VwGH 2004/01/0409

VwGH2004/01/04096.12.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Mag. Nedwed und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Eisner, über die Beschwerde des E St. Pölten-Harland, vertreten durch Mag. Michael Steininger, Rechtsanwalt in 3100 St. Pölten, Schießstattring 35, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 28. Mai 2004, Zl. Senat-MB-03-2009, betreffend Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
SPG 1991 §28a Abs3;
SPG 1991 §29;
VStG §35 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
SPG 1991 §28a Abs3;
SPG 1991 §29;
VStG §35 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer wurde am 3. November 2003 durch ein Organ der Bundespolizeidirektion St. Pölten am Bahnhofsplatz in St. Pölten gemäß § 35 Z 1 VStG festgenommen. Gegen diese Maßnahme und die anschließende Anhaltung in der Dauer von zehn Minuten erhob der Beschwerdeführer eine Maßnahmenbeschwerde, die mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde "gemäß § 88 Abs. 1 SPG iVm § 67c Abs. 3 AVG" abgewiesen wurde.

Dem lag - sachverhaltsmäßig - zu Grunde, dass der Beschwerdeführer, ein Immobilienmakler, mit einer Kundin (Zeugin B.) am besagten Tag zunächst eine Wohnung besichtigt hatte und im Anschluss daran gegen 17.00 Uhr das Internetcafe auf dem Bahnhofsplatz betreten hatte, um dort mit seiner Kundin einen Besichtigungsschein auszufüllen. Das missfiel dem Angestellten des Lokals (Zeugen N.), weshalb es - so die belangte Behörde - in weiterer Folge "zu Diskussionen zwischen dem Beschwerdeführer und dem Zeugen N." gekommen sei. Wiederholten Aufforderungen des Zeugen N., das Lokal zu verlassen, sei der Beschwerdeführer nicht nachgekommen und er habe dem Zeugen "aufgrund seines jugendlichen Alters die Legitimität, ihn des Lokals zu verweisen," abgesprochen bzw. diesen "verbal attackiert." Der Zeuge N. habe daraufhin die Polizei verständigt, für die BzI H. eingeschritten sei. Dieser habe den Beschwerdeführer noch in der Lokalität angetroffen. In seiner Gegenwart sei es "sowohl im Filialbereich als auch davor neuerlich zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen dem Beschwerdeführer und dem Zeugen N. bzw. dem Beschwerdeführer und dem Beamten" gekommen, "die in einer Lautstärke und Art und Weise erfolgten, die dazu führte, dass Passanten im Bereich der dort befindlichen Bushaltestelle stehen" geblieben seien. Der Beschwerdeführer sei von BzI H. ermahnt bzw. aufgefordert worden, sich auszuweisen. Dieser Aufforderung sei der Beschwerdeführer nicht nachgekommen. Erst nach Androhung und Ausspruch der Festnahme habe er mitgeteilt, den Ausweis im Auto zu haben. Er sei von der Polizei dorthin eskortiert worden und habe sich ausgewiesen. Nach Durchführung der Identitätsfeststellung sei die Festnahme aufgehoben worden.

Diese Sachverhalt beurteilte die belangte Behörde rechtlich wie folgt:

