VwGH 2007/09/0202

VwGH2007/09/020223.4.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Händschke und Dr. Rosenmayr als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des G G in W, vertreten durch Dr. Gerhard Deinhofer, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Marxergasse 34, gegen den Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 18. Juli 2007, Zl. 3/08115/146 7983, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einer Angelegenheit nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
ZustG §17;
AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
ZustG §17;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Arbeitsmarktservice hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, beantragte mit Eingabe vom 9. Oktober 2006 die Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 15 Abs. 1 Z. 3 AuslBG.

Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 20. Dezember 2006 wurde dieser Antrag gemäß § 15 Abs. 1 Z. 3 AuslBG abgelehnt. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 22. Dezember 2006 durch Hinterlegung zugestellt, wobei als erster Tag der Abholfrist der 27. Dezember 2006 festgehalten wurde. Nach dem im Akt erliegenden Rückschein wurde die Verständigung über die Hinterlegung am 22. Dezember 2006 in das Hausbrieffach eingelegt. Unter Annahme der Rechtswirksamkeit dieser Zustellung endete die Frist zur Erhebung der Berufung gemäß § 63 Abs. 5 AVG daher mit Ablauf des 10. Januar 2007.

Mit Eingabe vom 14. März 2007 beantragte der - nunmehr anwaltlich vertretene - Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung gegen den Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 20. Dezember 2006 und holte unter einem die versäumte Prozesshandlung nach.

Den Antrag auf Wiedereinsetzung begründete der Beschwerdeführer damit, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Hinterlegungsanzeige erlangt habe, weil der Hauptmieter der Wohnung, in welcher er lebe, Herr. M. V. auch den einzigen Postschlüssel zum Brieffach dieser Wohnung habe, ihm (dem Beschwerdeführer) allerdings üblicherweise die Post immer ausgefolgt habe. Der Hauptmieter der Wohnung sei jedoch seit Ende November 2006 in der Türkei aufhältig, sein Bruder I. V. aber, der ebenfalls in dieser Wohnung wohne, habe von diesem den einzigen Postschlüssel übernommen. Dabei leere I. V. das Hausbrieffach zumindest jeden zweiten Tag, durchsuche die Briefsendungen sorgfältig und händige dem Beschwerdeführer die ihn betreffende Post aus. Es sei allerdings vor Weihnachten außergewöhnlich viel Werbematerial im Hausbrieffach gewesen, sodass nicht auszuschließen sei, dass die Hinterlegungsanzeige in das umfangreiche Prospektmaterial gerutscht und trotz aufmerksamer Durchsicht durch I. V. nicht bemerkt worden sei. Weder der Beschwerdeführer noch I. V. hätten aber die Hinterlegungsanzeige erhalten, jedenfalls habe I. V. dem Beschwerdeführer keine Hinterlegungsanzeige ausgefolgt. Ihn treffe daher auch kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsfrist. Nähme man überhaupt ein Verschulden an der Versäumung an, so läge höchstens ein minderer Grad des Versehens vor. Das Hindernis sei erstmals durch Akteneinsicht des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers am 5. März 2007 weggefallen, der Wiedereinsetzungsantrag daher rechtzeitig. Zum Beweis für sein gesamtes Vorbringen beantragte der Beschwerdeführer seine eigene Einvernahme (unter Beiziehung eines Dolmetschers) und jene des I. V.

