VwGH 2008/22/0403

VwGH2008/22/04039.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 29. Jänner 2007, Zl. 311.502/18- III/4/05, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
MRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 29. Jänner 2007 wurde der Bescheid dieser Behörde vom 27. September 2006 gemäß § 68 Abs. 2 AVG von Amts wegen aufgehoben und die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der erstinstanzlichen Behörde vom 14. November 2005 gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 73 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen.

Der Beschwerdeführer habe am 17. Juni 2005 einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "jeglicher Aufenthaltszweck, § 13 Abs. 2 FrG 1997" gestellt, die aus humanitären Gründen gemäß § 19 Abs. 2 Z. 6 Fremdengesetz 1997 (FrG) quotenfrei hätte erteilt werden sollen. Dieser Antrag sei mit Bescheid vom 14. November 2005 gemäß § 5 Abs. 1 und 2, § 10 Abs. 4, § 14 Abs. 2 und § 19 Abs. 2 Z. 6 FrG abgewiesen worden. (Der dagegen fristgerecht erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 27. September 2006 stattgegeben und der erstinstanzliche Bescheid vom 14. November 2005 wurde ersatzlos behoben.)

Unter Hinweis auf § 68 Abs. 2 AVG führte die belangte Behörde aus, die im Zuge der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Überprüfung des Bescheides vom 27. September 2006 habe ergeben, dass eine materielle Entscheidung notwendig gewesen sei, weshalb der genannte Berufungsbescheid zu beheben und gleichzeitig eine Sachentscheidung zu treffen gewesen sei.

Gemäß den §§ 72 und 73 NAG sei das Vorliegen humanitärer Gründe geprüft worden. Der Beschwerdeführer habe dazu im Wesentlichen vorgebracht, er sei als Saisonarbeiter in Österreich tätig gewesen und sei mittlerweile in seiner Heimat Kosovo völlig entwurzelt. Die Situation im Kosovo sei in zentralen gesellschaftlichen Bereichen immer noch als krisenhaft und nur eingeschränkt als positiv einzuschätzen. Die Kinder des Beschwerdeführers besuchten in Österreich die Schule; das Ausmaß ihrer Integration sei hoch. In der Berufung habe der Beschwerdeführer weiters ausgeführt, er gehe einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach.

Dazu stellte die belangte Behörde fest, der Beschwerdeführer sei in der Zeit vom 22. Mai bis 15. November 1998 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis als Saisonarbeitskraft gewesen. Während dieses Aufenthaltes seien seine Ehefrau und die beiden Kinder illegal, mit Hilfe einer Schlepperorganisation in das Bundesgebiet eingereist und hätten in weiterer Folge die Gewährung von Asyl beantragt. Nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels des Beschwerdeführers als Saisonarbeitskraft habe er seinen Aufenthalt nicht beendet und sei unrechtmäßig im Bundesgebiet geblieben. Am 19. Mai 1999 habe er die Gewährung von Asyl beantragt; dieser Antrag sei mit Bescheid vom 13. März 2001 "rechtskräftig negativ entschieden" worden, wobei gleichzeitig gemäß § 8 Asylgesetz festgestellt worden sei, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Heimat des Beschwerdeführers zulässig sei.

Die am 13. August 1998 für die beiden Kinder eingebrachten Asylerstreckungsanträge seien mit Datum vom 13. November 1998 rechtskräftig abgewiesen worden. Die drittgeborene Tochter des Beschwerdeführers halte sich ebenso unrechtmäßig in Österreich auf. Das asylrechtliche Verfahren seiner Ehefrau sei im Stadium der Berufung anhängig.

Soweit der Beschwerdeführer auf die krisenhafte Situation in seinem Heimatland hinweise, sei auf die rechtskräftige Abweisung seines Asylantrages und die rechtskräftige Feststellung der Zulässigkeit einer Außerlandesschaffung hinzuweisen.

Seitens der Europäischen Union würden erhebliche finanzielle Mittel aufgewendet, um die wirtschaftliche Lage im Kosovo zu verbessern. Darüber hinaus sorge eine internationale Friedenstruppe für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Kosovo. Weiters habe sich die Menschenrechtslage in Südserbien entscheidend verbessert, und die Albaner seien auf "lokaler/kommunaler Ebene" voll in die Entscheidungsprozesse eingebunden. "Konsequenterweise" sei eine gefahrlose Rückkehr des Beschwerdeführers in den Kosovo jederzeit möglich.

Das "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland" und die "Integration in Österreich" stellten keine Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall dar.

Dass im vorliegenden Fall ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug bestehe, sei schon deshalb zu verneinen, weil die Familienangehörigen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nicht nach den österreichischen Einwanderungsbestimmungen aufenthaltsberechtigt seien.

