VwGH 2009/22/0156

VwGH2009/22/015618.6.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl, den Hofrat Dr. Robl und die Hofrätin Mag. Merl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über den Antrag der I, vertreten durch Dr. Ernst Brandl, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Mariahilfer Straße 116, auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einbringung einer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sowie über die Beschwerde gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 1. Juli 2008, Zl. 318.368/2-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, den Beschluss gefasst:

Normen

VwGG §34 Abs1;
VwGG §46 Abs1;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §46 Abs1;

 

Spruch:

  1. 1. Der Wiedereinsetzungsantrag wird abgewiesen.
  2. 2. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Begründung

Der angefochtene Bescheid wurde der Beschwerdeführerin am 27. August 2008 zugestellt, die sechswöchige Beschwerdefrist endete daher am 8. Oktober 2008. Die Beschwerde, die mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verbunden wurde, wurde von der Antragstellerin am 25. Mai 2009 zur Post gegeben und langte am 26. Mai 2009 beim Verwaltungsgerichtshof ein.

In ihrem mit der Beschwerde verbundenen Wiedereinsetzungsantrag brachte die Antragstellerin vor, ihr Rechtsvertreter sei durch ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis verhindert gewesen, die Frist einzuhalten und es treffe ihn daran kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens. Die Frist sei versäumt worden, da die langjährige, äußerst genau und gut arbeitende und überdurchschnittliche Kanzleimitarbeiterin Frau D. die Frist zur Erhebung der Beschwerde nicht in den Fristenkalender eingetragen habe.

Der Ablauf in der Kanzlei des Vertreters der Antragstellerin stelle sich wie folgt dar: Frau D. öffne die Post und versehe jedes Poststück mit einem Posteingangsstempel, der das Datum des Einganges sowie untereinander die Rubriken "Frist/Termin", "Überprüft" und "Vorgemerkt" aufweise. Nach Anbringen des Eingangsstempels kontrolliere Frau D. jedes eingegangene Poststück im Hinblick darauf, ob eine Frist einzuhalten sei. Wenn dem so sei, trage Frau D. die Frist in der Rubrik "Frist/Termin" des Eingangsstempels ein und trage die Frist im Fristenkalender ein. Dabei werde nicht nur der letzte Tag der Frist eingetragen, sondern zweimal eine Vorfrist: zwei Wochen und eine Woche vor dem Fristende. Danach lege Frau D. die Poststücke in einer Mappe Dr. B. vor. Dieser prüfe daraufhin, ob der Fristenlauf bzw. das Ende der Frist richtig berechnet sei. Den Vorgang des Überprüfens der Frist dokumentiere der Vertreter der Beschwerdeführerin durch Setzen seiner Paraphe neben die Rubrik "Überprüft". Danach komme die Postmappe retour ins Sekretariat. Die Poststücke würden entsprechend an die Juristen zur Bearbeitung verteilt oder in den Akt abgelegt.

Gegenständlich habe Frau D. den Beschluss des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien sowie den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes, die am 27. August 2008 in einem Kuvert eingegangen seien, ordnungsgemäß mit dem Eingangsstempel versehen und festgestellt, dass laut Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes binnen sechs Wochen zwei Verwaltungsgerichtshofsbeschwerden (im Beschwerdeverfahren sowie im Parallelverfahren zu VH 2008/22/0070) zu erheben seien und habe daher an der Stelle "Frist/Termin" des Stempels das errechnete Fristende mit 8. Oktober 2008 eingetragen. Frau D. habe allerdings die Frist nicht in den Fristenkalender eingetragen. Tatsache sei, dass Frau D. nie vergesse, eine Frist in das Fristenbuch einzutragen. Es handle sich hiebei um einen bereits vorhandenen Automatismus, der grundsätzlich durch nichts gestört werden könne. Es sei Frau D. noch nie passiert, dass sie auf dem Poststück die Frist richtig eintrage, aber vergesse, diese in den Fristenkalender einzutragen.

Das Poststück sei dem Verfahrenshilfevertreter vorgelegt worden. Er habe die Frist überprüft und seine Paraphe neben "Überprüft" gesetzt. Der gegenständliche Akt sei retour ins Sekretariat gekommen und abgelegt worden. Der Vertreter sei davon ausgegangen, dass die Frist zur Erhebung der Beschwerde eingetragen sei.

Die Einhaltung der gegenständlichen Frist habe nicht kontrolliert werden können, da sie nicht im Fristenbuch vermerkt worden sei. Der "normale" Verlauf wäre der gewesen, dass der Vertreter der Antragstellerin erstmals am Tag, an dem die zweiwöchige Vorfrist eingetragen gewesen sei, an die Erhebung der Verwaltungsgerichtshofsbeschwerde erinnert worden sei. Da jedoch gegenständlich keine Frist vermerkt worden sei, habe Dr. B. die Einhaltung der Frist nicht überprüfen können. Es habe ihm überhaupt nicht auffallen können, dass die Frist versäumt gewesen sei. Werde keine Frist eingetragen und der Akt nicht kalendiert, verbleibe der Akt (unbemerkt) in der Ablage.