Mit Bescheid vom 22. Mai 2007 wies die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien - ohne das beantragte Ermittlungsverfahren durchzuführen - den Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers ab. Die Behörde erster Instanz vertrat die Ansicht, bei entsprechender Sorgfaltswaltung wäre es dem Beschwerdeführer bereits angesichts der sich ergebenden langen Verfahrensdauer zumutbar gewesen, sich bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien über den Verfahrensstand zu erkundigen, zumal "die Intention seines Anbringens in der Absicherung seiner Rechtsposition bezüglich der legalen Beschäftigung im Bundesgebiet gelegen" sei. Daher müsse dem Beschwerdeführer ein gewisses Maß an Sorgfalt zugemutet werden, was impliziere, dass im Verfahren (nach § 15 Abs. 1 Z. 3 AuslBG) eine "angemessene Achtsamkeit und Mühe aufgewendet" werde, damit das Ereignis (offenbar gemeint: eine Fristversäumnis) abgewendet werde, wobei hiefür der "konkrete Ablauf der Ereignisse" maßgebend sei. Dadurch, dass der Beschwerdeführer angeblich von der Hinterlegung des Bescheides keine Kenntnis erlangt habe, habe er nicht das vertretbare Maß an Aufmerksamkeit und Sorgfalt im gegenständlichen Verfahren an den Tag gelegt. Es wäre vielmehr seiner Dispositionsfähigkeit unterlegen, Erkundigungen über den Verfahrensstand einzuholen, zumal sein Ansuchen bereits am 9. Oktober 2006 eingebracht worden sei. Bei entsprechender Sorgfaltswaltung hätte der Beschwerdeführer daher bereits zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt Kenntnis von der Ablehnung seines Antrages erlangt. Er habe damit das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes nicht glaubhaft machen können. Darüber hinaus habe er keinen geeigneten Beweis für seine Behauptungen angetreten.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde dieser Berufung gemäß § 71 Abs. 1 AVG keine Folge. Nach wörtlicher Wiederholung des Verwaltungsgeschehens (im Indikativ) führte die belangte Behörde im Wesentlichen begründend aus, dadurch, dass der Beschwerdeführer erst über Kontaktnahme seines Rechtsvertreters mit dem Arbeitsmarktservice Wien am 5. März 2007 über die Ablehnung seines Anbringens auf Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 15 Abs. 1 Z. 3 AuslBG vom 9. Oktober 2006, damit beinahe vier Monate ab Zeitpunkt der Antragstellung, Kenntnis erlangt habe, habe er das vertretbare Maß an Sorgfalt vermissen lassen. Das dem Verfahren zugrunde liegende Begehren diene der Absicherung der beschäftigungsrechtlichen Stellung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, was ein verstärktes Interesse seinerseits an der Entscheidung in diesem Verfahren hätte erwarten lassen können. Es reiche nicht aus, sich nur auf die Postaushändigung des I. V. zu verlassen. In Anbetracht seines Anbringens vom 9. Oktober 2006 hätte ein erhöhtes Augenmerk auf die Postsendung erwartet werden können, da der vom Beschwerdeführer begehrte Befreiungsschein für seine existenzielle Absicherung im Bundesgebiet von wesentlicher Bedeutung sei. Außerdem hätte er auf Grund des vor Weihnachten umfangreich zugestellten Werbematerials eine erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich der Poststücke an den Tag legen können. Das ihm zumutbare Sorgfaltsmaß sei somit auch dahingehend nicht als ausreichend anzusehen gewesen. Eine Unabwendbarkeit des Geschehnisses, deren Eintritt vom Willen des Beschwerdeführers nicht verhindert habe werden können, sei auf Grund der vorliegenden Fakten ebenfalls nicht zu erblicken, zumal er weder physisch noch psychisch beeinträchtigt sei. Zudem sei es Sache des Beschwerdeführers, das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes nicht nur zu behaupten, sondern glaubhaft zu machen. Lediglich die Behauptung, er habe von der Hinterlegungsanzeige keine Kenntnis erlangt, werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Die Einvernahme des Beschwerdeführers sowie jene des I. V. hätten aber "auf Grund des verfahrensrelevanten Sachverhaltes" zu keinem anderen Ergebnis geführt, zumal der Beschwerdeführer bereits in seinem Antrag auf Wiedereinsetzung die für ihn maßgeblichen Gründe an der Fristversäumung dargelegt und auch in der Berufung keine neuen Beweise angeboten habe. Das Nichtvorliegen eines Verschuldens oder ein minderer Grad des Versehens sei aus den dargelegten Gründen nicht als zutreffend zu erachten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher die Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie die Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in welcher sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Gemäß § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer Frist zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Verschuldens trifft.

Der Beschwerdeführer hat seinen Wiedereinsetzungsantrag damit begründet, er habe ohne eigenes Verschulden keine Kenntnis von der erfolgten Zustellung des ablehnenden Bescheides der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien gehabt, weil er über keinen Schlüssel zum Hausbrieffach besitze und ihm die Hinterlegungsanzeige nicht ausgefolgt worden sei. Unkenntnis von der ordnungsgemäßen Hinterlegung eines Schriftstückes - sofern diese nicht auf einem Verschulden beruht, welches den minderen Grad des Versehens übersteigt - ist geeignet, einen Wiedereinsetzungsgrund zu begründen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 29. Mai 2008, Zl. 2005/07/0166). Der in § 71 Abs. 1 AVG verwendete Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf daher nicht auffallend sorglos gehandelt haben und die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht gelassen haben. Dabei ist an berufliche rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen als an rechtsunkundige oder bisher noch nie an behördlichen oder gerichtlichen Verfahren beteiligte Personen. Bei der Beurteilung, ob eine auffallende Sorglosigkeit vorliegt, ist also ein unterschiedlicher Maßstab anzulegen je nach Rechtskundigkeit und Erfahrung im Umgang mit Behörden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. Januar 2004, Zl. 2001/20/0425, mwN). An den Beschwerdeführer durften daher in Bezug auf die Vermeidung einer allfälligen Unkenntnis von einem Zustellvorgang nicht die selben Anforderungen gestellt werden, wie etwa an einen Rechtsanwalt, der bei der Einrichtung seines Kanzleibetriebes durch entsprechende Organisation und Kontrolle dafür vorsorgen kann, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind.

