VwGH 96/08/0398

VwGH96/08/039822.12.1998

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des P in H, vertreten durch Dr. Stefan Holter, Rechtsanwalt in

4710 Grieskirchen, Rossmarkt 21, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich vom 30. Oktober 1996, Zl. B 1-12896806-11, betreffend Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §7 Abs1 Z1;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z1;
AlVG 1977 §9 Abs3;
BPGG 1993 §1;
AlVG 1977 §7 Abs1 Z1;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z1;
AlVG 1977 §9 Abs3;
BPGG 1993 §1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.920,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Eferding vom 19. Juli 1996 wurde ausgesprochen, der Beschwerdeführer habe den Anspruch auf Arbeitslosengeld gemäß § 10 AlVG für den Zeitraum 4. Juli bis 14. August 1996 verloren, Nachsicht werde nicht gewährt. In der Begründung wurde nach auszugsweiser Wiedergabe der im Spruch genannten Gesetzesstelle ausgeführt, der Beschwerdeführer habe die ihm zugewiesene Beschäftigung bei einer namentlich genannten Firma ohne triftigen Grund nicht angenommen. Gründe für die Nachsicht lägen nicht vor.

Der Beschwerdeführer erhob Berufung. Darin führte er aus, es liege keine Arbeitsverweigerung vor. Er habe den ihm übermittelten Vermittlungsvorschlag mit der Erklärung des präsumtiven Arbeitgebers "nicht eingestellt" abgegeben.

Im Rahmen des Berufungsverfahrens gab die belangte Behörde dem Beschwerdeführer die Mitteilung des präsumtiven Arbeitgebers an das Arbeitsmarktservice über den Inhalt des Einstellungsgespräches bekannt und ersuchte um fristgebundene Stellungnahme. In dieser Mitteilung war als Grund für die Nichtannahme der Beschäftigung durch den Beschwerdeführer angegeben worden, "Weg zu weit - offensichtlich keine Lust".

Der Beschwerdeführer führte in seiner Stellungnahme vom 19. August 1996 - soweit für die Erledigung der Beschwerde von Bedeutung - aus, seine 74jährige Mutter sei sehr krank (Pflegestufe 3) und deshalb könne sie nicht alleine bleiben. Er habe also die Pflege alleine übernommen.

Im Akt findet sich eine Bestätigung des praktischen Arztes Dr. Heinrich Spörker vom 18. Juli 1996 des Inhaltes: "Es wird hiermit bestätigt, daß Frau (Mutter des Beschwerdeführers, an seiner Anschrift wohnhaft) an amyotropher Lateralsklerose leidet. Es besteht eine ausgesprochene motorische Aphasie und Dysphagie mit großer Gefahr der Aspiration. Eine Betreuung und Beaufsichtigung durch den Sohn Peter ist daher notwendig, da andere Angehörige auswärts in Beschäftigung stehen." Nach dem ebenfalls im Akt befindlichen Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 18. Juli 1996 wurde der Mutter des Beschwerdeführers Pflegegeld ab 1. Juni 1996 in der Höhe der Stufe 3 nach dem Bundespflegegeldgesetz zuerkannt.

Mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung nicht statt. In der Begründung führte die belangte Behörde nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens und Wiedergabe der anzuwendenden Gesetzesbestimmungen soweit für die Erledigung der Beschwerde von Bedeutung aus, durch die Gewährung des monatlichen Pflegegeldes an die Mutter des Beschwerdeführers sollte sie in die Lage versetzt werden, die notwendigen Pflegeaufwendungen finanzieren zu können. Keinesfalls sei damit verbunden, daß diese Pflege von Familienangehörigen zu erfolgen habe. Eine persönliche Verpflichtung des Beschwerdeführers, diese Pflege zu verrichten, sei dadurch nicht festgelegt worden. Die Bestätigung des genannten Arztes könne eine derartige Verpflichtung ebenfalls nicht bewirken. Der Beschwerdeführer habe die Pflege seiner Mutter alleine übernommen und daher die ihm zugewiesene Beschäftigung nicht angenommen. Dies könne zwar von ihm ins Treffen geführt werden, sei jedoch im Sinne des § 9 Abs. 3 AlVG nicht zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer sei zum Unterhalt seiner Mutter durch den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter nicht verpflichtet worden. Die Versorgung seiner Mutter werde hiedurch nicht gefährdet.

In der gegen diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobenen Beschwerde erachtet sich der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Fortbezug des Arbeitslosengeldes für den Zeitraum vom 4. Juli bis 14. August 1996 verletzt. Sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes als auch einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften führt der Beschwerdeführer ausschließlich aus, die belangte Behörde habe gänzlich unbeantwortet gelassen, inwieweit die Pflegebedürftigkeit seiner Mutter bei Vermittlung einer Beschäftigung außerhalb seines Wohnortes gemäß § 9 Abs. 3 AlVG zu berücksichtigen sei. Die Pflegebedürftigkeit seiner Mutter stehe fest. Der Arzt habe in seiner Bestätigung darauf hingewiesen, daß keine anderen Familienmitglieder als der Beschwerdeführer für die Pflege der Mutter in Frage kämen, weil die anderen Familienangehörigen außerhalb des Wohnortes ihrer Arbeit nachgingen. Aus dieser Bestätigung des Arztes ergebe sich, daß seine Mutter der ständigen Pflege bedürfe. Gemäß § 143 ABGB sei der Beschwerdeführer zum Unterhalt gegenüber seiner Mutter verpflichtet. Die Aufnahme der ihm angebotenen Arbeit hätte die Versorgung seiner Mutter nicht nur gefährdet, sondern gänzlich zum Erliegen gebracht. Dies ergebe sich eindeutig aus seinen Angaben im Verwaltungsverfahren sowie der vorgelegten Bestätigung des Arztes und dem Inhalt des Bescheides der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist strittig, ob dem Beschwerdeführer die außerhalb seines Wohnortes zugewiesene Beschäftigung zumutbar war. Der Behauptung des Beschwerdeführers, die von ihm allein übernommene Betreuung und Beaufsichtigung seiner pflegebedürftigen Mutter sei bei einer solchen Beschäftigung nicht möglich, setzt die belangte Behörde entgegen, daß hiedurch die Versorgung der Mutter des Beschwerdeführers nicht gefährdet sei, weil sie im Bezug des Pflegegeldes stehe.