Die amtswegig vorgenommene Überprüfung habe daher ergeben, dass kein besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben sei. Es möge zwar ein berechtigtes Interesse an einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation durch Auswanderung nach Österreich vorliegen, die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gründe könnten jedoch nicht als humanitäre Gründe im Sinn des § 72 NAG geltend gemacht werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

1. Im Hinblick darauf, dass der den Antrag des Beschwerdeführers vom 17. Juni 2005 abweisende erstinstanzliche Bescheid vom 14. November 2005 durch den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 27. September 2006 ersatzlos behoben wurde, was zur Folge hatte, dass die Unterbehörde über den Gegenstand nicht mehr neuerlich entscheiden hätte dürfen (vgl. dazu die in Hengstschläger/Leeb, AVG § 66 Rz 108 zitierte hg. Judikatur), ist dem Beschwerdeführer aus diesem Bescheid kein Recht erwachsen. Daher bestehen gegen die - in der Beschwerde nicht substanziiert bekämpfte - Anwendung des § 68 Abs. 2 AVG keine Bedenken.

2. § 72 NAG stellt insbesondere auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Weiters liegt ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Verbleib in Österreich besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. April 2008, 2006/21/0175, mwN).

Bei der nach Art. 8 EMRK gebotenen Abwägung ist auch zu berücksichtigen, dass das persönliche Interesse eines Fremden an einem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes zunimmt. Die bloße Aufenthaltsdauer ist allerdings nicht allein maßgeblich, sondern es ist an Hand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Juni 2009, 2008/22/0136, mwN).

Die Beschwerde bringt dazu vor, der Beschwerdeführer habe "taugliche humanitäre Gründe für die Anwendung der humanitären Niederlassungsbewilligungsregeln vorgebracht". Er gehe seit dem Jahr 2000 einer geregelten legalen Beschäftigung nach, die Familie sei in Österreich bestens integriert und lebe seit vielen Jahren im Bundesgebiet; die Kinder besuchten hier den Kindergarten und die Schule, zwei Brüder des Beschwerdeführers lebten in Deutschland, wovon einer ein Dolmetschbüro in P betreibe. Straffälligkeit liege nicht vor. Die Rückkehr in den Kosovo komme einer Existenzvernichtung gleich und stelle sich vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden Spannungen zwischen Serben und Albanern, der nach wie vor prekären Sicherheitslage im Kosovo und auch der bekannt schlechten wirtschaftlichen Lage als besonders inhuman und für die Familie besonders belastend dar.

Unstrittig verfügte der Beschwerdeführer im Jahr 1998 über eine Aufenthaltserlaubnis als Saisonarbeitskraft. Den Verwaltungsakten ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer zwischen 1995 und 1999 regelmäßig als Saisonarbeitskraft in Österreich tätig war. Im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde war der Beschwerdeführer somit seit etwa neun Jahren - teilweise rechtmäßig - ununterbrochen in Österreich aufhältig und bereits seit 12 Jahren - anfangs als Saisonarbeitskraft, seit dem Jahr 2000 durchgehend beim selben Arbeitgeber - in Österreich beschäftigt, wofür ihm auch wiederholt arbeitsmarktrechtliche Dokumente ausgestellt wurden. Darüber hinaus leben seine Ehefrau und drei minderjährige Kinder im Bundesgebiet. Den - unbestrittenen - Feststellungen im angefochtenen Bescheid zufolge ist das asylrechtliche Verfahren der Ehefrau des Beschwerdeführers im Stadium der Berufung anhängig; dass der Ehefrau keine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach asylgesetzlichen Bestimmungen zukomme, ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen. Die Schlussfolgerung der belangten Behörde, ein ausnahmsweise aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch sei schon deshalb zu verneinen, weil die Familienangehörigen des Beschwerdeführers nicht aufenthaltsberechtigt seien, ist - zumindest im Hinblick auf die Ehefrau des Beschwerdeführers - nicht nachvollziehbar.

Den zu Gunsten des Beschwerdeführers zu wertenden Umständen stehen der unrechtmäßige Verbleib in Österreich nach rechtskräftiger Abweisung seines Asylantrages und die Unsicherheit seines auf die Anhängigkeit seines Asylverfahrens gegründeten Aufenthaltsstatus gegenüber. Diesen Umständen ist aber fallbezogen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung keine ausschlaggebende Bedeutung, die bei der Abwägung zu einem anderen Ergebnis führen könnte, mehr zuzumessen.

Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich der Beurteilung der belangten Behörde im Rahmen der Gesamtbetrachtung der vom Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren geltend gemachten sozialen und beruflichen Bindungen nicht anzuschließen, er könne keinen aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aufzeigen.

Vor diesem Hintergrund kann fallbezogen nicht (mehr) davon ausgegangen werden, besondere Berücksichtigungswürdigkeit im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG sei nicht gegeben. Sohin war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Wien, am 9. September 2010

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