VwGH 2008/21/0257

VwGH2008/21/025714.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des E, vertreten durch Dr. Gerold Hirn und Dr. Burkhard Hirn, Rechtsanwälte in 6800 Feldkirch, Gilmstraße 2, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 27. Februar 2008, Zl. 147.297/5-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
NAG 2005 §47 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
NAG 2005 §47 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1982 geborene Beschwerdeführer ist ein türkischer Staatsangehöriger, der am 14. November 2005 eine österreichische Staatsbürgerin heiratete. Im Hinblick auf diese Ehe stellte er am 9. Februar 2006 einen in der Folge rechtskräftig abgewiesenen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger". Am 17. Juli 2007 brachte der Beschwerdeführer über das Österreichische Generalkonsulat in Istanbul einen weiteren Erstantrag auf Erteilung dieses Aufenthaltstitels ein.

Diesen Antrag wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 27. Februar 2008 gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG ab.

In der Begründung führte die belangte Behörde nach zusammengefasster Darstellung des bisherigen Verwaltungsgeschehens aus, der Beschwerdeführer habe den neuerlichen Antrag insbesondere darauf gestützt, dass drei seiner in der Türkei erfolgten gerichtlichen Verurteilungen zwischenzeitig in dem vorgelegten türkischen Führungszeugnis nicht mehr aufschienen und somit getilgt seien. Die in einem weiteren Urteil verhängte Haftstrafe sei in eine bedingte Geldstrafe umgewandelt worden und scheine im Strafregister der Türkei nunmehr auch nicht mehr auf.

Im Anschluss an die Wiedergabe des Inhalts der im Spruch genannten Bestimmungen erwiderte die belangte Behörde dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wenngleich seine Verurteilungen nach türkischem Recht getilgt schienen, so bleibe die Tatsache, dass der Beschwerdeführer mit Urteil des 4. Strafgerichtes Kocaeli vom 28. November 2002, Zl. 2002/877, zu einer Gefängnisstrafe von 11 Monaten und 7 Tagen verurteilt worden sei, weil er jemanden mit einer Waffe verletzt habe. Dass diese Haftstrafe zunächst in eine bedingte Geldstrafe umgewandelt worden und zwischenzeitig gänzlich getilgt sei, ändere nichts an der Ansicht der belangten Behörde, durch den Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich wäre die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet. Insbesondere sei dabei die Schwere dieses Vergehens zu beachten. Hinzu komme, dass nach dem österreichischen Tilgungsgesetz eine Löschung der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten - schließlich sei er im März 2002 wegen vollendeten Mordversuches zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden - zumindest nicht nach so kurzer Zeit möglich gewesen wäre. Aus diesen Gründen könne dem Beschwerdeführer keine "Niederlassungsbewilligung" erteilt werden.

In der weiteren Bescheidbegründung nahm die belangte Behörde dann noch eine Abwägung des persönlichen Interesses des Beschwerdeführers an einem Aufenthalt in Österreich mit dem öffentlichen Interesse an der Verhinderung "von möglicherweise weiteren strafbaren Handlungen" vor, wobei sie Letzteres im Hinblick auf die durch das "gesetzte Delikt" deutlich gezeigte Gewaltbereitschaft als "besonders schwer" gewichtete.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer begehrt die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" nach § 47 Abs. 2 NAG, wofür unter anderem die Erfüllung der Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG erforderlich ist. Gemäß der dort enthaltenen Bestimmung des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Das bezieht sich auf § 11 Abs. 4 Z 1 NAG, wonach der Aufenthalt eines Fremden u.a. dann dem öffentlichen Interesse widerstreitet, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden. Dabei hat die Behörde im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt auf das diesen zu Grunde liegende Fehlverhalten eine Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abstellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. aus der letzten Zeit etwa das Erkenntnis vom 27. September 2010, Zl. 2009/22/0044; siehe auch das ebenfalls Verurteilungen in der Türkei betreffende Erkenntnis vom 15. April 2010, Zl. 2008/22/0005, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes; vgl. noch zu ähnlichen Gefährdungsprognosen bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zuletzt das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2008/21/0183).

Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass die wiedergegebenen Feststellungen zu den Verurteilungen des Beschwerdeführers den genannten Anforderungen in keiner Weise genügen und dass die von der belangten Behörde "unter Beachtung der Schwere dieses Vergehens" trotz der angenommenen Tilgung unterstellte aktuelle Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie demzufolge auch die vorgenommene Interessenabwägung nicht nachvollziehbar begründet wurden. Diese Begründungsmängel werden auch in der Beschwerde, in der in diesem Zusammenhang (u.a.) auf das Wohlverhalten des Beschwerdeführers seit zumindest fünf Jahren hingewiesen wird, zutreffend gerügt. Soweit die belangte Behörde auch mit der Verurteilung im März 2002 wegen "vollendeten Mordversuches" argumentiert, hätte sie im Übrigen nicht ausblenden dürfen, dass dies nach der Aktenlage nur zur Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten geführt hatte.

Der angefochtene Bescheid war daher angesichts der aufgezeigten Feststellungsmängel gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 14. April 2011

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