VwGH 2008/08/0012

VwGH2008/08/001226.1.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des CKr in I, vertreten durch MMag. Christian Mertens, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Templstraße 6, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Tirol vom 22. Oktober 2007, Zl. LGSTi/V/0552/2834 29 10 50-702/2007, betreffend Einstellung der Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §8 Abs1;
ASVG §273;
AVG §45 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AlVG 1977 §8 Abs1;
ASVG §273;
AVG §45 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des AMS I vom 27. September 2007 wurde die Notstandshilfe des Beschwerdeführers mangels Arbeitsfähigkeit ab dem 19. Juli 2007 eingestellt. Begründend wurde ausgeführt, wie das Ermittlungsverfahren ergeben habe, sei der Beschwerdeführer nicht arbeitsfähig.

In diesem Akt befindet sich eine Anfrage des Amtes für Soziales des Magistrates I vom 30. Mai 2007 an das Gesundheitsamt des Magistrates I. Auf Grund eines Antrages des Beschwerdeführers auf Grundsicherung wurde darin gebeten, die Art, Höhe und Dauer der behaupteten Arbeitsunfähigkeit bekanntzugeben. Weiters wurde ersucht, eine kurze Stellungnahme über die Art und Dauer einer allenfalls zumutbaren Tätigkeit abzugeben.

Dr. R., Amtsarzt des Magistrates I, verfasste daraufhin handschriftlich eine Stellungnahme, wonach beim Beschwerdeführer generalisierte dermatologische, psychiatrische und internistische Probleme bzw. Leiden vorlägen. Vorstellbar wären lediglich leichte Arbeiten (bis maximal mittelschwer), Tätigkeiten in innen- und zum Teil auch außendienstlicher Verwendung; chemisch besonders bedeutende Arbeitsfelder sowie Stellen mit erhöhtem psychischem Stress seien auf Dauer nicht mehr durchzuführen. Der Beschwerdeführer erscheine insgesamt als schwer vermittelbar; eine Besserung sei aus jetziger Sicht nicht in vertretbarem Zeithorizont zu erreichen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage derzeit für sechs Monate ca. 50 %.

Das Arbeitsmarktservice (AMS), regionale Geschäftsstelle I, hat eine Stellungnahme des Dr. S., Medizinische Abteilung des BBRZ I, vom 9. Juli 2007 eingeholt. Diese lautet wie folgt:

"Gutachten zur Berufsunfähigkeit für das AMS laut § 273 Untersuchung am 02. Juli 2007, 10:15 Uhr

Anamnese:

Herr K berichtet über eine Schuppenflechtenerkrankung, die seit 15 Jahren besteht. Ebenso über Gallensteine seit einigen Jahren. Auch besteht eine depressive Stimmungslage schon seit Jahrzehnten mit rezidivierenden Angststörungen und Panikattacken.

Akute Beschwerden:

Immer wieder Psoriasisbedingte Beschwerden

Allergien: Reinigungs- und Lösungsmittel

Nikotin: 40 Zigaretten pro Tag

Alkohol: 1 Flasche Wein pro Tag

Drogen: Keine

Prämedikation: Keine

Vorliegende Befunde: Ärztliches Attest von Dr. Fuchs

vom 28.06.2004

Status Präsens:

Leicht reduzierter Allgemeinzustand

Blutdruck 170/120 (3 Mal gemessen), 101 pro Minute Puls, 168 cm,

60 kg

(Patient wurde aufmerksam gemacht, dass der derzeitige Blutdruck doch deutlich über dem Normwert liegt und daher eine weitere Abklärung dringend empfohlen wird).

HNO: Unauffällig

Herz: Unauffällig

Lunge: Unauffällig

Extremitäten: Unauffällig

Wirbelsäule: Leichter Rundrücken, Muskelrelief unauffällig,

keine Skoliose, Beweglichkeit seitengleich

Diagnosen:

Psoriasis

Depression mit rezidivierenden Panikattacken

Alkoholbedingte Hepatopathie

Alkoholkrankheit

Zusammenfassung:

Auf Grund der vorliegenden Befunde, der ausführlichen Anamnese und des ärztlichen Attestes von Dr. Fuchs kann dem Klienten laut § 273 eine Berufsunfähigkeit attestiert werden.

Ausschlaggebend ist die depressive Verstimmung mit rezidivierenden Panikattacken, die eher reaktiver Natur ist. Da der erlernte Beruf von Herrn K nicht mehr den Erfordernissen der Zeit entspricht, war auch eine Vermittlung in den letzten Jahren erfolglos. Die bestehende Schuppenflechte ist auch ein Grund, weshalb der Klient mehr und mehr in die soziale Isolation gedrängt wird und auch beruflich starke Einschränkungen erfährt. Daher wird auch auf Grund seiner sozialen Fehlanpassung eine Berufsunfähigkeit attestiert."

