VwGH 2011/21/0250

VwGH2011/21/025019.3.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich (nunmehr: Landespolizeidirektion Niederösterreich) gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 20. Oktober 2011, Zl. Senat-FR-11-0104, betreffend Festnahme und Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres; mitbeteiligte Partei: S K, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005 §2 Abs1 Z14;
AVG §59 Abs1 impl;
FrPolG 2005 §1 Abs2;
FrPolG 2005 §39 Abs1 Z1 impl;
FrPolG 2005 §39 Abs3;
FrPolG 2005 §76 Abs1 impl;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z3;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
FrPolG 2005 §76;
VwRallg;
32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005 §2 Abs1 Z14;
AVG §59 Abs1 impl;
FrPolG 2005 §1 Abs2;
FrPolG 2005 §39 Abs1 Z1 impl;
FrPolG 2005 §39 Abs3;
FrPolG 2005 §76 Abs1 impl;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z3;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
FrPolG 2005 §76;
VwRallg;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Aufwandersatzbegehren der belangten Behörde wird abgewiesen.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein georgischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner illegalen Einreise am 18. Juli 2003 einen (ersten) Asylantrag, der im Instanzenzug vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 31. Oktober 2008 rechtskräftig abgewiesen wurde. Zwei Folgeanträge vom 6. Mai 2009 bzw. vom 8. Februar 2011 wurden einerseits mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17. Mai 2009 und andererseits im Instanzenzug mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4. März 2011 rechtskräftig wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, wobei unter einem jeweils Ausweisungen des Mitbeteiligten nach Georgien verfügt wurden. Im Hinblick darauf gilt ein gegen den Mitbeteiligten wegen mehrerer strafgerichtlicher Verurteilungen erlassenes Rückkehrverbot vom 26. Februar 2008 als Aufenthaltsverbot.

Im Juni 2011 begab sich der Mitbeteiligte in die Schweiz, wo er ebenfalls einen Asylantrag stellte. Von dort wurde er am 20. September 2011 nach Zustimmung des Bundesasylamtes zur Wiederaufnahme gemäß der Dublin II-Verordnung nach Österreich rücküberstellt und am Flughafen Wien-Schwechat gemäß § 39 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG festgenommen. Danach wurde über den Mitbeteiligten von der Bundespolizeidirektion Schwechat gemäß § 76 Abs. 1 FPG (iVm § 57 Abs. 1 AVG) die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung verhängt, die im Polizeianhaltezentrum in Wien vollzogen wurde. Im Zuge seiner Vernehmung am 21. September 2011 erklärte der Mitbeteiligte, der (in der Schweiz gestellte) Asylantrag möge als in Österreich neuerlich eingebracht gelten. Daraufhin wurde ihm mitgeteilt, dass die Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z 3 FPG fortgesetzt werde, was auch in einem Amtsvermerk vom selben Tag festgehalten wurde.

Einer dagegen erhobenen Administrativbeschwerde vom 14. Oktober 2011 gab der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (die belangte Behörde) mit Bescheid vom 20. Oktober 2011 gemäß § 83 FPG Folge und stellte fest, dass die Festnahme des Mitbeteiligten, der Schubhaftbescheid vom 20. September 2011 und seine Anhaltung "ab Beginn" rechtswidrig gewesen seien (Spruchpunkt I.). Zugleich stellte die belangte Behörde gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die Voraussetzungen für die "Fortsetzung der Schubhaft gemäß § 76 Abs. 1 FPG" nicht vorlägen (Spruchpunkt II.). Schließlich wurde der Bund zum Kostenersatz verpflichtet (Spruchpunkt III.).

Diese Entscheidung wurde zusammengefasst damit begründet, dass der Mitbeteiligte nach Auffassung der belangten Behörde im Hinblick auf den in der Schweiz gestellten, materiell noch nicht erledigten Asylantrag bei seiner Rücküberstellung nach Österreich als Asylwerber anzusehen gewesen wäre, auf den § 76 Abs. 1 FPG nicht anzuwenden sei. Die darauf gestützte Schubhaftverhängung und Anhaltung sowie die auf § 39 Abs. 1 Z 1 FPG gegründete Festnahme seien somit rechtswidrig. Die Voraussetzungen für die weitere Aufrechterhaltung der Schubhaft, gestützt auf § 76 Abs. 1 FPG, könnten daher auch nicht vorliegen.

