VwGH 2008/21/0080

VwGH2008/21/00805.7.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des S, vertreten durch Mag. Gerald Göllner, Rechtsanwalt in 1190 Wien, Sickenberggasse 10, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 19. November 2007, Zl. Senat-FR-07-1066, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer, einem mazedonischen Staatsangehörigen, eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ab und stellte unter einem gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am 7. Oktober 2007 mit Hilfe eines Schleppers aus Ungarn illegal in Österreich eingereist und habe am gleichen Tag um Asyl angesucht. Ungarn als Mitglied der EU und Unterzeichner des "Dublin-II-Abkommens" habe der Rückübernahme des Beschwerdeführers zugestimmt, der daraufhin am 9. November 2007 in Traiskirchen durch Exekutivorgane festgenommen worden sei. Am gleichen Tag sei über ihn die Schubhaft verhängt worden.

Beginnend von der illegalen Einreise nach Österreich bis zur Verhängung der Schubhaft sei der Beschwerdeführer in der Betreuungsstelle Traiskirchen wohnhaft gewesen. Er könne seine Identität nicht nachweisen, verfüge über keine Reisedokumente, habe in seinem Heimatland lediglich von Gelegenheitsarbeiten gelebt und Unterstützung durch Kriegskameraden im Kosovo erhalten. In Österreich bestreite er seinen Lebensunterhalt aus der Grundversorgung. Er habe kein Einkommen, seine Schulausbildung umfasse acht Jahre Volksschule, es liege kein erlernter oder ausgeübter Beruf vor; er verfüge über keine Kenntnisse des österreichischen Arbeitsmarktes, könne keinen potentiellen Arbeitgeber nennen, habe keine Wohnmöglichkeit in Österreich, verfüge über keine Arbeitserlaubnis oder Aufenthaltstitel, sei unbescholten, habe keine Familienangehörigen in Österreich, mit der angeblich in Frankreich lebenden Schwester habe er keinen Kontakt. Er habe nie um ein Einreisevisum für Österreich oder andere EU-Staaten angesucht. Er sei und fühle sich gesund.

In rechtlicher Hinsicht sei festzuhalten, dass die Behörden in allen Fällen des § 76 Abs. 2 FPG unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet seien, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Im Ergebnis bedeute das, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG gestützt werde, stets nur ultima ratio sein dürfe.

Es sei somit zu prüfen, ob bei einer Ausweisung bzw. Verhängung der Schubhaft das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Auszuweisenden verletzt werde. Der EGMR habe fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten seien und dazu führen könnten, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegenstehe. In der Folge verneinte die belangte Behörde mit näherer Begründung, dass unter Bedachtnahme auf diese Kriterien Umstände vorlägen, die einer Ausweisung des Beschwerdeführers entgegenstünden.

Da auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung eine Abschiebung bedingten, sei grundsätzlich die Verhängung der Schubhaft rechtlich zu bejahen, insbesondere deshalb, weil es sich beim Beschwerdeführer offenbar um einen reinen Wirtschaftsflüchtling handle, der weder konkret angebe noch glaubhaft machen könne, bei der Rückkehr in sein Heimatland irgendwelchen Repressionen oder menschenrechtswidrigen Verfolgungen ausgesetzt zu sein.

Die in der Schubhaftbeschwerde vorgebrachten gesundheitlichen Probleme seien nicht glaubhaft und lediglich als reine Schutzbehauptung zu qualifizieren.

Angesichts der an der Grenze zur Beleidigung liegenden Schreibweise in der Schubhaftbeschwerde könne sich die belangte Behörde "ein Bild darüber machen, dass der Beschwerdeführer bzw. sein ausgewiesener Vertreter offenbar der geltenden Rechtsordnung, hinsichtlich des Fremdenrechts und der geübten behördlichen Praxis offenbar in vielen Punkten ablehnend gegenübersteht, ist dies bezeichnend für deren Rechtsverständnis".