Gegen den Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des AMS I vom 27. September 2007 erhob der Beschwerdeführer Berufung. Darin legte er im Wesentlichen dar, er sei 57 Jahre alt und gesundheitlich nicht mehr zu 100 % belastbar, allerdings fühle er sich keinesfalls arbeitsunfähig. Er könne aus seiner Sicht keiner Vollzeitarbeit nachgehen, zur Annahme einer Teilzeitstelle in seinem gelernten Beruf als Grafiker sehe er sich aber imstande. Seit 1. Juni 2007 arbeite er geringfügig als Kalligraph/Illustrator. Die teilweise Arbeitsfähigkeit bestätige auch das (amtsärztliche) Gutachten von Dr. R. vom Mai 2007. Ein von Dr. S. herangezogenes ärztliches Attest stamme aus dem Jahr 2004 und könne daher nicht entscheidungsrelevant sein. Die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers habe sich mittlerweile verbessert.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers abgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, es sei außer Streit zu stellen, dass der Beschwerdeführer tatsächlich seit 1. Juni 2007 bei dem Unternehmen B. in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis stehe (seit 28. September 2007 sei er selbstversichert). Außerdem stehe es außer Streit, dass der Beschwerdeführer laut Bestätigung des Dr. R. als zu 50 % erwerbsfähig bezeichnet werde. Die Entscheidung beruhe aber ausschließlich auf dem (auch in zeitlicher Hinsicht neueren) für das Arbeitsmarktservice I erstellten amtsärztlichen Gutachten des Dr. S. vom 9. Juli 2007. Demnach sei bestätigt, dass der Beschwerdeführer nicht arbeitsfähig sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in einer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Gemäß § 8 Abs. 1 AlVG ist arbeitsfähig, wer nicht invalid bzw. nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 255, 273 bzw. 280 ASVG ist.

Als berufsunfähig gilt gemäß § 273 Abs. 1 ASVG derjenige, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) bedeutet nicht, dass der in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob die Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung der belangten Behörde, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen, d.h. sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 19. September 2007, Zl. 2006/08/0195, mwN).

Ausgehend von diesen rechtlichen Überlegungen erweist sich die Beweiswürdigung der belangten Behörde nicht als schlüssig:

Die belangte Behörde hat in ihrer Bescheidbegründung zwar die geringfügige Beschäftigung des Beschwerdeführers und die Angaben des Dr. R. festgestellt, sie hat sich aber nicht näher damit auseinandergesetzt, weshalb trotzdem keine Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers mehr vorliege.

Das Gutachten des Dr. S. kann schon deshalb nicht nachvollzogen werden, weil die darin angesprochenen "vorliegenden Befunde" und das ärztliche Attest des Dr. Fuchs dem Verwaltungsakt nicht beigeschlossen sind und auch in dem Gutachten des Dr. S. nicht wiedergegeben werden.

Hinsichtlich der Schuppenflechtenerkrankung geht Dr. S. davon aus, dass diese den Beschwerdeführer in die soziale Isolation dränge und er dadurch auch beruflich starke Einschränkungen erfahre. Gerade zu diesem Punkt hätte die belangte Behörde darauf eingehen müssen, dass der Beschwerdeführer zumindest geringfügig beschäftigt ist und diese Umstände daher nicht uneingeschränkt zutreffen können. Der Schluss, dass auf Grund dieser Schuppenflechtenerkrankung eine soziale Fehlanpassung gegeben ist, ist somit nicht nachvollziehbar. Außerdem fehlt eine Begründung dafür, weshalb die bereits seit 15 Jahren bestehende Krankheit nunmehr derartige Konsequenzen zeitigt.

Widersprüchlich sind schließlich die Angaben des Dr. R. und des Dr. S. hinsichtlich der psychischen Beeinträchtigung des Beschwerdeführers. Während Dr. R. davon ausgeht, dass Stellen mit erhöhtem psychischem Stress auf Dauer nicht mehr durchführbar sind, geht Dr. S. in seiner Anamnese davon aus, dass eine depressive Stimmungslage mit rezidivierenden Angststörungen und Panikattacken schon seit Jahrzehnten besteht. Diese depressive Verstimmung mit rezidivierenden Panikattacken, die eher reaktiver Natur ist, wird von Dr. S. als ausschlaggebend für die Berufsunfähigkeit herangezogen. Wenn diese Krankheit aber bereits seit Jahrzehnten besteht, hätte es - auch unter Einbeziehung vormaliger und aktueller Beschäftigungen des Beschwerdeführers - einer Begründung bedurft, weshalb sie (erst) jetzt zur Berufsunfähigkeit führt bzw. ob etwa in der letzten Zeit eine entsprechende Verschlechterung eingetreten ist. Ferner hätte die belangte Behörde gerade angesichts der divergierenden Angaben des Dr. R. und des Dr. S. hinsichtlich der Auswirkungen der psychischen Zustände des Beschwerdeführers eine sachverständige Äußerung darüber einzuholen gehabt, wie diese psychischen Zustände genau beschaffen sind und welche konkreten Auswirkungen sie haben. Abgesehen von den bisherigen Ausführungen fehlen in den Darlegungen des Dr. S. Aussagen darüber, zu welchen Tätigkeiten der Beschwerdeführer im fraglichen Zeitraum aus medizinischer Sicht noch befähigt ist. Allenfalls unter Beiziehung eines Sachverständigen auf dem Gebiet der Berufskunde hätte die belangte Behörde auf Grund solcher Angaben aber zu beurteilen gehabt, ob wegen der gesundheitlichen Einschränkungen des Beschwerdeführers Berufsunfähigkeit iSd § 273 ASVG vorliegt (vgl. dazu die bei Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG, Loseblattsammlung, 3. Band, S. 1372 ff, zu § 273 wiedergegebene Judikatur des OGH). Indem die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage die Unvollständigkeit des Gutachtens nicht aufgegriffen und die erforderliche Beurteilung nicht vorgenommen hat, belastete sie ihren Bescheid mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen der vorrangig aufzugreifenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 26. Jänner 2010

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