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich (nunmehr: Landespolizeidirektion Niederösterreich), über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften seitens der belangten Behörde und des Mitbeteiligten erwogen hat:

Gemäß § 1 Abs. 2 erster Satz FPG ist § 76 Abs. 1 FPG auf Asylwerber nicht anzuwenden. Nach der Begriffsbestimmung des § 2 Abs. 1 Z 14 AsylG 2005 ist "Asylwerber" ein Fremder ab Einbringung eines Antrags auf internationalen Schutz bis zur Verfahrensbeendigung (rechtskräftiger Abschluss, Einstellung oder Gegenstandslosigkeit des Verfahrens). Gegen Asylwerber und - wie der Ausschussbericht (1055 BlgNR 22. GP 5) klarstellend bemerkt - auch gegen Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz erst gestellt (also noch nicht eingebracht) haben, kommt Schubhaft nur unter den Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 oder Abs. 2a FPG in Betracht. Nach § 76 Abs. 1 FPG kann die Schubhaft somit nur gegen Fremde angeordnet werden, wenn sie (noch) keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben oder wenn deren Asylverfahren beendet ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2010, Zl. 2008/21/0349, mit weiteren Hinweisen).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens strittige Frage, ob der Mitbeteiligte im Zeitpunkt der Festnahme und der Schubhaftverhängung wegen des in der Schweiz gestellten, noch nicht inhaltlich geprüften Asylantrages als "Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat", zu qualifizieren war oder nicht.

Mit diesem Thema hat sich der Verwaltungsgerichtshof in dem (insoweit) eine vergleichbare Konstellation betreffenden Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2011/21/0128, ausführlich auseinandergesetzt und er ist dabei vor dem Hintergrund der unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der Dublin II-Verordnung zu dem Ergebnis gelangt, dass der in einem anderen Mitgliedstaat gestellte Asylantrag auch als in Österreich gestellt anzusehen ist, wenn sich die Republik Österreich im Hinblick auf die ihr nach der genannten Verordnung zukommende Zuständigkeit zur (Wieder-)Aufnahme des Fremden bereit erklärt hat. Ein unter diesen Bedingungen aus dem anderen Mitgliedstaat nach Österreich (rück-)überstellter Fremder darf daher nicht gemäß § 76 Abs. 1 FPG in Schubhaft genommen, aber auch nicht gemäß § 39 Abs. 1 Z 1 FPG festgenommen werden. Im Einzelnen kann dazu gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidungsgründe des genannten Erkenntnisses verwiesen werden.

Die dort angestellten Überlegungen gelten im Hinblick auf das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (ABl. 2008/L 53/5) nicht nur für Asylanträge, die in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurden, sondern auch für - wie hier - in der Schweiz gestellte Asylanträge.

Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die im angefochtenen Bescheid von der belangten Behörde vertretene Meinung der Rechtslage entspricht. Der Mitbeteiligte hätte als Fremder, der (in der Schweiz) einen Asylantrag gestellt hat und der in Anwendung der Dublin II-Verordnung mit Zustimmung Österreichs zur Wiederaufnahme rücküberstellt wurde, nicht gemäß § 39 Abs. 1 Z 1 FPG festgenommen und nicht gemäß § 76 Abs. 1 FPG in Schubhaft genommen werden dürfen. Die Festnahme des Mitbeteiligten wäre in dieser Situation nur nach § 39 Abs. 3 FPG und eine Schubhaftanordnung nur nach § 76 Abs. 2 oder Abs. 2a FPG (fallbezogen: nach § 76 Abs. 2 Z 3 FPG) in Betracht gekommen. Die eine gegenteilige Position vertretende Amtsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet.

An dieser Beurteilung ändert auch nichts, dass die Schubhaft ab 21. September 2011 auf den Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 3 FPG gestützt wurde, weil ein einmal rechtswidriger Schubhaftbescheid nicht - quasi partiell für einen "Teilzeitraum" - konvalidieren kann, zumal dies im Ergebnis einer im Gesetz insoweit nicht vorgesehenen Schubhaftverhängung "auf Vorrat" gleichkommen würde. War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die gesamte Zeit der auf ihn gestützten Anhaltung gelten. Zu einer "Heilung" hätte es nur durch einen neuen Schubhafttitel kommen können (vgl. aus der letzten Zeit das hg. Erkenntnis vom 28. August 2012, Zl. 2010/21/0388, mit weiteren Nachweisen).

Die vorliegende Amtsbeschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. März 2013

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