VwGH 2012/22/0023

VwGH2012/22/00233.10.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des E, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Zell am See vom 11. Jänner 2012, Zl. 6/353-356/1/2-2011, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs10;
VwGG §42 Abs2 Z1;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs10;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 18. Dezember 2003 illegal nach Österreich und begehrte Asyl. Sein Asylantrag wurde in letzter Instanz mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 20. Mai 2011 abgewiesen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer in die Türkei ausgewiesen.

Am 8. Juni 2011 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gemäß § 44 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Dieser ist nach Inkrafttreten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 als Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 10 NAG zu werten.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den genannten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer sei vom 18. Dezember 2003 bis 31. August 2011 in Österreich aufhältig gewesen, wobei die Hälfte des Zeitraumes des festgestellten durchgängigen Aufenthaltes im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt.

Er habe den überwiegenden Teil seines Lebens in der Türkei verbracht und dort seine gesamte Ausbildung absolviert. Im Heimatland lebten noch mehrere Geschwister. Starke Bindungen zum Heimatland seien jedenfalls gegeben und es sei auf Grund der Ausbildung des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass die Chancen, im Heimatland einer Beschäftigung nachgehen zu können, sehr gut seien.

Bereits seit rechtskräftiger erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages mit Wirkung vom 22. März 2004 sei sein Aufenthaltsstatus in Österreich unsicher gewesen. Er habe über sieben Jahre im österreichischen Bundesgebiet verbracht und sei in der Lage gewesen, seinen Aufenthalt überwiegend aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Er habe erst drei Jahre nach seiner illegalen Einreise nach Österreich zu arbeiten begonnen, weshalb sich seine durch seine selbständige Erwerbstätigkeit erzielte Integration am österreichischen Arbeitsmarkt relativiere. Seine Beherrschung der deutschen Sprache stelle zwar ein Indiz für eine Integration dar, jedoch relativiere sich diese Integration durch seine Missachtung fremden- und aufenthaltsrechtlicher Vorschriften.

Der Beschwerdeführer habe am 6. November 2010 die Ehe mit einer syrischen Staatsangehörigen geschlossen, die seit 14. Juli 2010 anerkannter Konventionsflüchtling in Österreich sei. Das Familienleben werde jedenfalls dadurch relativiert, dass es in einem Zeitpunkt entstanden sei, als sich beide Ehepartner des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst gewesen seien. Ihnen sei ein Familienleben in der Türkei zuzumuten. Der Beschwerdeführer sei Mitglied eines kurdischen Vereins und sei kurze Zeit bei einem kurdischen Radiosender in Salzburg tätig gewesen. Da er in Österreich "hauptsächlich die türkische Kultur und Sprache auslebte", sei davon auszugehen, dass die gesellschaftliche Integration in Österreich nicht sehr ausgeprägt sei. Zusammenfassend werde daher festgestellt, dass das Privatleben des Beschwerdeführers zwar in einem gewissen Grad ausgeprägt, aber vor allem auf Grund seiner starken Bindungen zum Heimatstaat nicht so weit fortgeschritten sei, dass ein Fall gemäß § 41a Abs. 10 NAG vorliegen würde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides im Jänner 2012 die Bestimmungen des NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 112/2011 anzuwenden sind.

§ 41a Abs. 10 NAG lautet:

"Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus'

§ 41a. …

(10) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen kann trotz Vorliegen eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 3 oder 5 in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus' erteilt werden, wenn

1. der Drittstaatsangehörige nachweislich seit dem 1. Mai 2004 durchgängig im Bundesgebiet aufhältig ist,

2. mindestens die Hälfte des Zeitraumes des festgestellten durchgängigen Aufenthalts im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen ist und

3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt.

Die Behörde hat dabei den Grad der Integration des Drittstaatsangehörigen, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung und die Art und Dauer der Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Der Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Z 2 bis 4 kann auch durch Vorlage einer Patenschaftserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 18) erbracht werden. Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 und 5 einschließlich fremdenpolizeilicher Maßnahmen hat die Behörde unverzüglich eine begründete Stellungnahme der der zuständigen Fremdenpolizeibehörde übergeordneten Sicherheitsdirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß § 74 und § 73 AVG gehemmt. Ein, einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag (Folgeantrag) ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt."

Die zitierte Bestimmung ermöglicht die Erteilung eines Aufenthaltstitels für besonders berücksichtigungswürdige "Altfälle", wofür solche Fremde in Betracht kommen, die sich zumindest seit 1. Mai 2004 durchgängig in Österreich aufhalten. Wann ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" vorliegt, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Es sieht aber vor, dass die Behörde bei ihrer Beurteilung den Grad der Integration des Fremden, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der deutschen Sprache zu berücksichtigen hat. Diese Bestimmung soll erkennbar vor allem jene Konstellationen erfassen, in denen die Schwelle des Art. 8 EMRK, sodass gemäß den Kriterien des § 11 Abs. 3 NAG ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, noch nicht erreicht wird (vgl. das zur Vorgängerbestimmung des § 44 Abs. 4 NAG ergangene hg. Erkenntnis vom 13. September 2011, Zl. 2011/22/0178).

Diese Rechtslage hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid dadurch verkannt, dass sie in Wahrheit eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK vorgenommen hat. So ist es für die Beurteilung einer inländischen Integration nicht relevant, ob starke Bindungen im Heimatland gegeben sind und dort Chancen auf eine Beschäftigung bestehen. Ebenso kommt es nicht auf einen allfälligen unsicheren Aufenthaltsstatus an. Gleichfalls irrig ist die Annahme, dass sich eine Integration bei der hier vorzunehmenden Beurteilung durch die Missachtung fremden- und aufenthaltsrechtlicher Vorschriften anlässlich der illegalen Einreise "relativiert".

Die Integration des Beschwerdeführers betreffend gesteht die belangte Behörde ihm zu, dass er über gute Deutschkenntnisse verfügt und durch eine bis zuletzt ausgeübte selbständige Tätigkeit am österreichischen Arbeitsmarkt integriert ist. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde fällt es nicht maßgeblich ins Gewicht, ob die berufliche Integration sofort nach der Einreise oder erst nach einiger Zeit stattgefunden hat.

Wird nun berücksichtigt, dass sich der Beschwerdeführer seit Dezember 2003 in Österreich aufhielt und durch die Beherrschung der deutschen Sprache und durch seine Selbsterhaltungsfähigkeit auf Grund einer selbständigen Tätigkeit eine inländische Integration nachweisen konnte, kann der behördlichen Ansicht nicht gefolgt werden, dass hier kein berücksichtigungswürdiger Altfall vorliege.

Letztlich ist nicht nachvollziehbar, dass die Mitgliedschaft in einem Verein zur Aufrechterhaltung der türkischen Kultur und Sprache von vornherein eine gesellschaftliche Integration in Österreich verhindert.

Wegen der aufgezeigten Verkennung der Rechtslage war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 3. Oktober 2013

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