VwGH 2010/11/0040

VwGH2010/11/004024.7.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des J I in W, vertreten durch Dr. Romana Zeh-Gindl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5/10, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 17. November 2009, Zl. 41.550/297-9/09, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses, zu Recht erkannt:

Normen

BBG 1990 §41 Abs1;
BEinstG §14 Abs2;
KOVG 1957 §7;
KOVG 1957 §9 Abs1;
BBG 1990 §41 Abs1;
BEinstG §14 Abs2;
KOVG 1957 §7;
KOVG 1957 §9 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom 17. November 2009 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen und festgestellt, dass der Grad seiner Behinderung 30% betrage.

Dieser Entscheidung wurden ärztliche Sachverständigengutachten eines Facharztes für HNO-Heilkunde, einer Fachärztin für Augenheilkunde, einer Fachärztin für Neurologie und eines Allgemeinmediziners zugrunde gelegt. Wiedergegeben wird das abschließende Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. L., der angefochtene Bescheid lautet diesbezüglich wie folgt:

"In den von der Bundesberufungskommission eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten (…) wird Folgendes festgestellt:

Lfd.

Nr.

Art der Gesundheitsschädigung

Position in den Richtsätzen

Grad der Behinderung

1.

Insulinpflichtiger Diabetes mellitus

Eine Stufe über dem unteren Rahmensatz, da weitere relevante Folgeerkrankungen (Ausnahme Augen: siehe separate Einschätzung) nicht dokumentiert sind

383

30 vH

2.

Depressives Syndrom, Somatisierungstendenz

Zwei Stufen über dem unteren Rahmensatz, da unter medikamentöser Therapie und therapeutischer Betreuung. Kein stationärer Aufenthalt an einer fachspezifischen Abteilung in der Anamnese

g. Z. 585

20 vH

3.

Diabetische Augenhintergrundveränderung beidseits sowie chronische Bindehautentzündung links nach Verätzung mit Sehminderung links auf 1/2 bei gutem Sehvermögen rechts (> 2/3) und konzentrischer Gesichtsfeldeinengung.

Oberer Rahmensatz, da Sehminderung links auf 1/2 und chronische Bindehautentzündung

629

Tab: Sp.1, Z.3

20 vH

4.

Carpaltunnelsyndrom rechts- Gebrauchsarm

Fixer Richtsatz.

476

20 vH

5.

Hypertonie

Unterer Rahmenersatz, weil relevante Folgeerkrankungen nicht dokumentiert sind

323

20 vH

6.

Hochtonschwerhörigkeit beidseits

Oberer Rahmensatz, da Tinnitus.

643

Tab: Sp.1, Z.2

20 vH

7.

Carpaltunnelsyndrom links - Gegenarm

Fixer Richtsatz:

476

10 vH

8.

Degenerative Veränderung der Wirbelsäule

Oberer Rahmensatz dieser Position, da typische Symptomatik und sehr geringfügige Funktionseinschränkungen.

g. Z. 182

10 vH

Gesamt

30 vH

Die Gesamtminderung der Behinderung beträgt 30 vH weil die führende Position 1 bei Überlagerung mit Leiden 3 durch die Leiden 2, sowie 4 bis 8 wegen fehlender relevanter ungünstiger wechselseitiger Leidensbeeinflussung nicht weiter erhöht wird. Die Leiden 2 sowie 4-8 sind auch in funktioneller Hinsicht nicht geeignet, Leiden 1 weiter zu erhöhen.

Die eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten vom 16.4.2009 und die medizinische Stellungnahme vom 7.10.2009 sind schlüssig, nachvollziehbar und weisen keine Widersprüche auf. Es wurde auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf dem im Rahmen persönlicher Untersuchungen erhobenen klinischen Befund, entsprechen den festgestellten Funktionseinschränkungen.

Die im Rahmen des Parteiengehörs vorgelegten Befunde stehen nicht im Widerspruch zu den getroffenen Feststellungen und war der Einwand nicht geeignet, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu entkräften oder eine Erweiterung der Beweisaufnahme herbeizuführen. Die Angaben des Berufungswerbers konnten nicht über den erstellten Befund hinaus objektiviert werden.

Die Sachverständigengutachten und die Stellungnahme werden daher in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt."

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

1. Die gegenständlich maßgeblichen Rechtsvorschriften des Bundesbehindertengesetzes (BBG) in der für den Beschwerdefall maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 109/2008 lauten auszugsweise:

"BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Bestimmungen keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

  1. 3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt."
  2. 2. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Einschätzung des Grades seiner Behinderung.

