VwGH 2006/21/0261

VwGH2006/21/026118.2.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Kühnberg, über die Beschwerde des O, vertreten durch Dr. Klaus Kocher & Mag. Wilfried Bucher, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Sackstraße 36, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 24. Juli 2006, Zl. VwSen-400831/4/Gf/Ga, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §58 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §77;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §58 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §77;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer, einem türkischen Staatsangehörigen, eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm § 67c Abs. 3 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) ab und stellte unter einem fest, dass im Entscheidungszeitpunkt die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen "weiterhin" vorgelegen seien.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am 16. Juni 2006 zum wiederholten Male unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet eingereist und habe am 7. Juli 2006 einen Asylantrag gestellt. Im Zuge seiner Einvernahme sei ihm am 13. Juli 2006 vom Bundesasylamt gemäß § 29 Abs. 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) mitgeteilt worden, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag abzuweisen und dass diese Mitteilung als Einleitung eines Ausweisungsverfahrens gelte. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck vom selben Tag sei daraufhin gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung und der anschließenden Abschiebung angeordnet und dieser Bescheid sogleich vollzogen worden.

In ihrer rechtlichen Begründung führte die belangte Behörde aus, auf Grund der Mitteilung nach § 29 Abs. 3 Z 5 AsylG 2005 sei gegen den Beschwerdeführer gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ex lege ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden. Daher sei die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck "grundsätzlich" gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG berechtigt gewesen, gegen den Beschwerdeführer zur Sicherung des Ausweisungsverfahrens und der Abschiebung die Schubhaft zu verhängen. Im vorliegenden Fall sei lediglich die Frage strittig, ob die Fremdenpolizeibehörde das Vorliegen der Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 FPG hinsichtlich der Abstandnahme von der Anordnung gelinderer Mittel zutreffend beurteilt habe. Sowohl die Beurteilung des aktuellen Sicherungsbedarfes wie auch des Hinreichens gelinderer Mittel erfordere eine Prognoseentscheidung. Dabei habe der Gesetzgeber in Kauf genommen, dass auch außerrechtlichen Parametern ein "vergleichsweise wesentlich größeres, sogar primäres Gewicht" beikomme. Dabei spielten "eine langjährige Behördenerfahrung in vergleichbaren Fällen (standardisierte Verhaltensmuster) und psychologische Elemente (objektivierbares Durchschnittsverhalten von Personen in vergleichbaren Situationen) eine bedeutende Rolle". Bezogen auf Fallkonstellationen wie die vorliegende, "in denen bloße Wirtschaftsflüchtlinge, die zum wiederholten Mal unter Inanspruchnahme von finanzaufwändiger Schlepperhilfe illegal in das Bundesgebiet einreisen, um denselben Lebensstandard wie vereinzelte bereits hier integrierte Familienangehörige zu erreichen und zwecks Verfahrensverzögerung pseudomäßige Asylanträge stellen" würden, lehre "die behördliche Erfahrung jedenfalls des letzten Jahrzehnts, dass sich diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zum Zweck der behördlichen Abschiebung in ihren Heimatstaat zur Verfügung halten" würden. Ausgehend "von diesem Wahrscheinlichkeitsszenario" könne das Nichtanwenden gelinderer Mittel "in derartigen Fällen grundsätzlich nicht als rechtswidrig" angesehen werden, "es sei denn, es würden sich auf Grund der Umstände des konkreten Falls triftige Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die allgemeine Behördenerfahrung hier ausnahmsweise nicht" zutreffe. "In diesem Zusammenhang" habe der Beschwerdeführer nur darauf hingewiesen, dass er bei seinem in Österreich sozial integrierten Bruder in Kärnten leben könnte, "ohne diesen gleichzeitig wenigstens namentlich zu benennen oder dessen Adresse bekannt zu geben". Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer auch keine "konkrete, rechtlich verbindliche und damit auch einklagbare Verpflichtungserklärung" seines Bruders vorgelegt habe, wäre damit nur seine Versorgung sichergestellt, nicht aber auch, dass sich der Beschwerdeführer "zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Abschiebung auch tatsächlich der Behörde zur Verfügung" halten würde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Gemäß § 76 Abs. 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§ 10 AsylG 2005) erlassen wurde (Z 1), gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde (Z 2), gegen ihn vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§ 53 oder 54) oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§ 60) verhängt worden ist (Z 3) oder auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird (Z 4).

Die gegenständliche Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt. Die Heranziehung dieses Schubhafttatbestandes ist angesichts des - unbestrittenen - Umstandes, dass gegen den Beschwerdeführer von Gesetzes wegen gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet war, nicht zu beanstanden. Das Vorliegen des Tatbestandes des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG wird vom Beschwerdeführer auch nicht in Zweifel gezogen.