Gerade der Umstand, dass dem Beschwerdeführer klar sein müsse, dass bei abschlägiger Entscheidung seines Asylantrages eine Rückführung außerhalb des österreichischen Bundesgebietes erfolgen werde, sei "in Verbindung mit seinem geschilderten Lebenslauf, dieser Fremde offenbar doch in wesentlichen Maße in die Kämpfe und Unruhen der Balkanstaaten verwirklicht war, ein lebensnahes Indiz in Zusammenschau mit den obigen Ausführungen", dass der Beschwerdeführer in die Anonymität untertauchen würde.

Der Beschwerdeführer verfüge auch über keinerlei "verwandtschaftliche familiäre oder auch freundschaftliche Bindungen zu in Österreich lebenden Familienmitgliedern".

Es sei dem Beschwerdeführer bewusst, dass er mit seiner Absicht, in Österreich einen Aufenthaltstitel zu erlangen, nicht durchdringen werde. In Kenntnis dieses Umstandes sowie der ihm gegenüber geäußerten Absicht der Behörde, ihn in ein sicheres Drittland rückzuschieben, sei ihm sehr wohl bewusst, dass ein Aufenthaltstitel in Österreich nicht zu erlangen sein werde und sohin "offenbar, subjektiv gesehen, ein Untertauchen in die Anonymität und illegaler Aufenthalt eine erstrebenwerte Alternative zu der von ihm befürchteten Außerlandesbringung" darstelle.

Im Hinblick auf die durchgeführte Prüfung der individuellen persönlichen Umstände und die daraus gezogenen lebensnahen Schlussfolgerungen sei in einem erhöhten Grad ein Untertauchen des Beschwerdeführers zu befürchten. Da - wie ausgeführt - eine rechtskonforme, auf der Intention des VfGH und der EMRK beruhende Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt worden sei, sei die Verhängung der Schubhaft rechtskonform, deren Aufrechterhaltung berechtigt, weil maßgebliche Gründe dafür vorlägen, und schlössen diese Umstände sowie das Ergebnis der individualisierten Prüfung die Anwendung gelinderer Mittel aus.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass dem angefochtenen Bescheid die Rechtsgrundlage für die Schubhaft nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist. Der Schubhaftbescheid der Bezirkshauptmannschaft Baden stützte sich allerdings ausdrücklich auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG.

Dieser Tatbestand war zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung infolge der - den Verwaltungsakten zu entnehmenden - Einleitung des Ausweisungsverfahrens erfüllt; in weiterer Folge war auf Grund der mit einer Ausweisung verbundenen Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz der Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllt.

Ungeachtet des Vorliegens dieser Tatbestände ist der belangten Behörde vorzuwerfen, dass sie bei Prüfung des Schubhaftgrundes nicht ausreichend berücksichtigt hat, dass die Anhaltung eines Asylwerbers in Schubhaft nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die im jeweiligen Asylverfahrensstadium ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen; auch dann, wenn die Schubhaft sich auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG stützt, darf sie stets nur ultima ratio sein (vgl. ausführlich das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043).

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach betont, dass die Verhängung der Schubhaft auch in "Dublinfällen" nicht zu einer "Standardmaßnahme" gegen Asylwerber werden darf (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom 30. April 2009, Zl. 2006/21/0344). Besondere Gesichtspunkte, die erkennen ließen, es handle sich hier um eine von den typischen "Dublinfällen" abweichende Konstellation, in der mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf Grund konkreter Anhaltspunkte auf eine drohende Verfahrensvereitelung durch den Beschwerdeführer geschlossen hätte werden können, sind dem angefochtenen Bescheid aber nicht zu entnehmen. Die belangte Behörde weist in diesem Zusammenhang auf die unrechtmäßige Einreise und das Fehlen eines Reisedokuments hin. Dabei handelt es sich allerdings um keine Umstände, die den gegenständlichen Fall gegenüber sonstigen typischen "Dublinfällen" auszeichnen würden und die Notwendigkeit der Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft darlegen könnten. Dies gilt auch für den Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Identität nicht habe nachweisen können. Dass der Beschwerdeführer zu seiner Identität falsche Angaben gemacht hätte, um allfällige fremdenpolizeiliche Maßnahmen zu vereiteln, oder auf Grund bestimmter Umstände konkrete Zweifel an der Richtigkeit seiner Angaben hervorgekommen wären, ist weder dem angefochtenen Bescheid zu entnehmen noch ergibt sich solches aus den vorgelegten Verwaltungsakten.

