" abweichende Konstellation, in der mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf Grund konkreter Anhaltspunkte auf eine drohende Verfahrensvereitelung durch den Fremden geschlossen werden könne (vgl. dazu des Näheren etwa das Erkenntnis vom 8. Juli 2009, Zl. 2007/21/0093, mwN).

Entgegen der Meinung des belangten UVS hat die BH aber im Schubhaftbescheid gerade solche Gesichtspunkte aufgezeigt. So besorgte sich der Mitbeteiligte seinen Angaben zufolge schon für die Ausreise aus Tunesien bloß "alibimäßig" ein griechisches "Arbeitsvisum". In Athen sei er dann ca. einen Monat verblieben, ohne zu arbeiten. Nach einem weiteren Monat in einer unbekannten Stadt sei er im Juni 2012 illegal nach Bulgarien weitergereist, wo er einen Asylantrag gestellt habe. Nach dessen Ablehnung sei der Mitbeteiligte über Serbien nach Kroatien gereist, und zwar mit der Absicht, nach Italien zu gelangen. Von den Schleppern sei er gemeinsam mit drei anderen Fremden in einem Jagdhaus im Grenzbereich zu Deutschland untergebracht und verpflegt worden, wobei er erst am Tag des Aufgriffs durch eine Polizeistreife im Gemeindegebiet von U. Kenntnis davon erlangt habe, dass er sich in Österreich befinde. Erst nach der Festnahme habe der Mitbeteiligte einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das sei auch - nach den festgestellten Eurodac-Daten - in Bulgarien der Fall gewesen. Die BH nahm in der weiteren Begründung auch darauf Bedacht, dass der Mitbeteiligte Anspruch auf Grundversorgung hätte, ging allerdings aufgrund der dargelegten Umstände davon aus, eine solche Unterbringung könnte vom Mitbeteiligten dazu genutzt werden, sofort unterzutauchen und sich entsprechend dem eigentlichen Reiseziel illegal ins Ausland abzusetzen. Vor dem Hintergrund, dass der Mitbeteiligte in Bezug auf Bulgarien, wo sein Asylantrag schon abgewiesen worden sei und von wo er sich "abgesetzt" habe, "total rückkehrunwillig" sei, und angesichts des Aufgriffs auf seiner illegalen Reisebewegung in Richtung Italien oder Deutschland und wegen der Stellung des Asylantrages erst nach diesem Aufgriff lägen - so die BH - "massive Fluchtanreize" vor. Der beschriebenen Fluchtgefahr könne daher verlässlich nur mit Schubhaft begegnet werden; realistische Ansatzpunkte für die Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 77 FPG seien nicht ersichtlich.

Damit wurde aber - wie die Amtsbeschwerde zu Recht geltend macht - im vorliegenden Fall in genügender Weise ein auch in diesem frühen Stadium des Verfahrens auf Gewährung internationalen Schutzes nur durch Schubhaft zu sicherndes überwiegendes öffentliches Interesse an der Verfügbarkeit des Mitbeteiligten dargetan. Unter den erwähnten Umständen musste von der Schubhaftanordnung im Übrigen auch nicht unter Ermessensgesichtspunkten Abstand genommen werden. Davon ausgehend hätte der UVS die auf den Schubhaftbescheid vom 21. Jänner 2013 gegründete Anhaltung des Mitbeteiligten jedenfalls aus den von ihm herangezogenen Gründen nicht als rechtswidrig qualifizieren dürfen.

Der nach § 83 Abs. 4 erster Satz FPG vorzunehmende Fortsetzungsausspruch ist schon deswegen rechtswidrig, weil der belangte UVS diesbezüglich eine eigene inhaltliche Prüfung hätte vornehmen müssen. Auch dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG des Näheren auf das erwähnte hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2013/21/0008, Punkt. 4.2. der Entscheidungsgründe, verwiesen werden. Dabei hätte der UVS - wie die Amtsbeschwerde ebenfalls zu Recht moniert - einbeziehen müssen, dass mittlerweile der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG verwirklicht war und (wie vom UVS auch am Rande erwähnt) dass der Mitbeteiligte bei seiner Vernehmung am 4. Februar 2013 von seinen bisherigen Angaben zur Gänze abweichende Identitätsdaten und eine algerische Staatsangehörigkeit behauptete.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Gleiches gilt für die damit zusammenhängende und im angefochtenen Bescheid auch getroffene Kostenentscheidung.

Wien, am 2. August 2013

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