Die belangte Behörde ist im vorliegenden Fall - wie schon die Behörde erster Instanz - davon ausgegangen, es sei dem Beschwerdeführer ein Verschulden an der Unkenntnis, welches den minderen Grad eines Versehens übersteige, vorzuwerfen, weil die Erledigung seines Antrages auf Ausstellung eines Befreiungsscheins nach § 15 AuslBG in seinem (auch wirtschaftlichen) Interesse gelegen sei und er daher aus Eigenem die Erledigung bei der Behörde erster Instanz hätte urgieren können, zumal seit seiner Antragstellung bereits ein längerer Zeitraum verstrichen sei. Mit dem Vorbringen, der Beschwerdeführer habe keinen Zugang zum Postfach gehabt und die Hinterlegungsanzeige sei ihm vom Besitzer des Postschlüssels nicht ausgefolgt worden, befasste sich die belangte Behörde nicht. Im vorliegenden Fall kommt es aber lediglich darauf an, ob den Beschwerdeführer ein Verschulden an der Unkenntnis von der erfolgten Hinterlegung (und nicht - wie die Behörden meinen - von der ergangenen inhaltlichen Erledigung) trifft. Aus den vorgelegten Verwaltungsakten, insbesondere aus dem dort einliegenden Rückschein, geht hervor, dass das Poststück gemäß § 17 Abs. 2 Zustellgesetz "im Hausbrieffach eingelegt" worden war. Es kommt daher der Behauptung des Beschwerdeführers Bedeutung zu, er habe keinen Schlüssel zu diesem Postfach gehabt, sondern habe sich darauf verlassen müssen, dass ihm seine Post durch den Inhaber der Wohnung bzw. des Postschlüssels ausgefolgt werde. Dass diese Personen ihm bisher seine Post zuverlässig ausgefolgt haben, ihn daher keine erhöhte Aufmerksamkeitspflicht getroffen habe, hat der Beschwerdeführer ebenfalls bereits in seinem Wiedereinsetzungsantrag behauptet. Die belangte Behörde hätte daher, wenn sie Zweifel an diesem Vorbringen gehabt hätte, ein Ermittlungsverfahren durchführen und die angebotenen Beweise, nämlich die Einvernahme des Beschwerdeführers sowie des I. V., aufnehmen müssen.

Durch diese vom Beschwerdeführer konkret aufgestellte Behauptung, er habe unter den gegebenen Umständen an das Poststück nicht gelangen können, unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von jenem, in welchem lediglich Unkenntnis aus ungeklärten Umständen behauptet wird, ohne zu bestreiten, dass die Hinterlegungsanzeige in die Gewahrsame des Bescheidadressaten gelangt ist, wie dies etwa dem hg. Erkenntnis vom 20. Dezember 2005, Zl. 2005/21/0353, zu Grunde lag.

Aus welchem Grunde es unter den behaupteten Umständen nicht ausreiche, "sich nur auf die Postaushändigung" durch I. V. zu verlassen, insbesondere welche andere Möglichkeit der Beschwerdeführer gehabt hätte, an seine Post zu gelangen, lässt die belangte Behörde unbeantwortet. Die belangte Behörde macht dem Beschwerdeführer ferner zum Vorwurf, "lediglich" Behauptungen aufgestellt zu haben, was dem Erfordernis der Glaubhaftmachung nicht gerecht werde, lehnt aber gleichzeitig die von ihm angebotenen Beweise als unerheblich ab. Dass dies unter Berücksichtigung der gebotenen "Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis des Verfahrens" erfolgt sei, wie sie dies in diesem Zusammenhang in der Gegenschrift vermerkt, verkennt die Bedeutung der §§ 37 und 39 AVG.

Im Übrigen unterlagen beide Behörden einem rechtlichen Irrtum, wenn sie davon ausgingen, es käme auf eine (mögliche und bei entsprechender Sorgfalt zumutbare) Kenntnis der erwarteten Erledigung - unabhängig von deren ordnungsgemäßen Zustellung - an. Die postalische und mit allen gesetzlich vorgesehenen Rechtswirkungen ausgestattete Zustellung eines Bescheides dient gerade der Regelung dessen nachvollziehbaren Empfanges. Die bloße Kenntnisnahme anlässlich einer Nachfrage bei der Behörde ersetzt die ordnungsgemäße Zustellung eines Bescheides nicht.

Da die belangte Behörde daher ausgehend von einer vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht für die Sachentscheidung wesentliche Umstände ungeklärt ließ, belastete sie ihren Bescheid mit sekundären Verfahrensmängeln, weshalb er wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 455/2008, insbesondere dessen § 3 Abs. 2.

Wien, am 23. April 2009

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