Es könne bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Festnahme dahingestellt bleiben, ob der Beschwerdeführer bereits aufgrund der Durchführung bankfremder Geschäfte im Geschäftslokal trotz wiederholter Aufforderung, dieses Verhalten einzustellen bzw. das Lokal zu verlassen, eine Übertretung nach § 81 Abs. 1 SPG gesetzt habe. Unerheblich sei auch, ob die Auseinandersetzung im Lokal in Gegenwart des Beamten noch als Ordnungsstörung qualifiziert werden könne, "mithin, ob abgesehen vom Zeugen N. noch andere Personen am Verhalten des Beschwerdeführers Anstoß genommen" hätten. Vielmehr genüge es, dass der Polizeibeamte "hinsichtlich der Fortsetzung der lautstarken Diskussion einschließlich seitens des Beschwerdeführers getätigter Beschimpfungen bzw. Provokationen des Zeugen N. vor dem Lokal vertretbarerweise von einer Ordnungsstörung" durch den Beschwerdeführer ausgehen habe können. Da der Beschwerdeführer dem einschreitenden Organ unbekannt gewesen sei und seine Identität nicht auf andere Weise geklärt werden habe können, hätten sämtliche Voraussetzungen für eine Festnahme nach § 35 Z 1 VStG vorgelegen. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers sei die Zeugin B. keine taugliche Identitätszeugin gewesen, die eine Festnahme erübrigt hätte, weil sie den Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Amtshandlung noch nicht einmal eine Stunde gekannt habe. Die Festnahme habe solange aufrechterhalten werden dürfen, bis der Festnahmegrund durch Klärung der Identität des Beschwerdeführers (Vorzeigen seines Ausweises) weggefallen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde wendet sich gegen die Beweiswürdigung der belangten Behörde und strebt - wie schon in der Maßnahmenbeschwerde - Feststellungen mit dem Inhalt an, der Beschwerdeführer habe dem einschreitenden Polizisten über dessen Aufforderung seinen Namen bekannt gegeben und er habe - zur Ausweisleistung aufgefordert - wahrheitsgemäß angegeben, dass sich sein Ausweis in dem vor dem Postamt auf den Bahnhofsplatz geparkten (lediglich ca. 30 bis 50 m entfernten) Fahrzeug befinde. Trotzdem habe der Polizeibeamte "ohne jegliche sachliche Rechtfertigung" die Festnahme ausgesprochen.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof die Beweiswürdigung der belangten Behörde nur dahingehend zu überprüfen hat, ob sie den maßgebenden Sachverhalt ausreichend ermittelt hat und ihre Erwägungen schlüssig sind, was dann der Fall ist, wenn sie den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut nicht widersprechen. Dass die von der Behörde getroffenen Feststellungen mit einigen Beweisergebnissen in Widerspruch stehen, stellt gerade das Wesen der freien Beweiswürdigung dar, die dann unbedenklich ist, wenn sich die Behörde mit den widersprechenden Beweisergebnissen auseinander gesetzt hat. Insgesamt muss die Beweiswürdigung daher ein stimmiges Ganzes ergeben; die Richtigkeit einzelner Überlegungen ist hingegen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zu klären (vgl. hiezu etwa die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), 685 ff wiedergegebene hg. Rechtsprechung).

Zu Recht weist die Beschwerde darauf hin, dass die Beweiswürdigung der belangten Behörde zur Frage, ob der Beschwerdeführer schon vor der Festnahme bereit war, seinen Ausweis aus dem in der Nähe geparkten Auto zu holen, auch einer Schlüssigkeitsprüfung nicht standhält.

Die belangte Behörde hat es unterlassen, sich mit der Glaubwürdigkeit der Zeugin B. auseinander zu setzen, weil sie meinte, deren Aussage stehe nicht im Widerspruch zu jenen Beweisergebnissen, denen zufolge der Beschwerdeführer vor der Festnahme zur Ausweisleistung nicht bereit gewesen zu sein. Nach Ansicht der Behörde habe die Zeugin zeitlich nicht einordnen können, ob die Bereitschaft des Beschwerdeführers zur Ausweisleistung schon vor oder erst nach der Festnahme gegeben war. Eine solche Deutung der Aussage dieser Zeugin ist jedoch nicht möglich. Wörtlich führte die Zeugin B. bei ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde am 19. April 2004 Folgendes aus:

"Herr H wurde dann aufgefordert, sich auszuweisen und hat gesagt, dass er den Ausweis im Auto hätte und der Beamte doch mitgehen solle. Dieser wollte jedoch nicht und hat dann auch irgendetwas gesagt, dass Herr H allenfalls festgenommen würde.

...

Über die Aufforderung sich auszuweisen, hat Herr H gesagt, dass er den Ausweis im Auto beim Bahnhof hätte und hat mich auch noch gefragt, ob ich das eh auch gehört habe. Ich habe dies bejaht."

Eine schlüssige Beweiswürdigung hätte daher erfordert, diese - das Vorbringen des Beschwerdeführers unterstützende und im Widerspruch vor allem zu der Aussage des (festnehmenden) Polizeibeamten stehende - Aussage entsprechend zu würdigen.