Der Beschwerdeführer verweist allerdings zutreffend darauf, dass bloß allgemeine Annahmen und Erfahrungswerte die Schubhaft im Einzelfall nicht zu tragen vermögen. Die Behörden sind (auch) in allen Fällen des § 76 Abs. 2 FPG unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Dies bedeutet, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG gestützt werden soll, stets nur ultima ratio sein darf (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043).

Zum demnach zu prüfenden Sicherungsbedürfnis stellte die belangte Behörde ohne Rücksichtnahme auf die konkreten Umstände des vorliegenden Falles auf "langjährige Behördenerfahrung in vergleichbaren Fällen" ab und ging davon aus, die behördliche Erfahrung im Zusammenhang mit dem Stellen von "pseudomäßige(n) Asylanträge(n)" durch "bloße Wirtschaftsflüchtlinge" habe gelehrt, dass sich solche Fremde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zum Zweck der Abschiebung zur Verfügung halten würden. Derartige Überlegungen sind allerdings im Zusammenhang mit der von Verfassungs wegen gebotenen Einzelfallprüfung ungeeignet, im gegenständlichen Fall die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft zur Sicherung des gegen ihn eingeleiteten Ausweisungsverfahrens darzulegen. Die von der belangten Behörde - darüber hinaus unbelegt gebliebenen - ins Treffen geführten, aber bloß allgemeine Annahmen und Erfahrungswerte wiedergebenden Argumente genügen sohin nicht, um die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der hier gegenständlichen Freiheitsentziehung zu begründen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2007, Zl. 2006/21/0091, mH auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. September 2004, B 292/04, VfSlg. 17.288).

Wenn die belangte Behörde auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers Bedacht nehmende Begründungselemente nun in ihrer im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erstatteten Gegenschrift nachträgt, vermag dies die mangelhafte Bescheidbegründung nicht mehr zu beseitigen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 2004, Zl. 2003/20/0502). Gegenstand des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof ist nämlich die Kontrolle des angefochtenen Bescheides, in der Form und mit dem Inhalt, wie er an die Parteien des Verwaltungsverfahrens ergangen ist, und nicht unter Zugrundelegung einer in wesentlichen Punkten nachgetragenen Ergänzung der Begründung.

Soweit die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid - lediglich ansatzweise und völlig unzureichend - auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers eingeht, ist ihr vorzuwerfen, dass sich einerseits die Aussage, der Beschwerdeführer habe zu seinem in Österreich lebenden Bruder keine näheren Daten bekannt gegeben, schlichtweg als aktenwidrig erweist, zumal sich auf Seite 9 der Schubhaftbeschwerde Name und Adresse des Bruders des Beschwerdeführers finden. Andererseits stellt sich auch die Ansicht der belangten Behörde, allfällige persönliche Bindungen im Bundesgebiet könnten von vornherein keine Gewähr dafür bieten, dass der Beschwerdeführer sich dem Ausweisungsverfahren nicht entziehen werde, in der von der belangten Behörde geäußerten allgemeinen Form als nicht zutreffend dar. Die von der belangten Behörde im Ergebnis vertretene Auffassung, das Belassen eines Fremden auf freiem Fuß könnte immer dann, wenn ein Sicherungsbedürfnis zu bejahen ist, keine Gewähr für die Verfahrenssicherung bieten, hätte zur Folge, dass das Sicherungsbedürfnis nie anders als durch Anhaltung in Haft gedeckt werden könnte. Diese Ansicht entspricht aber mit Blick auf § 77 FPG, der ausdrücklich (unter den dort näher angeführten Voraussetzungen) die Sicherung der Schubhaftzwecke auch auf andere Art als durch Haft vorsieht, nicht dem Gesetz.

Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass dem Gesichtspunkt, ein Fremder sei in Österreich nicht integriert, in den Fällen des § 76 Abs. 2 FPG in frühen Stadien des Asylverfahrens, wie er auch hier vorlag, nur untergeordnete Bedeutung zukommt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Februar 2008, Zl. 2007/21/0391). Wie auch in den Fällen mit "Dublin-Bezug" kann die Verhängung der Schubhaft auch hier nur dann gerechtfertigt sein, wenn besondere Umstände vorliegen, die schon in einem frühen Stadium des Asylverfahrens ein "Untertauchen" des betreffenden Fremden befürchten lassen, was fallbezogen zwar nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint, aber - wie bereits ausgeführt - einer den Umständen des Einzelfalles gerecht werdenden Prüfung bedarf.

In Verkennung der Rechtslage stellte die belangte Behörde jedoch lediglich, ohne ausreichend auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers einzugehen, auf bloß allgemeine behördliche Erfahrungswerte ab, weshalb der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 18. Februar 2009

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