VwGH 2006/19/0030

VwGH2006/19/003016.2.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Trefil, über die Beschwerde des H, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, gegen Spruchpunkt I. des am 13. Dezember 2001 verkündeten und am 28. Jänner 2002 schriftlich ausgefertigten Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 219.668/14-I/01/02, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;
AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;

 

Spruch:

Der angefochtene Spruchpunkt wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte - damals 15-jährig - am 28. Juni 2000 in das Bundesgebiet und beantragte Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 19. Juli 2000 gab er zusammengefasst an, aus Hayratan im Norden Afghanistans (an der Grenze zu Usbekistan) zu stammen, der turkmenischen Volksgruppe anzugehören und zuletzt bei einem Onkel in Mazar-i-Sharif gewohnt zu haben. Sein Vater sei bis 1997 stellvertretender Sicherheitsdirektor in Hayratan gewesen und habe Dostum unterstützt. Vor der Ausreise des Beschwerdeführers im April 2000 hätten die Taliban - vermutlich auf Grund eines anonymen Hinweises - in Mazar-i-Sharif versucht, des Beschwerdeführers habhaft zu werden, um von ihm den Aufenthaltsort seines Vaters in Erfahrung zu bringen. Seine 1998 verstorbene Mutter sei Mitglied der DVPA und Angestellte einer Firma gewesen, die Lebensmittel aus der ehemaligen Sowjetunion importiert habe. Auch das könnte ein Grund für Verfolgungsmaßnahmen seitens der Taliban sein.

Ein Vertrauensanwalt der Österreichischen Botschaft in Islamabad teilte dem Bundesasylamt auf Anfrage mit, der Vater des Beschwerdeführers - hinsichtlich dessen der Beschwerdeführer Personaldokumente und andere Unterlagen vorgelegt hatte - sei "a ruthless administrator" gewesen und werde beschuldigt, "atrocities" begangen zu haben. Es werde vermutet, dass er nach Europa geflohen sei.

Mit Spruchpunkt I. des Bescheides vom 23. Oktober 2000 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab. Mit Spruchpunkt II. erklärte es seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für zulässig. Diese Entscheidung gründete sich im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer auf Grund der von ihm vorgelegten Unterlagen wohl der "Familie" der von ihm als Vater bezeichneten Person "zuzuordnen" sei. Es sei aber unglaubwürdig, dass die Taliban, die schon im August 1998 in Mazari-Sharif die Macht übernommen hätten, erst im April 2000 auf den Beschwerdeführer aufmerksam geworden wären und in der von ihm beschriebenen Weise versucht hätten, seiner habhaft zu werden. Er habe "keinerlei Umstände glaubhaft angeben können, die auf eine individuelle Verfolgung durch staatliche bzw. quasi-staatliche Institutionen aus einem der in Artikel 1 Abschnitt A Zif. 2 der GFK genannten Gründe hindeuten". Das Bundesasylamt vertrete auch die "Auffassung, dass sich für Ihre Person gegenwärtig kein Abschiebungshindernis nach Afghanistan ergibt".

Über die vom Jugendwohlfahrtsträger namens des minderjährigen Beschwerdeführers erhobene Berufung verhandelte die belangte Behörde - unter Beiziehung des Sachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly - am 23. März 2001 sowie (unter zusätzlicher Verwertung eines am 11. Juni 2001 vom Sachverständigen erstellten schriftlichen Gutachtens) am 13. Dezember 2001.

Mit Spruchpunkt I. ihres am 13. Dezember 2001 verkündeten Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen die Abweisung des Asylantrages gemäß § 7 AsylG ab. Mit den Spruchpunkten II. und III. erklärte sie die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan für nicht zulässig und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

In der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides begründete die belangte Behörde die Abweisung des Asylantrages unter Bezugnahme auf Art. 1 Abschnitt C Z 5 FlKonv vor allem mit der "notorischen Tatsache, dass die Taliban zum Zeitpunkt der mündlichen Bescheidverkündung am 13.12.2001 als politisches System nicht mehr existieren". Sie seien "ab dem Zeitpunkt 10.12.2001 vollständig abgezogen". Seitens der Taliban drohe dem Beschwerdeführer keine Gefahr mehr.

In Bezug auf die - im schriftlichen Gutachten des Sachverständigen behandelte - Gefahr privater Blutrache seitens der Familien von Personen, die unter der Amtsführung des Vaters des Beschwerdeführers zu leiden gehabt hätten, verwies die belangte Behörde den Beschwerdeführer auf die von ihr geteilte Ansicht des Sachverständigen in der fortgesetzten Berufungsverhandlung, der Beschwerdeführer als "Sohn eines hohen Beamten Dostums" könne sich nunmehr "unter den Schutz von General Dostum stellen", der in der Heimatregion des Beschwerdeführers wieder an der Macht sei.

