VwGH 2007/20/0913

VwGH2007/20/091316.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden von 1. A, und

2. A, beide vertreten durch Mag. Franz Doppelhofer, Rechtsanwalt in 8054 Graz-Seiersberg, Kärntnerstraße 518, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1.) 31. Jänner 2007, Zl. 223.644/10E-VII/43/01 (protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0913), und 2.) 1. Februar 2007, Zl. 223.645/6E-VII/43/01 (protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0914), betreffend § 7 (ad 1.) bzw. §§ 10, 11 Asylgesetz 1997 (ad. 2) (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
EMRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
EMRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der erstangefochtene Bescheid wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. und der zweitangefochtene Bescheid im gesamten Umfang wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 2.212,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der Erstbeschwerdeführer gehört der koreanischen Volksgruppe an und ist Zeuge Jehovas; die Zweitbeschwerdeführerin ist jüdischer Abstammung. Am 3. Juli 2000 beantragten der Erstbeschwerdeführer Asyl und die Zweitbeschwerdeführerin - präzisiert in den Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 4. Juli 2000 und 20. September 2000 - die Erstreckung des ihrem Ehemann zu gewährenden Asyls.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen, erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde nach Durchführung einer Berufungsverhandlung und Einholung eines Sachverständigengutachtens die Berufung des Erstbeschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 16. Juli 2001, mit dem sein Asylantrag abgewiesen worden war, gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.). Zugleich stellte sie fest, dass gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 50 Fremdenpolizeigesetz 2005 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Erstbeschwerdeführers in die Russische Föderation nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.), und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). Mit dem zweitangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Zweitbeschwerdeführerin gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 16. Juli 2001, mit dem ihr Asylerstreckungsantrag abgewiesen worden war, gemäß §§ 10 und 11 AsylG ab.

Begründend stellte die belangte Behörde im erstangefochtenen Bescheid fest, der Erstbeschwerdeführer sei in "Staniza Laderskaja" wohnhaft gewesen. Er habe die Russische Föderation verlassen, weil er und seine Familie in der Region Krasnodar aufgrund ihrer "nichtrussischen Nationalität" von Kosaken verfolgt worden seien und ihn der russische Staat nicht habe schützen können. Der Erstbeschwerdeführer leide an einer schweren Zuckerkrankheit, die zum Erblinden seines Auges und zur Fehlfunktion der Nieren geführt habe. Er befinde sich in ständiger ärztlicher Behandlung; zudem bestehe eine Herzerkrankung.

Die Kosaken seien eine rassistische Organisation, die sich massiv gegen russische Minderheiten wende und auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecke. Übergriffe durch Kosaken würden in manchen Gebieten "Russlands", insbesondere der Region Krasnodar, von staatlichen Behörden gedeckt bzw. werde den Kosaken eine quasi-staatliche Stellung eingeräumt. Diese Machtposition komme einzelnen Kosaken oder deren Organisationen nicht in allen Regionen "Russlands" zu. Die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas könne in der Region Krasnodar zu gravierenden Benachteiligungen seitens der Behörden führen. Das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes in der Russischen Föderation stehe allen russischen Staatsbürgern zu, jedoch werde in der Praxis an vielen Orten der legale Zuzug von Personen, insbesondere aus südlichen Republiken der Russischen Föderation, durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Viele Regionalbehörden würden restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken anwenden. Aufgrund der augenscheinlichen "nichtrussischen" Volksgruppenzugehörigkeit des Erstbeschwerdeführers könne nicht ausgeschlossen werden, dass er bei der Registrierung rassischer Diskriminierung durch Behörden ausgesetzt sei, wobei willkürliche Festnahmen nicht ausgeschlossen werden könnten. Aufgrund der schlechten Haftbedingungen sei nicht sichergestellt, dass er in einem solchen Fall medizinisch betreut werde.

Rechtlich folgerte die belangte Behörde zur Abweisung des Asylantrages, der Erstbeschwerdeführer habe in seiner "Wohnsitzregion" zwar eine asylrelevante Verfolgung dargetan, jedoch stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Die Gewährung von Refoulementschutz begründete sie damit, es könne aufgrund der offenkundigen "nichtrussischen Nationalität" des Erstbeschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden, dass ihm erhebliche Probleme bei der Registrierung entstünden und er der behördlichen Willkür, die bis zur Festnahme reichen könne, ausgesetzt sei. Dazu komme, dass seine Ehefrau jüdischer Herkunft sei und in weiten Teilen "Russlands" antisemitische "Strömungen" festzustellen seien. Zudem sei er Zeuge Jehovas. Da er auch aufgrund seiner Erkrankungen nicht in der Lage sei, für sich und seine Familie ein entsprechendes Einkommen zu erzielen, drohe ihm im Falle seiner Rückkehr unmenschliche Behandlung sowie eine Gefahr für Leib und Leben.

Über die gegen die Nichtzuerkennung von Asyl im erstangefochtenen Bescheid und gegen den zweitangefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerden hat der Verwaltungsgerichtshof nach Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen:

1. Zutreffend hat die belangte Behörde im erstangefochtenen Bescheid der ethnischen Verfolgung des Erstbeschwerdeführers als Angehöriger der koreanischen Volksgruppe durch Kosaken in der Region Krasnodar, wovor ihn der russische Staat nicht schützen konnte, nicht die Asylrelevanz abgesprochen. Entscheidungsrelevant und strittig ist die Frage der innerstaatlichen Fluchtalternative.

Eine inländische Fluchtalternative ist nur gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann. Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art. 3 EMRK erscheinen lassen, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. März 2009, Zl. 2007/19/0459, mwN).

Im gegenständlichen Fall ging die belangte Behörde von einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus, obwohl sie im Widerspruch dazu dem Erstbeschwerdeführer Abschiebeschutz mit der Begründung gewährte, seine Rückkehr würde ihn in der (gesamten) Russischen Föderation insbesondere wegen seiner koreanischen Volksgruppenzugehörigkeit und seinen Erkrankungen in eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Lage bringen. Diesem Umstand hat die belangte Behörde in ihrer Asylentscheidung rechtsirrtümlich keine Bedeutung beigemessen. Damit ist die nicht näher begründete Annahme, es liege eine innerstaatliche Fluchtalternative vor, nicht in Einklang zu bringen (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 12. Juni 2003, Zl. 2000/20/0111, vom 7. Oktober 2003, Zl. 2002/01/0550, und das bereits zitierte Erkenntnis vom 17. März 2009, Zl. 2007/19/0459).

Die belangte Behörde hat somit in ihrer Einschätzung des Vorhandenseins einer inländischen Fluchtalternative die Rechtslage verkannt. Der erstangefochtene Bescheid war daher in seinem Spruchpunkt I. gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

2. Die Aufhebung des den Erstbeschwerdeführer betreffenden Bescheides im Asylteil entzieht dem zweitangefochtenen Bescheid (Entscheidung über den Asylerstreckungsantrag der Zweitbeschwerdeführerin) die rechtliche Grundlage, weshalb dieser Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben war (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 21. September 2006, Zl. 2006/19/0072, mwN, und vom 30. November 2006, Zl. 2006/19/0302).

3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Das Mehrbegehren auf Ersatz der "Beschwerdegebühr" (gemeint: Eingabengebühr) war in Anbetracht der jeweils gewährten Verfahrenshilfe abzuweisen.

Wien, am 16. Dezember 2010

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