VwGH 2007/01/1199

VwGH2007/01/119924.6.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerden 1. der O I M (geboren 1979), 2. der Mu M (geboren 2000), 3. des Mo M (geboren 2002), 4. der Ma M (geboren 2000), alle in Wien, alle vertreten durch Dr. Ronald Rast, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Lugeck 1/1/4, gegen die jeweils am 15. Mai 2007 verkündeten und am 26. September 2007 schriftlich ausgefertigten Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates, Zlen. 310.061-1/4E-XII/37/07 (1.), 310.059-1/5E-XII/37/07 (2.), 310.060-1/5E-XII/37/07 (3.) und 310.058-1/5E-XII/37/07 (4.), jeweils betreffend § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien; alle sind Staatsangehörige von Somalia.

Die beschwerdeführenden Parteien stellten am 17. Februar 2006 im Wege der österreichischen Botschaft in Nairobi Anträge auf internationalen Schutz im Familienverfahren gemäß § 35 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) bezogen auf M O H (MOH), den Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin und Vater der zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien; MOH war mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28. Juli 2004 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden.

Auf Grund ihrer Anträge wurde den beschwerdeführenden Parteien ein Visum erteilt. Sie reisten am 7. Juni 2006 in das Bundesgebiet ein und brachten am 9. Juni 2006 beim Bundesasylamt Anträge auf internationalen Schutz ein.

Mit Bescheiden des Bundesasylamtes jeweils vom 9. Februar 2007 wurden die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); gleichzeitig wurde ihnen mit diesen Bescheiden jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt und befristete Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. erteilt.

Mit den vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheiden wurden die (nur gegen die Spruchpunkte I. erhobenen) Berufungen der beschwerdeführenden Parteien gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die (von der Erstbeschwerdeführerin) behaupteten Fluchtgründe würden mangels Glaubwürdigkeit nicht zugrunde gelegt; die Volksgruppenzugehörigkeit der beschwerdeführenden Parteien könne nicht festgestellt werden.

Zu den Länderfeststellungen - "Situation in Somalia, Situation der Frauen, insbesondere FGM" - führte die belangte Behörde u.a. Folgendes aus:

"Weibliche Genitalverstümmelung wird in Somalia landesweit an ca. 98 % der Mädchen und jungen Frauen praktiziert - auch wenn in Somaliland und Puntland versucht wurde, diese Praxis einzuschränken. In der Regel erleiden dabei bereits Mädchen im Alter von 10 bis 13 Jahren die traditionelle Genitalverstümmelung in ihrer weitestgehenden und brutalsten Form ('pharaonische Beschneidung/Infibulation')."

Im Rahmen der Beweiswürdigung stellte die belangte Behörde (zur drohenden Genitalverstümmelung der Kinder) folgende Erwägungen an:

"Die Berufungswerberin '(Anmerkung: gemeint ist die Erstbeschwerdeführerin)' gab als Hauptgrund für das Verlassen Somalias in Richtung Kenia die drohende Beschneidung ihrer Kinder an. Diesbezüglich ist einzuräumen, dass - wie aus den Sachverhaltsfeststellungen ersichtlich - die so genannte weibliche Genitalverstümmelung in Somalia landesweit verbreitet ist. Dennoch ist die erkennende Behörde im konkreten Fall der Ansicht, dass die vorgebrachten Fluchtgründe nicht den Tatsachen entsprechen und die Berufungswerberin bloß vorgibt, für ihre Töchter die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung durch Fremde zu befürchten. Zunächst ist auszuführen, dass sich die diesbezüglichen Angaben der Berufungswerberin widersprechen. So behauptete die Berufungswerberin in der Berufungsverhandlung erstmals, dass eine Nachbarin namens S die Beschneidung ihrer Kinder gefordert habe und einen Mann und zwei Frauen zu ihr in die Wohnung geschickt

habe. ... Vor dem Bundesasylamt hat die Berufungswerberin

hingegen nicht von einer Nachbarin gesprochen, die Personen geschickt habe. Die Berufungswerberin teilte vor dem Bundesasylamt am 14.06.2006 mit, dass religiöse Männer vom Stamm der Hawiye mitgeteilt haben, dass ihre Töchter beschnitten werden sollen. ... Darüber hinaus erscheint nach Ansicht der erkennenden Behörde unplausibel, dass nicht zum Clan oder zur Familie der Berufungswerberin gehörende Personen die Beschneidung ihrer Töchter fordern. Die Berufungswerberin war nicht in der Lage plausibel darzulegen, warum familienfremde Personen ein solches Interesse an der Beschneidung ihrer Kinder haben sollen. ..."

