VwGH 2008/21/0323

VwGH2008/21/032325.3.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde des G, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 6. Juni 2007, Zl. 148.381/2-III/4/06, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL;
AVG §13 Abs3;
FrG 1997 §19;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §23 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs2;
NAG 2005 §54 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
32004L0038 Unionsbürger-RL;
AVG §13 Abs3;
FrG 1997 §19;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §23 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs2;
NAG 2005 §54 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein im Juli 1984 geborener türkischer Staatsangehöriger, stellte am 13. November 2003 einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 6. Juni 2007 wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) diesen Antrag gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Die belangte Behörde legte dieser Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zu Grunde, dass der Beschwerdeführer erstmals am 17. Juli 2001 nach Österreich eingereist sei. Im Herbst 2001 habe er eine österreichische Staatsbürgerin kennen gelernt, die er in weiterer Folge am 7. Jänner 2002 vor dem Standesamt in Izmir geheiratet habe. Danach sei er gemeinsam mit seiner Ehefrau wieder nach Österreich eingereist und habe sich mit 14. Jänner 2002 an einer näher genannten Adresse angemeldet. Nach einer Abmeldung in die Türkei per 24. April 2003 scheine ab 6. Oktober 2003 wieder eine Meldung in Österreich auf. Aus einem Versicherungsdatenauszug sei jedoch ersichtlich, dass der Beschwerdeführer bereits ab 1. August 2003 bei einem (inländischen) Unternehmer beschäftigt gewesen sei. Seine Einreise nach Österreich müsse daher offensichtlich bereits lange vor dem Zeitpunkt erfolgt sein, zu dem er sich hier wieder polizeilich angemeldet habe. Fest stehe, dass er sich "zumindest seit 01.08.2003" in Österreich aufhalte, den gegenständlichen Antrag im Inland eingebracht und "sich vor, während und nach der Antragstellung" in Österreich aufgehalten habe. Nachdem er mit Beschluss des Bezirksgerichtes Tulln vom 2. Februar 2006 von seiner - ersten - Ehefrau geschieden worden sei, habe er am 29. April 2006 neuerlich eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet.

Der gegenständliche Antrag des Beschwerdeführers sei - so die belangte Behörde in ihren rechtlichen Ausführungen - "auf Grund der nunmehrigen Aktenlage" als Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zu werten. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätte der Antrag vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland eingebracht und die Entscheidung im Ausland abgewartet werden müssen. § 21 Abs. 1 NAG stehe daher einer Bewilligung dieses Antrages entgegen.

Als besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Sinn des § 72 NAG, der gemäß § 74 NAG die Zulassung der Inlandsantragstellung ermögliche, mache der Beschwerdeführer die familiäre Beziehung mit seiner nunmehrigen Ehefrau geltend. "Einzig und allein auf Grund dieser Angaben" könnten jedoch keine humanitären Gründe im Sinne des § 72 NAG erkannt werden, vielmehr sei in der vom Beschwerdeführer gewählten Vorgehensweise eine Umgehung der Einwanderungsbestimmungen zu erblicken. Eine Inlandsantragstellung werde daher nicht zugelassen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage erwogen:

1. Der Beschwerdeführer hatte am 13. November 2003 unter Verwendung eines Formblattes einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt. Dabei war - durch Ankreuzen der entsprechenden Felder des Formulars - zum Ausdruck gebracht worden, dass es sich um einen Erstantrag auf Erlangung einer Niederlassungsbewilligung für die Aufenthaltszwecke "Erwerbstätigkeit" und "Familiengemeinschaft" handle.

Der diesen Antrag erstinstanzlich abweisende Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom 3. November 2006 wurde am 7. November 2006 erlassen, weshalb dieser Bescheid zutreffend unter Bezugnahme auf die Bestimmungen des am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen NAG erging. Dabei brachte die erstinstanzliche Behörde im Spruch zum Ausdruck, dass der Antrag des Beschwerdeführers vom 13. November 2003 nunmehr nach dem NAG als ein solcher auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zu verstehen sei.

