VwGH 2011/23/0195

VwGH2011/23/019521.2.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des DM, vertreten durch Mag. Dr. Ingrid Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 19/1/1/29A, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 20. November 2009, Zl. SD 477/06, betreffend Aufhebung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §65 Abs1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §65 Abs1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der in Wien geborene Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, lebte ab dem Alter von drei Jahren bei seinen Großeltern in Jugoslawien und kehrte im Jahr 1987 mit 14 Jahren zu seinen in Österreich lebenden Eltern zurück. In weiterer Folge erhielt er einen unbefristeten Sichtvermerk.

Mit Urteil des Jugendgerichtshofes Wien vom 13. Juli 1989 wurde er wegen der Vergehen des versuchten Diebstahls, der Hehlerei und der fahrlässigen Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Wochen verurteilt.

Danach erfolgte mit Urteil des Strafbezirksgerichtes Wien vom 22. Juni 1993 eine Verurteilung nach § 16 Abs. 1 Suchtgiftgesetz (SGG) zu einer Geldstrafe.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 5. Dezember 1995 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens nach § 12 Abs. 1 SGG als Beteiligter nach § 12 StGB und des Vergehens nach § 16 Abs. 1 SGG zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten verurteilt, wobei ein Strafteil von sieben Monaten bedingt ausgesprochen wurde. Nach der Urteilsbegründung hatte der Beschwerdeführer im November 1993 begonnen Heroin zu konsumieren und im Zeitraum von Dezember 1994 bis 29. Jänner 1995 pro Woche vier Personen an Suchtgifthändler vermittelt, um seine Sucht finanzieren zu können.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. Jänner 1998 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens nach § 12 Abs. 2 Suchtmittelgesetz (SMG) als Beteiligter nach § 12 StGB und wegen des Vergehens nach § 28 Abs. 1 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt. Er hatte im Sommer 1997 neuerlich zur In-Verkehr-Setzung von Suchtgift beigetragen, indem er eine Person an einen Komplizen vermittelt hatte, der dieser ca. 10 g Heroin verkauft hatte. Überdies hatte der Beschwerdeführer mit seinem Komplizen von Ende Juni 1997 bis 6. Juli 1997 eine große Heroinmenge, nämlich ca. 70 g, mit dem Vorsatz besessen, diese weiterzuverkaufen.

Auf Grund dieser Verurteilungen und des diesen zugrunde liegenden Fehlverhaltens erließ die Bundespolizeidirektion Wien mit Bescheid vom 2. November 1998 gegen den Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Z 1 Fremdengesetz 1997 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Der dagegen vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 11. Mai 1999 keine Folge gegeben. Die diesen Bescheid bekämpfende Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. September 2003, Zl. 99/18/0256, als unbegründet abgewiesen.

In weiterer Folge beantragte der Beschwerdeführer mit dem mit 16. November 2005 datierten - sowohl von der Behörde erster Instanz als auch in der Berufung entsprechend dem Datum der Postaufgabe als "Antrag vom 15.12.2005" bezeichneten - Schriftsatz die Aufhebung des gegen ihn erlassenen Aufenthaltsverbotes. Begründend verwies der Beschwerdeführer auf ein mehr als fünfjähriges Wohlverhalten, eine in Jugoslawien absolvierte Drogentherapie sowie auf seine familiären Bindungen im Bundesgebiet zu seinen Eltern und seinem Bruder, die österreichische Staatsbürger seien. Sein Bruder habe bei einem Verkehrsunfall am 18. Mai 1999 näher genannte Verletzungen erlitten, sodass die gesamte Betreuung des Genannten auf den Eltern und dem Beschwerdeführer laste.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (belangte Behörde) vom 20. November 2009 wurde der Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes abgewiesen.

In ihren Erwägungen hielt die belangte Behörde zunächst fest, dass dem Beschwerdeführer weder die Rechtsstellung eines begünstigten Drittstaatsangehörigen im Sinn des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG noch jene eines Familienangehörigen eines Österreichers im Sinn des § 2 Abs. 4 Z 12 FPG zukomme.

Im Zusammenhang mit der gemäß § 65 Abs. 1 FPG vorgenommenen Beurteilung, ob das Aufenthaltsverbot aufzuheben sei, führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer am 28. Februar 2005 auf Grund eines Haftbefehles des Landesgerichtes für Strafsachen Wien festgenommen und in Untersuchungshaft überstellt worden sei. Am 20. April 2005 habe er angegeben, dass er 1999 in Jugoslawien geheiratet habe, die Ehe inzwischen geschieden worden sei und drei Kinder in Jugoslawien lebten. Am 3. November 2004 sei er nach Österreich eingereist.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10. Mai 2005 - so die belangte Behörde weiter - sei der Beschwerdeführer wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 SMG, des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB, sowie wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer eines Jahres (davon drei Monate unbedingt) rechtskräftig verurteilt worden.

Diesem Urteil sei zu Grunde gelegen, dass der Beschwerdeführer von Anfang Juni bis 17. Juni 1999 zumindest zehnmal Suchtgift, nämlich Heroin bzw. Kokain um jeweils S 200,-- erworben habe. Ferner habe er am 17. Juni 1999 7,3 g Cannabiskraut, am 8. August 1999 eine Kugel Kokain und am 6. Juli 1999 drei Stangen Cannabis besessen. Weiters habe er am 17. Juni 1999 einen Polizeibeamten mit Gewalt an seiner vorläufigen Festnahme zu hindern versucht und diesen Polizeibeamten am Körper verletzt. Darüber hinaus habe er in der Nacht vom 12. Juli auf den 13. Juli 1999 ein Kinderfahrrad gestohlen.