In der vorliegenden Beschwerde gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wird geltend gemacht, es sei im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides "einfach zu früh" gewesen, um auf Grund der seit der Flucht des Beschwerdeführers eingetretenen Änderungen der Verhältnisse in Afghanistan festzustellen, der Beschwerdeführer sei nicht mehr Flüchtling. Gelte dies schon in Bezug auf das von der belangten Behörde zugrunde gelegte "Ende der Taliban", so sei die Annahme eines "dauernden Einflusses der Truppen des Generals Dostum", deren Schutz vor privater Blutrache der minderjährige Beschwerdeführer nach Ansicht der belangten Behörde in Anspruch nehmen solle, im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vollends "unhaltbar" gewesen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

Die Ausführungen des Sachverständigen in der Verhandlung am 13. Dezember 2001 zur Frage des nunmehrigen Schutzes des Beschwerdeführers vor privater Verfolgung lauteten im Wesentlichen wie folgt:

"Hayratan gehört zu der Provinz Balkh, mit der Provinzhauptstadt Mazar i Sharif. In Nordwestafghanistan, mit dem Zentrum Mazar i Sharif, herrschen die ehemaligen Gruppen ...

Maßgebende Gruppe ist die Gruppe von General Dostum. Hayratan wird

definitiv von der Gruppe des General Dostum kontrolliert. ... Das

heißt in Hayratan herrschen die ehemaligen Weggefährten des Vaters

des BW. ... Nachdem der Vater des BW ... zu der damaligen

Herrschaftsklasse bzw. der derzeitigen, gehörte, haben diese Personen, wie der Vater des BW und seine Angehörigen, eine andere Stellung in der derzeitigen Gesellschaft als unter dem Talibanregime. Eine bedeutende offizielle Person in Afghanistan, vor allem außerhalb Kabuls, lebt in ihrem Familienverband. Dieser Familienverband genießt Privilegien während der Amtszeit seines Verwandten, zum Beispiel der Vater des BW. Daher ändert sich die Situation für den BW insofern, dass die verbliebenen Familienmitglieder des BW einerseits als Opfer des Talibanregimes, andererseits als Verwandte eines hohen Beamten des General Dostums wieder Privilegien unter General Dostum besitzen. Daher hat der BW unter General Dostum die Voraussetzungen von seiner Familie bzw. der Freunde seines Vaters, die an der Macht sind, einen Schutz zu bekommen, wenn er diesen verlangt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die afghanische Gesellschaft nach 22 Jahren Krieg und dessen Ergebnis, nämlich die Zerstörung, Hunger und Zwistigkeiten in der gesamten Gesellschaft in einer Situation ist, dass alle Afghanen in einer Situation der Unsicherheit leben. Gerade deshalb ist die Weltgemeinschaft für den Einsatz einer internationalen Gruppe um die Sicherheit in diesem Land zu garantieren. Zudem ist eine neue Regierung eingesetzt worden, die die Ethnie des General Dostum, zu der der BW und auch ich, der SV, gehören, im allgemeinen einschließt. Die anfänglichen Konflikte, die aufgetaucht waren, sind inzwischen beseitigt. General Dostum wird die neue provisorische Regierung akzeptieren. Dies ist in den Pressemeldungen vom 12.12.2001 ausführlich dokumentiert worden."

Die auf dieser Grundlage getroffene Feststellung der belangten Behörde, der Beschwerdeführer könne sich "bei einer möglichen Rückkehr unter den Schutz von General Dostum stellen", ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes von vornherein zu allgemein, um daraus - ausgehend davon, dem Beschwerdeführer drohten Nachstellungen von Personen, die selbst oder deren Angehörige durch die Amtsführung seines Vaters in Mitleidenschaft gezogen worden waren - den Verlust der Flüchtlingseigenschaft abzuleiten. Es wird nicht klar, ob die belangte Behörde etwa meint, der Beschwerdeführer - im Zeitpunkt der Entscheidung ein allein stehender Minderjähriger - könne sich an General Dostum persönlich wenden, um den erforderlichen Schutz zu "verlangen", oder welche sonstigen "Freunde seines Vaters" nach Ansicht der belangten Behörde dafür in Betracht kämen, und welche Art von "Schutz" der minderjährige Beschwerdeführer nach Ansicht der belangten Behörde erhalten würde. Insoweit in den zugrunde gelegten Ausführungen des Sachverständigen wiederholt auch auf den Schutz durch einen "Familienverband" bzw. die "Familie" Bezug genommen wird, scheint ein Zusammenhang mit der Situation des Beschwerdeführers ganz zu fehlen, zumal der Beschwerdeführer in der Berufungsverhandlung angegeben hat, in Afghanistan keine Verwandten ihm bekannten Aufenthaltes mehr zu haben.

Davon abgesehen hat die belangte Behörde nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Annahme einer grundlegenden politischen Veränderung im Herkunftsstaat, aus der sich der Verlust der zunächst - nach der zumindest hypothetischen Annahme der belangten Behörde - gegebenen Flüchtlingseigenschaft ergeben soll, eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse voraussetzt, für deren Beurteilung es in der Regel eines längeren Beobachtungszeitraumes bedarf (vgl. zuletzt etwa das Erkenntnis vom 1. April 2004, Zl. 2001/20/0286, und die Nachweise in dem darin zitierten Vorerkenntnis vom 21. November 2002, Zl. 99/20/0171). Die belangte Behörde hat sich stattdessen an dem hg. Erkenntnis vom 3. Mai 2000, Zl. 99/01/0359, orientiert und nicht erkannt, dass die dort behandelte, auf einem Abkommen beruhende Einrichtung einer UN-Verwaltung im Kosovo mit den Umständen des Sturzes der Taliban in Afghanistan nicht vergleichbar ist (vgl. in diesem Sinn auch die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0032 und Zl. 2006/19/0045).

Der angefochtene Spruchpunkt war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 16. Februar 2006

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