In der gegen den Bescheid vom 3. November 2006 erhobenen Berufung blieb diese Beurteilung unbeanstandet. Der Beschwerdeführer erstattete auch kein Vorbringen dahingehend, dass seine österreichische Ehefrau ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehme oder in Anspruch genommen habe. Ebenso wenig war Derartiges der Aktenlage zu entnehmen. Wenn die belangte Behörde in der Folge bei Abweisung der Berufung wie schon die erste Instanz davon ausging, dass der Antrag vom 13. November 2003 "auf Grund der nunmehrigen Aktenlage als Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels 'Familienangehöriger' zu werten" sei, so begegnet das daher im Ergebnis keinen Bedenken. Richtig ist zwar, worauf nunmehr die Beschwerde hinweist, dass für den Beschwerdeführer als Ehemann einer Österreicherin auf Basis des NAG (in der hier anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 99/2006) neben der Möglichkeit der Erlangung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" nach § 47 Abs. 2 NAG auch die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 57 iVm §§ 54 und 52 Z 1 NAG in Betracht zu ziehen gewesen wäre, während das im Zeitpunkt der Antragstellung in Geltung stehende Fremdengesetz 1997 für Ehegatten von Österreichern schlichtweg die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung vorsah. Die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte setzte allerdings voraus, dass die (zweite) Ehefrau des Beschwerdeführers von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte, wofür nach dem Gesagten aber eben für die belangte Behörde keine Anhaltspunkte bestanden. Zu einem Vorgehen nach § 23 Abs. 1 NAG - demnach ist der Fremde, wenn sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren ergibt, dass er einen anderen als den beantragten Aufenthaltstitel für seinen beabsichtigten Zweck benötigt, über diesen Umstand zu belehren - ergab sich von daher jedenfalls aus der Sicht der belangten Behörde kein Anlass. Es kann aber, anders als die Beschwerde meint, auch nicht davon die Rede sein, dass die erstinstanzliche Behörde antragslos entschieden oder eine - unzulässige - Umdeutung des Antrags des Beschwerdeführers vorgenommen habe. Sie hat den nach Inkrafttreten des NAG einer Deutung zu unterziehendem Antrag vom 13. November 2003 vielmehr, wenngleich ohne Befassung des Beschwerdeführers, im Sinne einer der beiden theoretisch in Betracht kommenden Varianten ausgelegt, wogegen der Beschwerdeführer - wie schon erwähnt - in seiner Berufung keinen Einwand erhoben hat. Da diese Deutung (Vorliegen eines Antrags nach § 47 Abs. 2 NAG) auch nach dem Inhalt der Verwaltungsakten unbedenklich war, war die belangte Behörde nicht gehalten, sie im Rahmen ihrer Berufungsentscheidung in Frage zu stellen.

2. Das nunmehr in der Beschwerde erstmals erstattete Vorbringen, die Ehefrau des Beschwerdeführers führe im Rahmen des familieneigenen Fuhrunternehmens regelmäßig Transportfahrten ins EWR-Ausland, insbesondere nach Deutschland, durch, wobei sie von ihrem gemeinschaftsrechtlich durch Art. 49 ff EGV (jetzt: Art. 56 ff AEUV) eingeräumten Freizügigkeitsrecht Gebrauch mache, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Es mag - ohne dass diese Frage hier näher geprüft werden müsste - zutreffen, dass dem Beschwerdeführer gegebenenfalls im Sinne des Urteils des EuGH vom 11. Juli 2002, C-60/00 , Carpenter, ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht zukommt, welches gemäß § 57 iVm §§ 54 Abs. 1 und 52 Z 1 NAG (in der hier anzuwendenden Fassung) "bloß" durch Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte zu dokumentieren gewesen wäre. Diese Rechtsposition wird dem Beschwerdeführer mit dem bekämpften Bescheid aber nicht abgesprochen, weshalb der von ihm vertretenen Ansicht, es müsse im Hinblick auf sein erst jetzt erstattetes gemeinschaftsrechtlich relevantes Vorbringen zu einer Durchbrechung des im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltenden Neuerungsverbotes kommen, schon deshalb nicht näher getreten werden kann. Dem Beschwerdeführer bleibt es vielmehr unbenommen, jederzeit - unter Berufung auf einen von seiner Ehefrau verwirklichten "Freizügigkeitssachverhalt" - die Ausstellung der vorgesehenen Dokumentation seines Aufenthaltsrechts zu beantragen, wozu er im Übrigen gegebenenfalls verpflichtet wäre (§ 54 Abs. 1 letzter Satz NAG). Das hat er im hier zu beurteilenden Verwaltungsverfahren aber (siehe oben 1.) erkennbar nicht getan, weshalb der bekämpfte Bescheid auch unter diesem Gesichtspunkt - behaupteter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht - nicht mit Rechtswidrigkeit belastet ist, zumal weder das NAG noch die "Unionsbürger-Richtlinie" (2004/38/EG) die amtswegige Ausstellung einer derartigen Dokumentation vorsehen.

