VwGH 2004/08/0229

VwGH2004/08/022926.1.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Strohmayer, Dr. Köller und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des O in L, vertreten durch Dr. Heinrich Vana, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Taborstraße 10/2, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 1. Juni 2004, Zl. MA 15-II-2-75/2004, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei:

Pensionsversicherungsanstalt in 1020 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1) zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §227 Z1;
ASVG §228 Abs1 Z3;
ASVG §502 Abs6;
ASVG §227 Z1;
ASVG §228 Abs1 Z3;
ASVG §502 Abs6;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Einspruch des am 26. Dezember 1922 geborenen Beschwerdeführers gegen den Bescheid der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt vom 6. November 2003 gemäß § 66 Abs. 4 AVG als unbegründet abgewiesen und der bekämpfte Bescheid bestätigt.

Nach der Begründung dieses Einspruchsbescheides habe die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt mit dem erstinstanzlichen Bescheid die beantragte begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten für den Beschwerdeführer mit der Begründung abgelehnt, dass er seit dem 1. Juli 1927 bis zur Emigration weder Beitragszeiten noch Ersatzzeiten erworben habe und auch die Voraussetzungen für die Anwendung des § 502 Abs. 6 ASVG nicht vorlägen. Gegen diesen Bescheid habe der Beschwerdeführer mit der Begründung Einspruch erhoben, dass er am 12. März 1938 bereits 14 Jahre alt gewesen sei. Sein Bruder beziehe auf Grund eines ähnlichen Sachverhaltes eine österreichische Pension.

Nach Zitierung der angewendeten gesetzlichen Bestimmungen führt die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer bis September 1937 ein näher genanntes Realgymnasium in Wien besucht und sich in der Zeit von September bis Dezember 1937 in England aufgehalten habe, um sich Englischkenntnisse anzueignen. Er sei Mitte Dezember 1937 über Weihnachten wieder nach Wien zurückgekehrt und habe ab Jänner 1938 eine Schule in England besucht. Durch die Ereignisse des 13. März 1938 sei er an der geplanten Rückkehr nach Österreich gehindert gewesen. Der Beschwerdeführer war nach den Feststellungen der belangten Behörde bis 31. Juli 1938 bei seinem Vater in Wien gemeldet.

Der Beschwerdeführer habe - so die belangte Behörde weiter - nach dem "gesetzlichen Stichtag 1. Juli 1927" bis zur Emigration keine Beitragszeiten gemäß § 226 ASVG bzw. Ersatzzeiten gemäß §§ 228 oder 229 leg. cit. in der Pensionsversicherung zurückgelegt. Unbestritten sei seine Zugehörigkeit zu dem in § 500 ASVG genannten Personenkreis sowie die Tatsachen, dass er am 12. März 1938 den Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich gehabt und am 26. Dezember 1922 geboren worden sei. Nach der Aktenlage habe der Beschwerdeführer die für eine Begünstigung gemäß § 502 Abs. 4 ASVG erforderliche Vorversicherungszeit in der Pensionsversicherung nicht aufzuweisen, da er nach Vollendung des 15. Lebensjahres keine inländische Schule im Sinne des § 227 Abs. 1 Z. 1 in Verbindung mit § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG besucht habe. Auch § 502 Abs. 7 erster Satz ASVG sei nicht anwendbar, da er das Schuljahr nicht aus einem der im § 500 genannten Gründe abbrechen musste, sondern nach eigenen Angaben "im September 1937 freiwillig nach England gegangen ist, um sich Englischkenntnisse anzueignen und eine Schulausbildung zu beginnen".

Er sei aber auch nicht im Sinne des § 502 Abs. 6 ASVG am Erwerb von Versicherungszeiten gehindert gewesen, da er solche Zeiten - beispielsweise durch den Besuch einer inländischen öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule im Sinne des § 227 Abs. 1 Z. 1 ASVG - hätte erwerben können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat ein Vorverfahren eingeleitet und zugleich die belangte Behörde gemäß § 38 Abs. 2 VwGG aufgefordert, sich zu der Frage zu äußern, ob der angefochtene Bescheid im Hinblick auf die anscheinend gegebene Vergleichbarkeit des Sachverhaltes nicht im Widerspruch zur Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes im Sinne des Erkenntnisses vom 20. Dezember 1994, Zl. 94/08/0115, stünde.

Die belangte Behörde hat daraufhin die Verwaltungsakten vorgelegt und erklärt, im Hinblick auf den Vorhalt des Verwaltungsgerichtshofes von der Erstattung einer Gegenschrift abzusehen. Die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt hat sich am Beschwerdeverfahren nicht beteiligt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer - ungeachtet seines vorübergehenden Aufenthaltes in England zum Zwecke der Verbesserung der Sprachkenntnisse - seinen Wohnsitz bei seinem Vater in Wien nicht vor dem 12. März 1938 aufgegeben hatte (worauf nicht zuletzt auch die erhobenen Meldedaten hinweisen). Insoweit liegen die Voraussetzungen für die Anrechnung seiner Auswanderung (in der Erscheinungsform einer "verhinderten Rückkehr", vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 2. Juli 1981, Zl. 08/2628/78, mit zahlreichen Hinweisen auf die Vorjudikatur, sowie die Erkenntnisse vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80, und vom 20. Dezember 1994, Zl. 94/08/0133) aus Gründen der Verfolgung wegen seiner jüdischen Abstammung als Versicherungszeit vor.

Im Beschwerdeverfahren ist ausschließlich strittig, ob auf den Beschwerdeführer die Bestimmung des § 502 Abs. 6 ASVG anzuwenden ist.

Nach dieser Bestimmung gelten § 502 Abs. 1 und 4 ASVG (betreffend die Anrechnung solcher Zeiten als Beitragszeiten in der Pensionsversicherung) auch für Personen, die vor der Haft, Strafe, Anhaltung, Arbeitslosigkeit, Ausbürgerung oder Auswanderung aus Gründen, auf die der (die) Betreffende keinen Einfluss hatte, keine Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß den §§ 228 und 229 zurückgelegt hatten, sofern der (die) Betreffende am 12. März 1938 seinen (ihren) Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich hatte und, in den Fällen des Abs. 4, im Kalenderjahr 1938 und früher das 6. Lebensjahr vollendet hat.

Im Beschwerdefall ist daher zu untersuchen, ob der Beschwerdeführer aus Gründen, auf die er keinen Einfluss hatte, am Erwerb der genannten Versicherungszeiten gehindert war.

Die belangte Behörde hat diese Frage mit dem Hinweis auf die Möglichkeit des Erwerbs von Ersatzzeiten gemäß § 227 Abs. 1 Z. 1 in Verbindung mit § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG durch den Besuch einer öffentlichen Schule verneint.

Entgegen der Auffassung der belangten Behörde kann aber nicht die Rede davon sein, dass der Beschwerdeführer durch den Besuch einer inländischen öffentlichen Schule eine Ersatzzeit gemäß § 227 Abs. 1 Z. 1 in Verbindung mit § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG hätte erwerben können. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 4. Juli 1980, Zl. 2377/77, ausgeführt hat, zeigt diese Bestimmung über die Anrechnung und die Lagerung von Zeiten des Schulbesuches in Verbindung mit § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG, dass eine Teilberücksichtigung von Ersatzzeiten ausgeschlossen sein soll (vorbehaltlich der Sonderbestimmung des § 502 Abs. 7 ASVG):

Wenn somit der Versicherte das 15. Lebensjahr nach dem 1. November vollendet habe, so könne das in diesem Jahr begonnene Schuljahr nicht angerechnet werden, da die nach Vollendung des 15. Lebensjahres zurückgelegten Schulbesuchszeiten kein volles Schuljahr erreichen würden.

Da der Beschwerdeführer nach dem 1. November 1937 (nämlich erst am 26. Dezember 1937) das 15. Lebensjahr vollendet hat, kam nach der vorzitierten Entscheidung das Schuljahr 1937/38 als Ersatzzeit gemäß § 228 Abs. 1 Z. 3 in Verbindung mit § 227 Abs. 1 Z. 1 ASVG von vornherein nicht in Betracht, sodass nicht gesagt werden kann, dass die Bestimmung des § 502 Abs. 6 ASVG auf den Beschwerdeführer nicht anwendbar wäre (vgl. auch das gegenüber einer am 13. Dezember 1922 geborenen Beschwerdeführerin ergangene Erkenntnis vom 20. Dezember 1994, Zl. 94/08/0115).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003, wobei auf § 110 ASVG hingewiesen wird.

Wien, am 26. Jänner 2005

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