Auch hätte die belangte Behörde - worauf die Beschwerde zu Recht verweist - die Aussagen des weiteren herbeigerufenen Polizeibeamten GrI. G. in ihrer Beweiswürdigung nicht übergehen dürfen, der anlässlich seiner Einvernahme vor der belangten Behörde (im Unterschied zu den übrigen Polizeibeamten) angegeben hatte, der Beschwerdeführer habe etwa über Fragen nach seinem Namen "immer nur gemeint ..., dass er den Reisepass im Auto hätte." Diese Darstellung steht etwa im Widerspruch zu den Angaben des gleichzeitig eingetroffenen Zeugen RvI U., wonach der Beschwerdeführer sich auch zu diesem Zeitpunkt noch geweigert haben soll, sich auszuweisen.

Diese Verfahrensmängel sind auch relevant. Dass die Bereitschaft des Beschwerdeführers, den Ausweis aus dem in der Nähe geparkten Fahrzeug zu holen, eine auf § 35 Z 1 VStG gestützte Festnahme unzulässig gemacht hätte, wird nämlich auch von der belangten Behörde nicht in Zweifel gezogen. Zur Klarstellung sei ungeachtet dessen betont, dass Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (außer in den gesetzlich besonders geregelten Fällen) gemäß § 35 Z 1 VStG Personen, die auf frischer Tat betreten werden, zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festnehmen dürfen, wenn der Betretene dem anhaltenden Organ unbekannt ist, sich nicht ausweist und seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar ist. Nach dem Zweck der Vorschrift (Identitätsfeststellung zur Sicherung der Strafverfolgung) einerseits und dem allgemein bestimmenden Verhältnismäßigkeitsgebot andererseits (vgl. Art. 1 Abs. 3 des Bundesverfassungsgesetzes vom 28. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit; BGBl. 1988/684, weiters § 28a Abs. 3 bzw. § 29 SPG; aus der hg. Rechtsprechung das Erkenntnis vom 22. Oktober 2002, Zl. 2000/01/0527) wäre es dem Polizeiorgan im gegenständlichen Fall zumutbar gewesen, die nach den Behauptungen des Beschwerdeführers geringe Wegstrecke zwischen dem Tatort und seinem geparkten PKW zurückzulegen, um dort eine Identitätsfeststellung mit Hilfe des Reisepasses vorzunehmen. Eine dennoch vorgenommene Festnahme erwiese sich dann als rechtswidrig.

Schon wegen dieser aufgezeigte Unschlüssigkeit der Beweiswürdigung kann der angefochtene Bescheid keinen Bestand haben.

Im fortgesetzten Verfahren wird überdies - anders als bisher -

darzustellen sein, aus welchen Gründen die belangte Behörde davon ausgeht, dass der Festnahme des Beschwerdeführers eine vor dem Lokal begangene Verwaltungsübertretung zugrunde lag. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass etwa die Bestrafung des Beschwerdeführers mit Strafverfügung vom 12. November 2003 auf der Grundlage der Anzeige des einschreitenden Polizisten wegen Begehung des Deliktes nach § 81 Abs. 1 SPG " in der Jugendbank der Volksbank" (Hervorhebung durch den Verwaltungsgerichtshof) erfolgt ist. Diese Diskrepanz wäre - wie die Beschwerde zu Recht rügt - aufzuklären.

Abschließend erweist sich das bisherige Ermittlungsverfahren auch deshalb als mangelhaft, weil es die belangte Behörde unterlassen hat, die Verhältnismäßigkeit der Festnahme unter dem Blickwinkel eines gelinderen Mittels nach § 37a Abs. 1 und 2 Z. 1 VStG der Prüfung zu unterziehen. Demnach kann besonders geschulten Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Ermächtigung erteilt werden, von der Festnahme (insbesondere nach § 35 Z. 1 VStG) abzusehen, wenn der betretene einen festgesetzten Geldbetrag als vorläufige Sicherheit freiwillig erlegt. Ob die Voraussetzungen für diese Vorgangsweise im gegenständlichen Fall vorlagen (womit eine dennoch ausgesprochene Festnahme unzulässig gewesen wäre), lässt sich weder den Verwaltungsakten noch der Bescheidbegründung entnehmen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Wien, am 6. Dezember 2007

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