VwGH 2006/19/0065

VwGH2006/19/006519.10.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden 1. des A R, 2. der N R, 3. der S R, und 4. der X R, alle in W, vertreten durch MMag. Dr. Franz Pechmann, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 6, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 21. Mai 2003, Zl. 229.824/0- V/13/02 und Zl. 229.823/0-V/13/02, jeweils Spruchpunkt I. betreffend § 7 Asylgesetz 1997, und vom 26. Mai 2003, Zl. 229.821/0-V/13/02 und Zl. 229.822/0-V/13/02, jeweils betreffend §§ 10 und 11 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §10;
AsylG 1997 §11;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 1997 §10;
AsylG 1997 §11;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat jeder der beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von je EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Die Mehrbegehren werden abgewiesen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, ein afghanisches Ehepaar tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit aus Kabul, gelangten am 28. September 2001 zusammen mit den gemeinsamen Kindern, der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin, in das Bundesgebiet. Sie beantragten Asyl und dessen Erstreckung auf die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin.

Das Bundesasylamt wies die Asylanträge des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin nach deren Einvernahme zu den Fluchtgründen am 13. März 2002 mit Bescheiden vom 14. Juni 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan aber gemäß § 8 AsylG für unzulässig. Mit zwei weiteren Bescheiden vom selben Tag wies es die namens der Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen gestellten Erstreckungsanträge gemäß §§ 10 und 11 AsylG ab.

Über die gegen die Abweisung der Asylanträge und der Asylerstreckungsanträge gerichteten Berufungen der beschwerdeführenden Parteien, zu denen die Zweitbeschwerdeführerin mit Eingabe vom 12. Juli 2002 einen Ergänzungsschriftsatz einbrachte, führte die belangte Behörde am 16. Mai 2003 unter Beiziehung des Sachverständigen Dr. Rasuly eine mündliche Berufungsverhandlung durch.

Mit jeweils Spruchpunkt I. des erst- und des zweitangefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufungen gegen die erstinstanzliche Abweisung der Asylanträge des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG ab. Mit dem dritt- und dem viertangefochtenen Bescheid wurden die Berufungen gegen die Abweisung der Erstreckungsanträge gemäß §§ 10 und 11 AsylG abgewiesen.

Dagegen richten sich die vorliegenden, vom Verwaltungsgerichtshof wegen des sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die belangte Behörde hat ihrer Entscheidung mit einer Ausnahme (Beteiligung des Erstbeschwerdeführers an Kämpfen gegen die Mudjaheddin beim Sturz der kommunistischen Regierung) das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zugrunde gelegt. Danach war der Erstbeschwerdeführer vor der Machtergreifung der Mudjaheddin Mitglied der kommunistischen Partei und als Beamter in mittlerer Position in einem Ministerium tätig. Die Zweitbeschwerdeführerin arbeitete - nach mehrjähriger Ausbildung im westlichen Ausland - im Erziehungswesen. Beide mussten ihre bis dahin ausgeübte berufliche Tätigkeit unter den Mudjaheddin beenden. Sie berufen sich darauf, dass die Mudjaheddin nach dem Sturz der Taliban - unter denen der Familie wegen des Verdachts geheimer Unterrichtserteilung durch die Zweitbeschwerdeführerin nachgestellt wurde - wieder an der Macht und "nicht viel besser" seien. In der Gegend, in der die beschwerdeführenden Parteien gewohnt hätten, wohnten auch nach wie vor Taliban, sie hätten nur "den Turban weggenommen".

Eine sich aus diesen Sachverhaltselementen für den Fall einer Rückkehr der beschwerdeführenden Parteien in den Herkunftsstaat ergebende asylrelevante Verfolgungsgefahr hat die belangte Behörde, gestützt auf die Berichtslage und die Ausführungen des Sachverständigen in der Berufungsverhandlung, verneint.

Die belangte Behörde ist aber dem Vorbringen entsprechend auch davon ausgegangen, die beschwerdeführenden Parteien hätten Afghanistan letztlich - noch während der Herrschaft der Taliban - wegen eines die Drittbeschwerdeführerin betreffenden, unter Druck der Taliban zustande gekommenen Heiratsversprechens verlassen und sie könnten im Falle der Rückkehr den Nachstellungen der "sehr traditionell denkenden" Familie des Brautwerbers ausgesetzt sein. In der mündlichen Berufungsverhandlung wurde in diesem Zusammenhang u.a. vorgebracht, den namentlich genannten Kommandanten des Brautwerbers "gebe es" auch jetzt, er gehöre der Itehade Islami an.

In Bezug auf dieses in der Berufungsverhandlung in den Vordergrund gerückte Bedrohungsbild meint die belangte Behörde in der Begründung der den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Bescheide, es sei keine "Duldung oder Förderung" einer solchen Privatverfolgung durch die nunmehrigen Machtinhaber dargetan worden und es habe auch nicht erkannt werden können, dass "jegliche Art von Hilfestellung von Seiten staatlicher Instanzen" aus Konventionsgründen versagt werden würde. Der Sachverständige habe "eindeutig und unmissverständlich" ausgesagt, dass "staatliche Autoritäten ... einschreiten würden", wenn diese private Angelegenheit an sie herangetragen werden würde.