2.2. Die Einschätzung des Grades der Behinderung nach dem Bundesbehindertengesetz hat sich gemäß dessen § 41 Abs. 1 nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, zu richten. Nachdem die Einschätzung des Grades der Behinderung nach § 14 Abs. 2 des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG) bis zum Inkrafttreten einer Verordnung gem. Abs. 3 leg. cit. ebenso nach den §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes zu erfolgen hatte (vgl. diesbezüglich etwa das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2011, Zl. 2010/11/0136, mwN), ist die diesbezüglich ergangene Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch für die Einschätzung des Grades der Behinderung nach dem Bundesbehindertengesetz anwendbar.

2.3. Nach dieser Judikatur hat die Gesamteinschätzung mehrerer Leidenszustände nicht im Wege der Addition der aus den Richtsatzpositionen der auf Grund des § 7 Abs. 2 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 ergangenen Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 9. Juni 1965, BGBl. Nr. 150, über die Richtsätze für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach den Vorschriften des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, sich ergebenden Hundertsätzen zu erfolgen. Vielmehr ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht, und dann zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt ist, wobei die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund zu stehen haben (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 22. Jänner 2013, Zl. 2011/11/0209, und vom 21. Februar 2012, Zl. 2009/11/0058, je mwN).

2.4. Dazu bringt er Beschwerdeführer unter anderem vor, dass die gegenseitige Leidensbeeinflussung in den ärztlichen Gutachten nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Schwerhörigkeit, teilweise Blindheit und insulinpflichtiger Diabetes mellitus könnten in Summe nicht bloß zu einer Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. führen. Alleine das Leiden des Diabetes mellitus mache eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30% aus, gerade Blindheit und Taubheit würden eine zusätzliche massive Gesundheitsbeeinträchtigung darstellen, welche über den Diabetes mellitus und die dadurch verursachte Beeinträchtigung weit hinausgehe.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:

2.5. Das abschließende Sachverständigengutachten des Allgemeinmediziners Dr. L., auf welches die belangte Behörde ihre Entscheidung maßgeblich stützt, ordnet das Leiden "insulinpflichtiger Diabetes mellitus" in Position 383 in den Richtsätzen ein (Rahmensatz: 20 40 v.H.) und bewertetet die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 30 v.H., "da weitere relevante Folgeerkrankungen (Ausnahme Augen: siehe separate Einschätzung) nicht dokumentiert sind". Damit bringt der Sachverständige die Ansicht zum Ausdruck, das Augenleiden des Beschwerdeführers "diabetische Augenhintergrundveränderung beidseits" sei eine relevante Folgeerkrankung des Hauptleidens. Wieso aber diese relevante Folgeerkrankung, die ihrerseits mit einem Grad der Behinderung von 20 v.H. eingeschätzt wird, im Zusammenwirken mit dem Hauptleiden zu keiner höheren Einschätzung des Hauptleidens führt, wird vom medizinischen Sachverständigen nicht erläutert.

Ebenso bleibt unklar, weshalb die zusätzlich zum Hauptleiden und der Folgeerkrankung festgestellten körperlichen Leiden der Sehkraftverminderung und konzentrischen Gesichtsfeldeinengung auf beiden Augen, Hörprobleme (Hochtonschwerhörigkeit, Tinnitus) sowie Bewegungseinschränkungen der Hände (Carpaltunnelsyndrom) und der Wirbelsäule (degenerative Veränderung der Wirbelsäule) keine Erhöhung der Gesamteinschätzung bewirken.

Die diesbezüglichen, eingangs wiedergegebenen, von der belangten Behörde übernommenen formelhaften Ausführungen des Gutachters können keine schlüssige und nachvollziehbare Begründung dafür bieten. Entgegen der Annahme des medizinischen Sachverständigen kommt es nämlich auch nicht auf eine Erhöhung des Hauptleidens durch weitere "Nebenleiden" an, sondern - wie der wiedergegebenen Judikatur zu entnehmen ist - auf die Frage, ob durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere (Gesamt-)Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen ist.

3. Die belangte Behörde hat es somit verabsäumt, ihre Einschätzung des Grades der Behinderung des Beschwerdeführers nachvollziehbar zu begründen. Der angefochtene Bescheid erweist sich demnach als mit einem relevanten Verfahrensmangel behaftet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben war.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 24. Juli 2013

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