3. Aus dem bisher Gesagten folgt, dass der bekämpfte Bescheid nicht auf Basis des § 54 (iVm § 57) NAG, sondern des § 47 Abs. 2 NAG zu überprüfen ist. Unter diesem Blickwinkel ist von Bedeutung, dass der Beschwerdeführer noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt hat. Die Auffassung der belangten Behörde, es handle sich beim gegenständlichen Antrag vom 13. November 2003 um einen Erstantrag im Sinn des § 21 Abs. 1 NAG, erweist sich damit als zutreffend (siehe auch die vom Beschwerdeführer selbst vorgenommene Kennzeichnung seines Antrags durch Ankreuzen des Feldes "Erstantrag" auf dem von ihm verwendeten Formular). Dem in der zuletzt genannten Bestimmung verankerten Grundsatz der "Auslandsantragstellung" folgend hätte der Beschwerdeführer ab dem 1. Jänner 2006 die Entscheidung über seinen Antrag im Ausland abwarten müssen.

Das Recht, demgegenüber im Inland zu verbleiben, kommt im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene "Antragstellung im Inland" zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch, etwa auf Familiennachzug, besteht.

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (siehe zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2010, Zl. 2008/22/0287).

Vergleichbar dem dem eben zitierten Erkenntnis zu Grunde liegenden Fall wäre gegenständlich die "Inlandsantragstellung" gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen gewesen: Der Beschwerdeführer reiste im Juli 2001, noch nicht 17-jährig, ins Bundesgebiet ein, wo er sich "zumindest seit 01.08.2003" (so die belangte Behörde) bzw. seit Jänner 2002 (so die von der belangten Behörde nicht ausdrücklich in Abrede gestellte Behauptung im Berufungsschriftsatz) aufhält. Er heiratete im Jänner 2002 eine österreichische Staatsbürgerin, weshalb ihm in der Folge bis zum Inkrafttreten des NAG mit 1. Jänner 2006 Niederlassungsfreiheit nach § 49 Abs. 1 Fremdengesetz 1997 - und das Recht zur Inlandsantragstellung - zukam. Nach Scheidung von der ersten Ehefrau ist er nunmehr seit 29. April 2006 erneut mit einer Österreicherin verheiratet. Vor allem angesichts der großen Bedeutung, die der familiären Bindung an seine österreichische Ehefrau zukommt (vgl. nunmehr § 66 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005), kann der belangten Behörde somit im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht gefolgt werden, wenn sie zu dem Ergebnis gelangte, der Beschwerdeführer könne keinen aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Inlandsantragstellung geltend machen. Davon ausgehend erweist sich die Abweisung des gegenständlichen Antrags nach § 21 Abs. 1 NAG - ohne dass auf die weiteren Beschwerdeausführungen zum "Nichtvorliegen des Versagungsgrundes nach § 21 Abs. 1 NAG" näher eingegangen werden müsste - jedenfalls als verfehlt, weshalb der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 25. März 2010

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