Erst als die Mutter der Beschwerdeführerin am 13. Mai 2009 bei ihrem Vertreter angerufen habe, habe dieser feststellen können, dass die Frist verstrichen gewesen sei und die Gründe für das Fristversäumnis eruieren können.

Den Vertreter der Antragstellerin treffe an der gegenständlichen Fristversäumnis kein, allenfalls nur ein minderer Grad des Verschuldens. Frau D. sei seit September 2001 in der Kanzlei tätig. Sie sei äußerst zuverlässig und gewissenhaft und obwohl in der Kanzlei unzählige Fristen jährlich anfielen, sorge das in der Kanzlei eingeräumte Kontrollsystem dafür, dass so gut wie nie Fristen versäumt würden. Frau D. sei im ersten Jahr ihrer Tätigkeit bei jeder Fristeintragung von Dr. B. kontrolliert und überwacht worden. Dr. B. habe bei jeder Frist kontrolliert, ob Frau D. diese ordnungsgemäß in den Fristenkalender eingetragen habe. In dieser "Probezeit" habe der Verfahrenshilfevertreter festgestellt, dass es sich bei Frau D. um eine erstklassige und überdurchschnittlich qualifizierte Kraft handle, die ihre Arbeit - insbesondere die Fristberechnungen und die Eintragungen der Fristen in den Fristenkalender - richtig und zuverlässig vornehme. Es habe sich die völlige Verlässlichkeit der Mitarbeiterin herausgestellt. Daher habe Dr. B. ab dieser einjährigen permanenten Überprüfungszeit Kontrollen stichprobenartig, aber regelmäßig durchgeführt. Davon unabhängig habe er natürlich auf jedem Poststück (Posteingangsstempel) kontrolliert, ob die Frist richtig berechnet worden sei. Es sei ausreichend, die Kontrolle, ob eine absolut zuverlässige Kanzleikraft eine Frist in den Fristenkalender eingetragen habe, auf Stichproben einzuschränken. Auf Grund der Zuverlässigkeit von Frau D. habe sich Dr. B. darauf verlassen können und dürfen, dass die Frist entsprechend dem Vermerk auf dem Posteingangsstempel eingetragen gewesen sei.

Laut Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müsse nicht eine Kontrolle jeder erforderlichen Eintragung in das Fristenbuch, also eine Überwachung auf Schritt und Tritt erfolgen. Das habe insbesondere dann zu gelten, wenn man eine quasi fehlerfrei arbeitende Kanzleikraft wie Frau D., die im Zeitpunkt der Zustellung des gegenständlichen Bestellungsbescheides seit sieben Jahren in der Kanzlei des betreffenden Anwalts ausgezeichnete Arbeit geleistet habe, eingestellt habe. Es gebe keinen Grund für den bestellten Verfahrenshelfer daran zu zweifeln, dass die am Eingangsstempel vermerkte Frist nicht im Fristenbuch vermerkt gewesen sei.

Es habe also ausschließlich das Versehen einer ansonsten unumstritten zuverlässigen Kanzleikraft dazu geführt, dass die Frist zur Erhebung der Verwaltungsgerichtshofsbeschwerde versäumt worden sei. Das Versehen einer Kanzleikraft sei nur dann dem Rechtsanwalt als Verschulden zuzurechnen, wenn er die gebotene und ihm zumutbare Kontrolle gegenüber dem Angestellten unterlassen habe. Dieser Vorwurf könne Dr. B. nicht gemacht werden, er habe die Organisation seines Kanzleibetriebes so eingerichtet und die für ihn tätigen Mitarbeiter in einer Weise überwacht, die die Einhaltung der Fristen sicherstelle. Eine ständige Überwachung hinsichtlich Frau D. müsse der Vertreter nicht mehr vornehmen.

Das Nichteintragen der Frist durch Frau D. sei ein unvorhergesehenes bzw. unabwendbares Ereignis gewesen und der Vertreter sei deshalb daran gehindert gewesen, für das fristgemäße Erheben der Beschwerden zu sorgen. Ein Vorwurf sei Dr. B. deshalb nicht zu machen, da er das Kontroll- und Überwachungssystem der Kanzlei so eingerichtet habe, dass derartige Fehler nicht passierten. Es treffe ihn kein Verschulden.

Zugleich mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist wurde die versäumte Handlung nachgeholt und Beschwerde gegen den genannten Bescheid der Bundesministerin für Inneres erhoben.

Der Wiedereinsetzungsantrag ist nicht berechtigt.

§ 46 Abs. 1 VwGG lautet:

"Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt."

