VwGH 2008/21/0079

VwGH2008/21/007922.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des M, vertreten durch Mag. Andreas Duensing, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats im Land Niederösterreich vom 4. Juli 2007, Zl. Senat-FR-07-3020, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 2. Mai 1996 auf Grund eines Touristenvisums legal nach Österreich ein und stellte am 25. Juni 1996 einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24. Juli 1996 rechtskräftig abgewiesen. Ein weiterer Asylantrag vom 18. November 1998 wurde vom Bundesasylamt wegen entschiedener Sache zurückgewiesen; die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 23. Mai 2007 als verspätet zurückgewiesen.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 29. September 2003 wurde gegen den Beschwerdeführer ein bis 31. Jänner 2013 befristetes Aufenthaltsverbot erlassen. Dieser Maßnahme lag eine Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Landesgericht für Strafsachen Wien vom 20. Februar 2002 wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach den §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 und 148 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zweieinhalb Jahren zugrunde. Laut Bescheidbegründung hatte die Schadenssumme der im Dezember 1999 und Jänner 2000 begangenen Straftaten insgesamt ATS 2.680.000,-- betragen. Im März 2003 wurde der Beschwerdeführer aus der Strafhaft entlassen. Mit Urteil vom 11. Oktober 2006 wurde er wegen des Vergehens der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 298 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Wochen verurteilt.

Mit Eingabe vom 10. Mai 2007 beantragte er die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes und begründete dies einerseits damit, dass die Gründe, die zu dessen Verhängung geführt hätten, bereits längere Zeit zurücklägen und er sich seither wohlverhalten habe, und andererseits mit der am 24 März 2007 geschlossenen Ehe mit einer österreichische Staatsbürgerin, aus der ein am 19. April 2007 geborener Sohn stamme. (Dieser Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 5. September 2007 abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof wurde mit Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2007/21/0425, als unbegründet abgewiesen.)

Ein Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 12. Juni 2007 rechtskräftig abgewiesen.

Mit Bescheid vom 25. Juni 2007 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung gegen den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 1 und 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung an. Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer seit dem 15. Dezember 2006 aufrecht gemeldet und seit dem 24. März 2007 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei, mit der er ein gemeinsames Kind habe. Sein am 27. November 1998 eingebrachter Asylantrag sei am 30. Mai 2007 "rechtskräftig negativ entschieden" worden. Nach Erlassung des Aufenthaltsverbotes im Jahr 2003 habe der Beschwerdeführer das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen und sich den daraus resultierenden fremdenpolizeilichen Maßnahmen entzogen, indem er "untergetaucht" sei. Auf Grund dieses Sachverhaltes und des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers gehe die Behörde davon aus, dass er das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen werde, weshalb zur Sicherung der Abschiebung die Schubhaft zu verhängen gewesen sei. Die Anwendung gelinderer Mittel sei im Fall des Beschwerdeführers auszuschließen gewesen, weil auf Grund seines bisherigen Verhaltens die Annahme gerechtfertigt sei, dass er sich dem behördlichen Zugriff erneut entziehen werde, um die Vollstreckung der fremdenpolizeilichen Maßnahme zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren, weshalb der Zweck der Schubhaft nicht erreicht werden könne. Auf Grund des ermittelten Sachverhaltes sei die Behörde zum Ergebnis gelangt, dass die Verhängung der Schubhaft zum Zweck der Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis stehe und im Interesse des öffentlichen Wohles dringend erforderlich und geboten sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 4. Juli 2007 wies die belangte Behörde eine am 28. Juni 2007 erhobene Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 FPG ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

In ihrer Begründung führte sie nach der Darstellung der Rechtslage und des Sachverhaltes im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Zuwendungen seiner Schwester und durch die in der Verurteilung des Landesgerichtes für Strafsachen festgestellten strafbaren Handlungen bestritten habe. Inwieweit er nunmehr seinen Lebensunterhalt bestreiten könne, sei in der Schubhaftbeschwerde nicht "dezidiert" ausgeführt. Die belangte Behörde verkenne nicht, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin und des gemeinsamen Kindes sowie des Aufenthaltes seiner Schwester familiäre Bindungen im Bundesgebiet habe. Demgegenüber stehe jedoch das erhebliche öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen, und es sei daher nicht als unerheblich zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer wesentliche Tatsachen während seines rechtswidrigen Aufenthaltes und insbesondere des bestehenden Aufenthaltsverbotes geschaffen habe. Die Schubhaftbescheide der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung vom 29. Jänner 2004 und vom 23. Februar 2004 hätten nicht vollstreckt werden können, weil der Beschwerdeführer an der Meldeadresse nicht aufhältig gewesen sei. Er habe sich sohin offensichtlich dem Zugriff der Behörde entzogen und sei auch seiner aus dem Aufenthaltsverbot erfließenden Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen, obwohl er im Besitz eines gültigen Reisedokumentes sei. Auf Grund des festgestellten Sachverhaltes komme die belangte Behörde zum Ergebnis, dass nicht nur die Anhaltung in der Schubhaft zulässig sei, sondern auch die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Gemäß § 76 Abs. 1 FPG können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern.

Die Zulässigkeit dieser Maßnahme verlangt nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung die Prüfung ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, zu deren Beurteilung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder sie zumindest wesentlich erschweren. Die bloße Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls vermag somit für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss der - aktuelle - Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein. Dafür kommt im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei Prüfung des Sicherungsbedarfs auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen, wobei frühere Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an einer baldigen Durchsetzung der Abschiebung maßgeblich vergrößern kann (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 23. September 2010, 2009/21/0280, mwN).

Die belangte Behörde hat aber kein konkretes Verhalten festgestellt, aus dem schlüssig abgeleitet werden könnte, der Beschwerdeführer werde sich der Abschiebung entziehen oder sie erschweren. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer mehr als drei Jahre vor der Erlassung des angefochtenen Bescheides an seiner Meldeadresse nicht aufhältig war (und damals - während noch die Berufung gegen den Zurückweisungsbescheid des Bundesasylamtes anhängig war - nicht ausgereist ist), reicht angesichts der seither eingetretenen Änderungen - der aufrechten Meldung, der Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin und der Geburt eines gemeinsamen Kindes - nicht aus, um einen Sicherungsbedarf, der die Verhängung der Schubhaft rechtfertigt, bejahen zu können. In der Schubhaftbeschwerde wies der Beschwerdeführer außerdem darauf hin, nunmehr über ein Einkommen zu verfügen. Nach einer entsprechenden Beschäftigung mit den insbesondere familiären Anknüpfungspunkten des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht auszuschließen, dass die belangte Behörde bei Beurteilung des Sicherungsbedarfs zu einem anderen Ergebnis, insbesondere, dass auch die Anordnung von gelinderen Mitteln ausreichend sei, hätte gelangen können.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 22. März 2011

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