VwGH 2006/21/0203

VwGH2006/21/020320.11.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Schmidl, über die Beschwerde des M, vertreten durch Mag. Michael Schuszter, Rechtsanwalt in 7000 Eisenstadt, Robert Graf Platz 1, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 17. Mai 2006, Zl. Senat-FR-06-0039, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FrPolG 2005 §76;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FrPolG 2005 §76;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG sowie seinen Antrag auf Kostenersatz gemäß § 79a AVG iVm § 83 Abs. 2 FPG ab und stellte unter einem gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass im Zeitpunkt ihrer Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorgelegen seien.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei mit seiner Ehefrau und den sechs gemeinsamen minderjährigen Kindern im September 2005 in Polen eingereist. Dort habe sich die gesamte Familie nach Asylantragstellungen bis April 2006 in einem Flüchtlingslager aufgehalten. Anschließend seien sie in die Slowakei gereist, wo sie ebenfalls Asylanträge gestellt hätten. Nach kurzem Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Slowakei seien der Beschwerdeführer und seine Familie in der Nacht vom 29. April 2006 auf 30. April 2006 unrechtmäßig nach Österreich weiter gereist, wobei kurz nach der Einreise der "Aufgriff durch die österreichische Grenzkontrolle" erfolgt sei.

Noch am 30. April 2006 habe der Beschwerdeführer einen Asylantrag gestellt. Die Reisedokumente des Beschwerdeführers und seiner Familie seien bei den polnischen Behörden verblieben. Am 4. Mai 2006 sei dem Beschwerdeführer eine Mitteilung gemäß § 29 Abs. 3 (Z 4) Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ausgefolgt worden. Es sei ihm zur Kenntnis gebracht worden, dass sein Asylantrag voraussichtlich zurückgewiesen werden würde, seit 4. Mai 2006 "Konsultationen mit Polen" geführt würden und gegen ihn ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden sei. Anlässlich der Zustellung dieser Mitteilung sei über den Beschwerdeführer die Schubhaft verhängt worden.

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, auf Grund der Aufenthalte des Beschwerdeführers in zwei anderen EU-Staaten vor der Asylantragstellung in Österreich würden Gründe zur Annahme vorliegen, dass der nunmehr gestellte Asylantrag mangels Zuständigkeit Österreichs zurückzuweisen sein werde. In diesem Sinne sei auch die Mitteilung des Bundesasylamtes am 4. Mai 2006 ergangen. Der Beschwerdeführer habe durch sein "Vorverhalten" gezeigt, dass ihn einreise- und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen in den einzelnen EU-Staaten "nicht sonderlich tangieren" würden und er sich samt seiner ganzen Familie durch "Untertauchen" und durch "illegale Grenzüberschreitungen" behördlichen Zugriffen im Zuge anhängiger Asylverfahren zu entziehen wisse. Das Vorliegen der in § 76 Abs. 2 Z 2 FPG genannten Tatbestandsvoraussetzungen sei nicht isoliert auf die Haft des Beschwerdeführers beschränkt, sondern sei auch unter den Aspekten einer notwendigen fremdenpolizeilichen Erfassung der gesamten Familie, die sich "offenkundig ohne Aufenthaltstitel in Bundesbetreuung in Österreich" befinde, zu sehen. Die Schubhaftverhängung gegen den Beschwerdeführer erfülle somit nicht nur den Zweck einer fremdenpolizeilichen Maßnahme "gegenüber diesem selbst, sondern auch sämtlicher weiterer Verfügungen in Bezug auf dessen Familie, die ohne Familienoberhaupt selbständig offenkundig keine Initiativen setzt, um laufende Asylverfahren zu verhindern". Unter dem Aspekt der Anwendung gelinderer Mittel im Sinne des § 77 FPG führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe keinerlei berufliche Bindungen im Inland, seine Familie müsse von der öffentlichen Hand im Rahmen der Bundesbetreuung erhalten werden, und sonstige "gesicherte soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet dürften" nicht bestehen. Der Beschwerdeführer habe sich mit seiner gesamten Familie bereits mehrfach asylbehördlichen Verfahren in anderen EU-Staaten entzogen. Nach Vorliegen der "gegenständlichen negativen Mitteilung und der Inkenntnissetzung über die beabsichtigte Abschiebung - wieder nach Polen -" sei ein Untertauchen des Beschwerdeführers mit der ganzen Familie in die Anonymität zu prognostizieren.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Akten durch die belangte Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass die bloße Inklusion der Kopie von Aktenteilen im angefochtenen Bescheid der in den §§ 58 bis 60 AVG normierten Begründungspflicht nicht genügt. Weder sind daraus nämlich mit ausreichender Deutlichkeit die Feststellung eines bestimmten Sachverhaltes noch eine nachvollziehbare Beweiswürdigung, die die belangte Behörde zu bestimmten Feststellungen veranlasst hat, ersichtlich (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. April 2008, Zl. 2006/21/0332).

Gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn nach den Bestimmungen des AsylG 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde.

In der Beschwerde wird nicht bestritten, dass Letzteres der Fall war. Jedoch wird vorgebracht, die belangte Behörde habe nicht erhoben, ob das Asylverfahren des Beschwerdeführers nicht zwischen Schubhaftverhängung und Erlassung des angefochtenen Bescheides zugelassen worden sei und dementsprechend das Ausweisungsverfahren gemäß § 27 Abs. 4 AsylG 2005 ex lege als eingestellt gegolten hätte. Dem ist zu entgegnen, dass sich dafür einerseits in den vorgelegten Akten kein Hinweis findet, und andererseits ein diesbezügliches Vorbringen in der Schubhaftbeschwerde nicht erstattet wurde. Der diesbezüglich vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verfahrensmangel liegt sohin nicht vor. Im Übrigen wird auch in der Beschwerde gar nicht behauptet, das Asylverfahren sei zugelassen worden.

Der belangten Behörde ist aber, was der Beschwerdeführer zutreffend rügt, vorzuwerfen, dass sie bei ihrer Prüfung nicht ausreichend berücksichtigt hat, dass ungeachtet des Vorliegens des Tatbestandes nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Inhaftierung des Beschwerdeführers, die anlässlich der Mitteilung nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 erfolgte, nur dann gerechtfertigt sein hätte können, wenn besondere Umstände vorgelegen wären, die (schon) in diesem Verfahrensstadium ein "Untertauchen" hätten befürchten lassen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, sowie hinsichtlich § 76 Abs. 2 Z 2 FPG im Speziellen etwa die hg. Erkenntnisse vom 7. Februar 2008, Zl. 2007/21/0402, und vom 28. Februar 2008, Zl. 2007/21/0391).

Im gegenständlichen Fall rückte die belangte Behörde den Umstand, dass der Beschwerdeführer den Ausgang zweier Asylverfahren, nämlich in Polen und in der Slowakei, nicht abgewartet hätte, zur Begründung des Sicherungsbedarfes in den Vordergrund. Dazu ist allerdings anzumerken, dass der Beschwerdeführer, der sich bloß kurz in der Slowakei aufhielt und nach dessen Angaben sein Zielland wegen hier lebender Verwandter von Anfang an Österreich war, sowohl gegenüber der Asylbehörde als auch der Fremdenpolizeibehörde diese Asylantragstellungen nicht verschwieg und auch Angaben über seine Identität und den Ablauf seiner bisherigen Reisebewegungen machte, deren Richtigkeit von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellt wurde. Angesichts dieser Umstände und vor dem Hintergrund der oben erwähnten hg. Judikatur ist nicht zu sehen, weshalb es schon in diesem frühen Verfahrensstadium konkret beim Beschwerdeführer der Verhängung der Schubhaft bedurfte, um das von der Asylbehörde eingeleitete Ausweisungsverfahren zu sichern. Soweit die belangte Behörde darauf abstellte, der Beschwerdeführer habe keine beruflichen Bindungen oder sonstige "gesicherte" soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, ist hier darauf hinzuweisen, dass das Heranziehen derartiger Gesichtspunkte bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers verfehlt ist. Der Frage der Integration kommt primär im (hier nicht gegebenen) Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu (vgl. das oben angeführte hg. Erkenntnis vom 28. Februar 2008).

Soweit die belangte Behörde die Haft des Beschwerdeführers auch unter Aspekten einer notwendigen fremdenpolizeilichen Erfassung der gesamten Familie für gerechtfertigt erachtete, verkannte sie, dass § 76 FPG die Anhaltung eines Fremden in Schubhaft nur zur Sicherung der ihn betreffenden dort genannten Verfahren bzw. seiner Abschiebung zulässt.

Letztendlich ist noch darauf hinzuweisen, dass entgegen der Ansicht der belangten Behörde Gesichtspunkte der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit keinen Grund für die Anhaltung in Schubhaft darstellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Februar 2007, Zl. 2006/21/0311).

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 20. November 2008

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