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung zu § 46 Abs. 1 VwGG ausgesprochen, dass ein Verschulden des Parteienvertreters einem Verschulden der Partei selbst gleichzusetzen ist. Ein Versehen eines Angestellten eines Rechtsanwaltes ist diesem als Verschulden anzurechnen, wenn der Rechtsanwalt die gebotene und ihm zumutbare Kontrolle gegenüber den Angestellten unterlassen hat. Der bevollmächtigte Anwalt muss den Aufgaben, die ihm aus dem Bevollmächtigungsvertrag erwachsen, auch insoweit nachkommen, als er sich zu ihrer Wahrung seiner Kanzlei als seinen Hilfsapparat bedient. Insbesondere muss der bevollmächtigte Rechtsanwalt die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, dass die erforderliche und fristgerechte Setzung von Prozesshandlungen sichergestellt wird. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen u.a. dafür Sorge zu tragen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind.

Der Wiedereinsetzung schadet ein solches Versagen dann nicht, wenn dem Rechtsanwalt nur ein minderer Grad des Versehens vorgeworfen werden kann. Der Begriff des minderen Grad des Versehens wird als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB verstanden. Der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter dürfen also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und zumutbare Sorgfalt nicht außer Acht gelassen haben. Irrtümer und Fehler der Kanzleiangestellten von Rechtsanwälten sind diesen zuzurechnen, ermöglichen aber jedenfalls dann eine Wiedereinsetzung, wenn sie trotz Einhaltung der berufsgebotenen Sorgfaltspflicht des Anwaltes bei der Kontrolle der Termin- und Fristenevidenz und trotz bisheriger objektiver Eignung und Bewährung der Kanzleiangestellten unterlaufen und eine durch die konkreten Umstände des Einzelfalls bedingte entschuldbare Fehlleistung gewesen sind (vgl. etwa den hg. Beschluss vom 31. Juli 2006, 2006/05/0081).

Wie der Verwaltungsgerichtshof weiters ausgesprochen hat, hat der Anwalt selbst die jeweilige Rechtsmittelfrist festzusetzen, ihre Vormerkung anzuordnen, sowie die richtige Eintragung im Kalender im Rahmen der gebotenen Aufsichtspflicht zu überwachen. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt muss die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, dass auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von Prozesshandlungen sichergestellt wird. Damit wird durch entsprechende Kontrolle dafür vorzusorgen sein, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind (vgl. dazu die in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998) E 233 zu § 71 AVG zitierte hg. Judikatur). Besonderes Augenmerk ist dabei dem Fristenvormerk zuzuwenden.

Macht ein Wiedereinsetzungswerber ein Versehen eines Kanzleiangestellten eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes geltend, so hat er durch konkrete Behauptungen im Wiedereinsetzungsantrag nicht nur darzutun, worin das Versehen bestanden hat, sondern auch, dass es zur Fehlleistung des Kanzleiangestellten gekommen ist, obwohl die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden. Erlaubt das Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag über das vom Rechtsanwalt des Wiedereinsetzungswerbers eingerichtete Kontrollsystem und über die konkreten Umstände, auf die die Versäumung der Beschwerdefrist zurückzuführen ist, eine Beurteilung der Frage nach den Letzteren nicht, so schließt dies die Annahme eines tauglichen Wiedereinsetzungsgrundes aus (vgl. Walter/Thienel, aaO, E 228, sowie etwa die hg. Erkenntnisse vom 21. Februar 1990, 90/03/0021, und vom 23. September 2005, 2005/15/0083).

Im vorliegenden Fall hat der Vertreter der Beschwerdeführerin vorgebracht, die verlässliche Kanzleikraft hinsichtlich der Eintragung der Fristen in den Fristenkalender regelmäßig stichprobenartig zu überprüfen. Er hat es jedoch unterlassen, nähere Angaben über Art und Intensität der vom Vertreter der Antragstellerin ausgeübten Kontrolle in Ansehung des von seiner Mitarbeiterin geführten Fristenkalenders zu machen (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 23. Juni 1994, 94/18/0320 und vom 29. April 2005, 2005/05/0100) und hat auch die konkreten Umstände des Einzelfalls, die allenfalls für eine entschuldbare Fehlleistung der Kanzleimitarbeiterin verantwortlich gewesen sein könnten, nicht dargelegt. Somit bleibt unklar, warum es trotz des behaupteten Überwachungs- und Kontrollsystems möglich war, dass der Akt zwischen 27. August 2008 und 13. Mai 2009 - somit etwa achteinhalb Monate - unentdeckt blieb.

Schon allein aus diesen Gründen muss dem Wiedereinsetzungsbegehren der Erfolg versagt bleiben.

Da sich somit die am 25. Mai 2009 zur Post gegebene Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid der belangten Behörde als verspätet erweist, war sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 18. Juni 2009

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