Die weiteren Beweiswürdigungserwägungen beziehen sich auf die Clanzugehörigkeit, eine Bedrohung durch Männer des Abgaal-Clans sowie auf Ereignisse, die MOH betreffen, bzw. Widersprüche zwischen den Aussagen der Erstbeschwerdeführerin und ihres Ehegatten.

In rechtlicher Hinsicht ging die belangte Behörde davon aus, begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der "GFK" sei nicht gegeben, da die beschwerdeführenden Parteien die behaupteten Fluchtgründe nicht hätten glaubhaft machen können.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, wegen des sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 verweist auf den Flüchtlingsbegriff (drohende Verfolgung im Herkunftsstaat) im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention.

Danach ist entscheidend, ob glaubhaft ist, dass den beschwerdeführenden Parteien in ihrem Herkunftsstaat Verfolgung droht. Dies ist dann der Fall, wenn sich eine mit Vernunft begabte Person in der konkreten Situation der Asylwerber unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat fürchten würde. Anhand dieses Maßstabes ist auch zu ermitteln, ob eine asylrelevante Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe glaubhaft ist (vgl. das zu § 7 Asylgesetzt 1997 ergangene hg. Erkenntnis vom 23. September 2009, Zlen. 2007/01/0284 bis 0285, mwN).

Davon ausgehend und im Hinblick auf die in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Feststellungen über weibliche Genitalverstümmelungen in Somalia ist die (in der Beweiswürdigung dargelegte) Auffassung der belangten Behörde, die als Hauptgrund für das Verlassen Somalias angegebene drohende Beschneidung "der Kinder" entspreche "nicht den Tatsachen", die Erstbeschwerdeführerin habe die befürchtete Genitalverstümmelung ihrer Töchter bloß "vorgegeben", unzureichend begründet.

Die Beschwerden legen zutreffend dar, dass nach den Feststellungen der belangten Behörde die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia landesweit an 98 % der Mädchen und jungen Frauen praktiziert wird; die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm oder Clan ist dabei nicht entscheidend. Die belangte Behörde begründet dem gegenüber nicht nachvollziehbar, weshalb gerade die Töchter der Erstbeschwerdeführerin (also die Zweitbeschwerdeführerin und die Viertbeschwerdeführerin) einer derartigen Bedrohung nicht ausgesetzt wären (vgl. sinngemäß das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 8. Oktober 2008, B 902/08). Die belangte Behörde hat auch nicht dargelegt, wie sie im Ergebnis zum Schluss kommt, die Töchter der Erstbeschwerdeführerin seien zu der Gruppe jener Frauen - in der marginalen Größe von nur 2 % - zu zählen, an denen in Somalia (letztlich) eine Genitalverstümmelung nicht durchgeführt wird. Die Länderfeststellungen stützen die Schlussfolgerungen der belangten Behörde jedenfalls nicht. Dass die Erstbeschwerdeführerin andere Umstände (wie die Clanzugehörigkeit, die Bedrohung durch den Abgaal-Clan, den Reiseweg oder Ereignisse, die den Ehegatten betreffen) nicht glaubhaft darlegen konnte, vermag daran nichts zu ändern.

Die Begründung erweist sich daher im Hinblick auf die angenommene fehlende maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung (der Töchter durch weibliche Genitalverstümmelung) als unschlüssig. Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren auf die übrigen beschwerdeführenden Parteien (den Sohn (Drittbeschwerdeführer) und die Erstbeschwerdeführerin durch.

Die angefochtenen Bescheide waren somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 24. Juni 2010

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