Gegen diesen Teil der Begründung dieser Bescheide wenden sich die Beschwerden mit Hinweisen auf Zweideutigkeiten und relativierende Beifügungen in den Ausführungen des Sachverständigen. Dieser Kritik ist jedenfalls insoweit beizupflichten, als aus den Feststellungen der belangten Behörde, soweit sie in den Ausführungen des Sachverständigen auf der Grundlage der von ihm erörterten Sachverhaltselemente Deckung finden, nicht nachvollziehbar hervorgeht, dass der staatliche Schutz ausreichen würde, um den beschwerdeführenden Parteien eine Rückkehr ohne wohlbegründete Furcht vor den Nachstellungen der "sehr traditionell" eingestellten (ehemaligen) Taliban-Familie des enttäuschten Brautwerbers zu ermöglichen.

Nach den sprachlich zum Teil etwas unklaren Ausführungen des Sachverständigen müssten die beschwerdeführenden Parteien, wenn die gegnerische Familie "in der Tradition sehr behaftet" sei, damit rechnen, dass diese "bis zum Äußersten gehen" würde, "das heißt auch Totschlag". Maßgeblich sei die "Stellung" der Familie des Mädchens. Sei die Familie des Mädchens "gebildet", so könne sie eine Anzeige erstatten. Sie erhalte dann - was die Beschwerden in den Ausführungen des Sachverständigen besonders hervorheben - zwar "ad hoc keinen Schutz", die Behörde "könne" jedoch die gegnerische Familie vorladen und ein Strafverfahren einleiten, "falls sie nicht einsichtig ist". Allerdings könne "der Staat nicht hindern, in Tradition behafteten Menschen, sich für einen solchen Fall, nämlich das Versprechen eines Mädchens für den Sohn einer Familie, sich zu rächen". Weiters führte der Sachverständige noch aus, wenn "diese Familie" (dem Zusammenhang nach offenbar die des Brautwerbers) "mächtiger" sei als die andere, so könnte "sie nicht von der anderen Familie angegriffen werden". Die Bemerkung des Sachverständigen, der Staat werde "eingreifen", wenn "die Familie beim Staat vorstellig wird", bezieht sich (mit der Wendung "In diesem Falle") nur auf den vorangegangenen Satz, wonach niemand mehr einen anderen "unter dem Titel 'Taleb' ... verfolgen oder Anspruch auf eine in ihrer Herrschaftszeit beschlossene Sache stellen" könne.

Tragend wäre für die angefochtenen Entscheidungen in Bezug auf den festgestellten ausschlaggebenden Ausreisegrund nur die Ansicht der belangten Behörde, eine allfällige Versagung ausreichenden Schutzes würde nicht aus Konventionsgründen erfolgen. Stünde dies in Bezug auf eine ihrerseits nicht auf Konventionsgründen beruhende Privatverfolgung fest, so könnten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin tatsächlich - wie von der belangten Behörde angenommen - auf den gewährten Abschiebungsschutz verwiesen werden.

Die belangte Behörde hat es jedoch verabsäumt, den Sachverständigen seine eher abstrakten Ausführungen über die Maßgeblichkeit des Kräfteverhältnisses zwischen den an einem solchen Konflikt beteiligten Familien im Hinblick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles konkretisieren zu lassen. Der Umstand, dass es sich beim Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin um Personen handelt, die auf Grund ihrer persönlichen Lebensgeschichte schon vor der Machtergreifung der Taliban in politisch bedingte Schwierigkeiten geraten waren, ist in der Berufungsverhandlung und in den angefochtenen Bescheiden nur isoliert in Bezug auf die Eignung, für sich genommen unter den jetzigen Verhältnissen eine asylrelevante Verfolgungsgefahr zu begründen, beurteilt worden. Die Auswirkungen dieses Umstandes auf die zu erwartende Neigung der nunmehrigen "staatlichen Autoritäten", den beschwerdeführenden Parteien gegenüber einer traditionell eingestellten Familie, die auch nach dem Sturz der Taliban den "an der Regierung beteiligten" Kreisen zuzurechnen sei (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls), Schutz zu gewähren, blieben ungeprüft.

Indem die belangte Behörde somit zwar (auf Seite 5 des die Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Bescheides) eine volksgruppenbezogene Diskriminierung bei der Schutzgewährung ("in concreto gegenüber einem ethnischen Tadschiken") ausdrücklich ausschloss, zur Frage des Einflusses der schon seinerzeit unter den Mudjaheddin erlebten Schwierigkeiten auf die nunmehrige Schutzgewährung aber keine Feststellungen traf und diese Sachverhaltselemente nur isoliert würdigte, hat sie in diesem Punkt die Rechtslage verkannt (vgl. zum Erfordernis einer kombinierenden Gesamtbetrachtung nur beispielsweise etwa die hg. Erkenntnisse vom 17. September 2002, Zl. 2001/01/0003, vom 30. September 2004, Zl. 2001/20/0458, vom 21. März 2006, Zl. 2005/01/0247, und vom 27. April 2006, Zl. 2003/20/0181).

Der erst- und der zweitangefochtene Bescheid waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben, was mit Rücksicht darauf, dass sich der dritt- und der viertangefochtene Bescheid auf die Abweisung des Asylantrages des Erstbeschwerdeführers stützen, auch deren Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes zur Folge hat.

Von der in den Beschwerden beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Den Mehrbegehren (jeweils Gebühr gemäß § 24 Abs. 3 VwGG) war im Hinblick auf die gewährte Verfahrenshilfe nicht stattzugeben.

Wien, am 19. Oktober 2006

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