Wenn die belangte Behörde darauf abstellt, angesichts der dem Beschwerdeführer gegenüber geäußerten Absicht, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen und ihn nach Ungarn rückzuüberstellen, seien ein Untertauchen in die Anonymität und ein illegaler Aufenthalt aus seiner subjektiven Sicht eine "erstrebenwerte Alternative" zu der von ihm befürchteten Außerlandesbringung, so trifft es zwar zu, dass mit dem Fortschreiten der einzelnen Phasen des Asylverfahrens sich aus der Sicht des Asylwerbers die Wahrscheinlichkeit verdichtet, dass das Verfahren über seinen Antrag auf internationalen Schutz negativ beendet, er ausgewiesen und letztlich abgeschoben werden könnte, sodass bei typisierender Betrachtung davon ausgegangen werden kann, dass die hier maßgebliche Gefahr eines Untertauchens des Fremden umso größer wird, je mehr sich das Asylverfahren dem Ende nähert. In einem späteren Stadium des Asylverfahrens, insbesondere nach Vorliegen einer durchsetzbaren Ausweisung, können daher unter Umständen auch weniger ausgeprägte Hinweise auf eine Vereitelung oder Erschwerung der Aufenthaltsbeendigung für die Annahme eines Sicherungsbedarfs genügen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 25. März 2010, Zl. 2008/21/0617). In keinem Fall kann aber die von Verfassungs wegen gebotene Einzelfallprüfung durch bloß allgemeine Überlegungen und Erfahrungswerte, wie sie die belangte Behörde im vorliegenden Fall fast ausschließlich ins Treffen führt, ersetzt werden (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 18. Februar 2009, Zl. 2006/21/0261, mwN). Konkret auf den Beschwerdeführer bezogen hat die belangte Behörde in diesem Zusammenhang nur festgestellt, dieser sei in die "Kämpfe und Unruhen der Balkanstaaten" verwickelt gewesen; inwiefern dies aber in besonderer Weise die Gefahr des Untertauchens erhöht, ist nicht nachvollziehbar.

Soweit die belangte Behörde auf die fehlende soziale und berufliche Integration des Beschwerdeführers abstellt, handelt es sich dabei in Bezug auf (wie der Beschwerdeführer noch nicht lange in Österreich aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, um kein tragfähiges Argument für das Bestehen eines Sicherungsbedarfes. Die Heranziehung des Gesichtspunktes, der Fremde sei in Österreich nicht ausreichend integriert, ist vielmehr bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers verfehlt. Der Frage der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu (vgl. auch dazu das bereits genannte hg. Erkenntnis vom 30. April 2009, Zl. 2006/21/0344, mwN).

Hinsichtlich der Ausführungen der belangten Behörde zur Zulässigkeit der Ausweisung des Beschwerdeführers sowie zur (fehlenden) inhaltlichen Berechtigung seines Antrages auf internationalen Schutz ist darauf hinzuweisen, dass beides ohne Belang für den hier zu beurteilenden Sicherungsbedarf ist. Schließlich bedarf es keiner näheren Erörterung, dass auch aus einer angeblich beleidigenden Schreibweise in der vom Vertreter des Beschwerdeführers verfassten Schubhaftbeschwerde (es war die Verwendung von Textbausteinen im Schubhaftbescheid behauptet worden) nicht geschlossen werden kann, dieser werde sich dem Verfahren entziehen.

Nicht nachvollziehbar ist im Übrigen auch, wie die belangte Behörde - ohne weitere Ermittlungsschritte und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - zu dem Ergebnis gelangt ist, beim Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen gesundheitlichen Problemen - denen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft Bedeutung zukommen hätte können - handle es sich um eine unglaubwürdige Schutzbehauptung.

Der angefochtene Bescheid war nach dem Gesagten wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 5. Juli 2011

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