Nach seiner Haftentlassung am 27. Mai 2005 sei mehrfach versucht worden, den Beschwerdeführer auf Grund eines aufrechten Schubhaftbescheides festzunehmen. Laut Auskunft seiner Schwägerin habe sich der Beschwerdeführer in Deutschland bei Bekannten aufgehalten. Schließlich sei der Beschwerdeführer am 2. Juni 2006 festgenommen worden und am 27. Juli 2006 freiwillig aus dem Bundesgebiet ausgereist.

Im Hinblick auf das Gesamt(fehl)verhalten des Beschwerdeführers und den Umstand, dass er trotz des rechtskräftigen Aufenthaltsverbotes nach Österreich eingereist sei und sich illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe, hielt die belangte Behörde die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes im Sinn des § 60 Abs. 1 FPG nach wie vor für gerechtfertigt. Von einem Wohlverhalten nach Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme könne keine Rede sein, zumal der Beschwerdeführer im Juni 1999, somit unmittelbar nach Erlassung des zweitinstanzlichen Aufenthaltsverbotsbescheides vom 11. Mai 1999, erneut einschlägig straffällig geworden sei.

Mit dem Vorbringen, auf Grund des Aufenthaltsverbotes sei ein Zusammenleben des Beschwerdeführers mit seinen Eltern und seinem Bruder im Bundesgebiet nicht möglich, werde keine seit der Erlassung des Aufenthaltsverbotes eingetretene relevante Änderung der Sachlage dargelegt. Die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes sei nach wie vor zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im November 2009 geltende Fassung.

Gemäß § 65 Abs. 1 FPG ist ein Aufenthaltsverbot auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind. Ein darauf abzielender Antrag kann nur dann zum Erfolg führen, wenn sich seit der Erlassung der Maßnahme die dafür maßgebenden Umstände zugunsten des Fremden geändert haben. Da bei der Entscheidung über die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes die Rechtmäßigkeit des Bescheides, mit dem das Aufenthaltsverbot erlassen wurde, nicht mehr überprüft werden kann, ist für den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides über den Aufhebungsantrag lediglich zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes wegen einer Änderung der Umstände zugunsten des Fremden weggefallen sind (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 20. Dezember 2012, Zl. 2011/23/0674, mwN).

Gegen die Gefährdungsprognose wendet der Beschwerdeführer ein, seine Verurteilungen seien lediglich darauf zurückzuführen gewesen, dass er selbst suchtgiftabhängig gewesen sei. Nach Erlassung des Aufenthaltsverbotes habe er jedoch in "Jugoslawien" eine Suchtgifttherapie erfolgreich abgeschlossen. Die belangte Behörde habe trotz der langen Dauer des Berufungsverfahrens keine Feststellungen zum aktuellen Verhalten des Beschwerdeführers getroffen.

Die belangte Behörde begründete ihre Gefährdungsprognose mit dem "Gesamt(fehl)verhalten" des Beschwerdeführers, seiner trotz des rechtskräftigen Aufenthaltsverbotes erfolgten illegalen Einreise und dem "seit der Begehung der letzten Straftat" verstrichenen, noch zu kurzen Zeitraum.

Dabei hat sie jedoch das Vorliegen eines nach den getroffenen Feststellungen bereits mehr als zehnjährigen strafgerichtlichen Wohlverhaltens des Beschwerdeführers - auch die der Verurteilung vom 10. Mai 2005 zugrunde liegenden Straftaten waren bereits im Sommer 1999 begangen worden - nicht erkennbar berücksichtigt. Ferner hat sie sich weder mit der im Akt aufliegenden beglaubigten Übersetzung eines Berichtes des Neuropsychiatrischen Spezialkrankenhauses Vrsac vom 17. März 2005 über den Verlauf der Behandlung des Beschwerdeführers noch mit seinem im Aufhebungsantrag vom 16. November 2005 erstatteten Vorbringen, in "Jugoslawien" eine Drogentherapie "absolviert" zu haben, auseinandergesetzt. Angesichts des erwähnten Vorbringens und der Dauer des Berufungsverfahrens von ca. drei Jahren und sieben Monaten hätte sie - wie die Beschwerde zu Recht moniert - dem Beschwerdeführer aber vor allem Gelegenheit geben müssen, unter anderem für die Gefährdungsprognose maßgebliche Änderungen seiner aktuellen Situation vorzutragen (vgl. in diesem Sinne das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2011/23/0640, mwN). Da die belangte Behörde dieser Verpflichtung nicht entsprochen hat, war dem Beschwerdeführer sein in der Beschwerde erstattetes Vorbringen, eine Suchtgifttherapie "erfolgreich abgeschlossen" zu haben, nicht verwehrt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die belangte Behörde bei Berücksichtigung der dargelegten, gegenüber der Erlassung des Aufenthaltsverbotsbescheides eingetretenen Änderungen insgesamt zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Die belangte Behörde hat den angefochtenen Bescheid daher mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weshalb der Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 21. Februar 2013

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte