VwGH 2004/08/0217

VwGH2004/08/021726.1.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Köller, Dr. Moritz und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde der I in S, vertreten durch Mag. Rudolf Lind, Rechtsanwalt in 2103 Langenzersdorf, Korneuburger Straße 25, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom 1. September 2004, Zl. LGS NÖ/RAG/12181/2003, betreffend Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §10 Abs1;
AlVG 1977 §10 Abs2;
AlVG 1977 §7;
AlVG 1977 §9 Abs3;
AlVG 1977 §10 Abs1;
AlVG 1977 §10 Abs2;
AlVG 1977 §7;
AlVG 1977 §9 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Am 12. Mai 2004 nahm die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice mit der Beschwerdeführerin eine Niederschrift betreffend die Nichtannahme bzw. das Nichtzustandekommen einer zugewiesenen Beschäftigung auf. Darin ist festgehalten, dass der Beschwerdeführerin am 6. Mai 2004 vom Arbeitsmarktservice eine Beschäftigung als Hilfskraft beim Dienstgeber L. (einem Gastgewerbebetrieb) "mit einer Entlohnung von brutto nach Vereinbarung" und möglichem Arbeitsantritt am 13. Mai 2004 zugewiesen worden sei. Die Beschwerdeführerin gab zu Protokoll, sie habe gegen die Arbeitszeit Einwendungen. Die Arbeitszeit wäre "im Wechseldienst", auch abends und am Wochenende. Am Abend könne sie nicht arbeiten, da ihre Mutter, die im gemeinsamen Haushalt wohne, ein Pflegefall sei. Als berücksichtigungswürdigen Grund gab die Beschwerdeführerin an, sie sei von 1979 bis 2003 bei dem Unternehmen R. beschäftigt gewesen und hätte eine Arbeitszeit von 07.00 bis 16.00 Uhr gehabt. Daher sei die Pflege ihrer Mutter dort kein Problem gewesen.

Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vom 2. Juni 2004 wurde ausgesprochen, dass die Beschwerdeführerin den Anspruch auf Arbeitslosengeld gemäß § 10 AlVG für den Zeitraum vom 13. Mai 2004 bis 23. Juni 2004 verloren habe. Nachsicht werde nicht erteilt. Der angeführte Zeitraum verlängere sich um die in ihm liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen würde. Begründend führte die Behörde erster Instanz im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe sich geweigert, eine vom Arbeitsmarktservice vermittelte zumutbare Beschäftigung beim Unternehmen L. ab 13. Mai 2004 anzunehmen. Berücksichtigungswürdige Nachsichtsgründe lägen nicht vor.

In ihrer Berufung gegen diesen Bescheid legte die Beschwerdeführerin dar, sie habe die vermittelte Stelle "wegen der angebotenen Arbeitszeit" mit Nachtschicht und Wochenendarbeit nicht annehmen können, da sie eine Betreuungspflicht habe. Ihre Mutter sei seit eineinhalb Jahren nach einem Schlaganfall pflegebedürftig und werde von ihr betreut. Eine Tagesarbeit oder Teilzeitbeschäftigung könne die Beschwerdeführerin aber annehmen.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung keine Folge. In der Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin sei verheiratet und lebe mit ihrem Ehemann, der seit 1. Mai 1996 eine Berufsunfähigkeitspension beziehe, im gemeinsamen Haushalt. Aus den in den Verfahrensunterlagen aufliegenden Anträgen gehe nicht hervor, dass die Mutter der Beschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt lebe. Die Beschwerdeführerin besitze einen Führerschein der Gruppe B, und ein eigener PKW sei vorhanden. Am 6. Mai 2004 sei ihr eine Beschäftigung als Hilfskraft beim Unternehmen L. mit zumindest kollektivvertraglicher Entlohnung, einer Arbeitszeit von 40 Stunden in der Woche, welche im "Radeldienst" von 09.00 bis 23.00 Uhr zu absolvieren sei, und möglichem Arbeitsantritt am 13. Mai 2004 angeboten worden. Die Beschwerdeführerin habe sich am 12. Mai 2004 bei dem Unternehmen vorgestellt und wäre laut Rückmeldung des potenziellen Dienstgebers mit 13. Mai 2004 eingestellt worden. Festgestellt wurde ferner, dass die Strecke vom Wohnort der Beschwerdeführerin (S.) bis zum Arbeitsort (B.) 25 km betrage und mit einem PKW in 26 Minuten zurückgelegt werden könne. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen komme es nach § 9 Abs. 3 AlVG u.a. darauf an, dass durch die Beschäftigung die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet werde. Voraussetzung hiefür sei demnach, dass die Versorgung deshalb gefährdet werde, weil der Arbeitslose wegen der längeren Anfahrtszeiten im Verhältnis zu einer Beschäftigung am Wohn- oder Aufenthaltsort bei der Versorgung seiner Familienangehörigen beeinträchtigt wäre. Im vorliegenden Fall betreue die Beschwerdeführerin laut ihren Angaben, die mangels Entscheidungsrelevanz nicht verifiziert worden seien, ihre nach einem Schlaganfall pflegebedürftige und im gemeinsamen Haushalt lebende Mutter. Die Beschwerdeführerin sei "jedoch nicht zum Unterhalt ihrer Mutter verpflichtet". Weiters sei der Beschwerdeführerin eine Beschäftigung 25 km außerhalb ihres Wohnortes zugewiesen worden. Im Hinblick auf das Vorhandensein eines eigenen PKWs und die Entfernung von 25 km liege keine längere Anfahrtszeit im Verhältnis zur Beschäftigung am Wohnort vor. Bei dieser wohnortnahen Beschäftigung wäre daher wie bei einer Beschäftigung am Wohnort nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 3 AlVG auf Betreuungspflichten gar nicht Bedacht zu nehmen. Bei der vom Unternehmen geforderten Arbeitszeit im Rahmen von 09.00 Uhr bis 23.00 Uhr im "Radeldienst" handle es sich auch um eine am Arbeitsmarkt in dieser Branche übliche Arbeitszeit, und das bedeute nicht, dass die Arbeitszeit jeden Tag erst um 23.00 Uhr ende. Die zugewiesene Beschäftigung entspreche sohin den Zumutbarkeitsbestimmungen des § 9 AlVG. Berücksichtigungswürdige Umstände im Sinne des § 10 Abs. 2 AlVG lägen nicht vor. Die Pflege der Mutter könne nicht als Nachsichtsgrund im Sinne des Gesetzes anerkannt werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 9 Abs. 1 bis 3 AlVG in der hier zeitraumbezogen maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 103/2001 hat folgenden Wortlaut:

"Arbeitswilligkeit

§ 9. (1) Arbeitswillig ist, wer bereit ist,

(2) Zumutbar ist eine Beschäftigung, die den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist, seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist und dem Arbeitslosen eine künftige Verwendung in seinem Beruf nicht wesentlich erschwert. Die letzte Voraussetzung bleibt bei der Beurteilung, ob die Beschäftigung zumutbar ist, außer Betracht, wenn der Anspruch auf den Bezug des Arbeitslosengeldes erschöpft ist und keine Aussicht besteht, daß der Arbeitslose in absehbarer Zeit in seinem Beruf eine Beschäftigung findet.

(3) Eine Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen ist zumutbar, wenn hiedurch die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird und am Orte der Beschäftigung, wenn eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht möglich ist, entsprechende Unterkunftsmöglichkeiten bestehen."

§ 10 AlVG in der zeitraumbezogen maßgebenden Fassung BGBl. Nr. 201/1996 lautet auszugsweise:

"§ 10. (1) Wenn der Arbeitslose

- sich weigert, eine ihm von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, oder

...

verliert er für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Liegt im Zeitraum eines Jahres vor dem Beginn eines Anspruchsverlustes bereits ein früherer Anspruchsverlust, so beträgt der im ersten Satz genannte Zeitraum acht Wochen. Die Zeiten des Anspruchsverlustes verlängern sich um die in ihnen liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen wurde.

(2) Der Ausschluß vom Bezug des Arbeitslosengeldes ist in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie zB Aufnahme einer anderen Beschäftigung, ganz oder teilweise nachzusehen. Vor dieser Nachsicht sowie vor Erlassung einer Entscheidung gemäß Abs. 1 ist der Regionalbeirat anzuhören."

Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, dass § 9 Abs. 3 AlVG gar nicht zur Anwendung komme. Unter Berufung auf das hg. Erkenntnis vom 23. April 2003, Zl. 2002/08/0275, macht die Beschwerdeführerin geltend, im Hinblick auf die Pflege ihrer Mutter läge eine beschränkte Verfügbarkeit vor, weshalb die ihr zugewiesene Beschäftigung nicht zumutbar gewesen sei.

Die Regelungen des § 7 AlVG betreffend die Verfügbarkeit haben in der hier zeitraumbezogen maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 28/2004 auszugsweise folgenden Wortlaut:

§ 7. (1) Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer

  1. 1. der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht,
  2. 2. die Anwartschaft erfüllt und
  3. 3. die Bezugsdauer noch nicht erschöpft hat.

(2) Der Arbeitsvermittlung steht zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf (Abs. 3) und arbeitsfähig (§ 8), arbeitswillig (§ 9) und arbeitslos (§ 12) ist.

(3) Eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf eine Person,

1. die sich zur Aufnahme und Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotenen, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften entsprechenden zumutbaren versicherungspflichtigen Beschäftigung bereithält,

...

(5) Während des Bezuges von Kinderbetreuungsgeld liegt die Voraussetzung des Abs. 3 Z 1 nur dann vor, wenn das Kind von einer anderen geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung betreut wird.

..."

Unbestritten erfolgte im vorliegenden Fall die Zuweisung einer Beschäftigung außerhalb des Wohnortes der Beschwerdeführerin. Die belangte Behörde hat daher schon insofern die Rechtslage verkannt, als sie trotz dieses Umstandes und des Vorbringens der Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 3 AlVG nicht geprüft hat. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf § 143 ABGB die Mutter der Beschwerdeführerin zu jenen Angehörigen zählt, die im Sinne des § 9 Abs. 3 AlVG unterhaltsberechtigt sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 22. Dezember 1998, Zl. 96/08/0398; vgl. auch Dirschmied/Pfeil, AlVG, 3. Auflage, S. 95, Anmerkung zu den §§ 9 bis 11 AlVG).

Hätte die belangte Behörde entsprechende Ermittlungen zu Betreuungspflichten im Hinblick auf § 9 Abs. 3 AlVG durchgeführt, so wäre im Sinne des Beschwerdevorbringens auch ein Ergebnis möglich gewesen, nach dem die Verfügbarkeit der Beschwerdeführerin hätte verneint werden müssen (angesichts dessen erübrigt es sich hier darauf einzugehen, ob in der gegebenen Konstellation ebenso wie bei Betreuungspflichten gegenüber minderjährigen Kindern eine Einschränkung der Verfügbarkeit in Frage käme, vgl. dazu - allerdings zu Beschäftigungen am Wohnort des Arbeitslosen - das von der Beschwerdeführerin zitierte hg. Erkenntnis vom 23. April 2003 und auch das hg. Erkenntnis vom 4. August 2004, Zl. 2003/08/0033, eine Beschäftigung außerhalb des Wohnortes des Arbeitslosen betreffend ferner das hg. Erkenntnis vom 4. August 2004, Zl. 2003/08/0034; vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 21. April 2004, Zl. 2004/08/0007, betreffend eine Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt). Wie der Verwaltungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis vom 22. Dezember 1998 zum dort zur Entscheidung gestandenen Fall ausgeführt hat, ist es im Hinblick auf § 9 Abs. 3 AlVG entscheidend, ob der Arbeitslose durch die Aufnahme der zugewiesenen Beschäftigung außerhalb seines Wohnortes die von ihm bisher erbrachte notwendige Versorgung seiner pflegebedürftigen Mutter nicht mehr hätte erbringen können. Da aber im Regelfall eine dadurch allenfalls eintretende Gefährdung durch andere zumutbare Vorkehrungen vermieden werden könne, sei eine solche nur so lange anzunehmen, als unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Falles die notwendige Versorgung nicht durch derartige Vorkehrungen leicht möglich wäre. Sollte der Pflegebedarf der Mutter einen solchen zeitlichen Umfang erfordern, der auch eine Beschäftigung am Wohnort ausschließen würde, und der Arbeitslose nach den tatsächlichen Verhältnissen diese Pflege auch nicht kurzfristig an andere Personen übertragen können, dann wäre nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes im zitierten hg. Erkenntnis vom 22. Dezember 1998 keine Verfügbarkeit im Sinne des § 7 AlVG und damit auch kein Anspruch auf Arbeitslosengeld gegeben.

Im Übrigen ist die Beschwerdeführerin auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach welcher berücksichtigungswürdig im Sinne des § 10 Abs. 2 AlVG nur solche Gründe sein können, die dazu führen, dass der Ausschluss vom Bezug des Arbeitslosengeldes den Arbeitslosen aus bestimmten Gründen (finanziell) unverhältnismäßig härter trifft, als dies sonst ganz allgemein der Fall ist (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 18. Oktober 2000, Zl. 99/08/0116, mwN). Dass eine solche gegenüber anderen Arbeitslosen unverhältnismäßige finanzielle Belastung durch die geltend gemachten Betreuungspflichten eintreten würde, hat die Beschwerdeführerin aber gar nicht behauptet (vgl. dazu auch das hg. Erkenntnis vom 5. September 1995, Zl. 94/08/0252).

Der angefochtene Bescheid war aus den oben genannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 26. Jänner 2005

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