Die Zumutbarkeit einer zugewiesenen Beschäftigung ist nach § 9 Abs. 2 bis 5 AlVG zu prüfen.

Gemäß § 9 Abs. 2 AlVG ist eine Beschäftigung zumutbar, die den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist, seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist und dem Arbeitslosen eine künftige Verwendung in seinem Beruf nicht wesentlich erschwert. Die letzte Voraussetzung bleibt bei der Beurteilung, ob die Beschäftigung zumutbar ist, außer Betracht, wenn der Anspruch auf den Bezug des Arbeitslosengeldes erschöpft ist und keine Aussicht besteht, daß der Arbeitslose in absehbarer Zeit in seinem Beruf eine Beschäftigung findet. Nach § 9 Abs. 3 AlVG ist eine Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen zumutbar, wenn hiedurch die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird und am Orte der Beschäftigung, wenn eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht möglich ist, entsprechende Unterkunftsmöglichkeiten bestehen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung innerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen ausschließlich die Kriterien des § 9 Abs. 2 AlVG maßgebend und ist demnach auf die im Falle der Annahme der zugewiesenen Beschäftigung drohende Gefährdung der Versorgung der Familienangehörigen, zu deren Unterhalt der Arbeitslose verpflichtet ist, nicht Bedacht zu nehmen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 6. Mai 1997, Zl. 97/08/0096, mit weiteren Judikaturhinweisen).

Bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen kommt es nun allerdings nach § 9 Abs. 3 AlVG unter anderem auch darauf an, daß "hiedurch" (also durch die Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes und nicht im Wohn- oder Aufenthaltsort) die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird. Voraussetzung hiefür ist demnach, daß deshalb, weil der Arbeitslose wegen dieser Beschäftigung nicht täglich an seinen Wohn- oder Aufenthaltsort zurückkehren kann, oder weil ihm zwar eine solche Rückkehr möglich ist, er aber wegen der längeren Anfahrtszeiten - im Verhältnis zu einer Beschäftigung im Wohn- oder Aufenthaltsort - in der Versorgung der genannten Familienangehörigen beeinträchtigt ist, die Versorgung dieser Angehörigen gefährdet wird.

Da die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keine offene Stelle in seinem Wohnort zugewiesen hat (oder zuweisen konnte), hätte sie zu prüfen gehabt, ob durch die Beschäftigung des Beschwerdeführers außerhalb seines Wohnortes eine Gefährdung der Pflege seiner Mutter eintreten werde. Aus § 9 Abs. 3 AlVG ergibt sich nämlich, daß die vom Arbeitslosen schon bisher neben seiner Erwerbstätigkeit vorgenommene Versorgung eines dem Kreis der Unterhaltsberechtigten zuzuzählenden Angehörigen durch die zugewiesene Beschäftigung außerhalb seines Wohnortes nicht gefährdet werden soll. Die Feststellungen des angefochtenen Bescheides lassen die Beurteilung, ob die Versorgung der Mutter des Beschwerdeführers durch die Aufnahme der ihm zugewiesenen Beschäftigung außerhalb seines Wohnortes gefährdet worden wäre, entgegen der Auffassung der belangten Behörde nicht zu: Der von der Behörde hervorgehobene Umstand, daß die Mutter des Beschwerdeführers im Bezug des Pflegegeldes steht, stellt nämlich für sich noch nicht sicher, daß ihre Versorgung nicht gefährdet ist. Das Pflegegeld hat zwar gemäß § 1 BPGG den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen, stellt aber die Pflegeleistungen an sich nicht bei. Ob der Beschwerdeführer zur Übernahme der notwendigen Pflegeleistungen verpflichtet ist, ist nicht entscheidend, weil § 9 Abs. 3 AlVG die Gefährdung der tatsächlichen Versorgung einer an sich unterhaltsberechtigten Person hintanhalten will. Im Beschwerdefall ist daher entscheidend, ob der Beschwerdeführer durch die Aufnahme der zugewiesenen Beschäftigung außerhalb seines Wohnortes die von ihm bisher erbrachte notwendige Versorgung seiner pflegebedürftigen Mutter nicht mehr hätte erbringen können. Da aber im Regelfall eine dadurch allenfalls eintretende Gefährdung durch andere zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann, ist sie nur solange anzunehmen, als unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Falles die notwendige Versorgung nicht durch solche Vorkehrungen leicht möglich ist. Sollte das Ermittlungsverfahren jedoch ergeben, daß der Pflegebedarf der Mutter des Beschwerdeführers einen solchen zeitlichen Umfang erfordert, der auch eine Beschäftigung am Wohnort ausschließen würde und der Beschwerdeführer nach den tatsächlichen Verhältnissen diese Pflege auch nicht kurzfristig an andere Personen übertragen kann, dann wäre der Beschwerdeführer i.S.d. § 7 Abs. 1 Z. 1 i.V.m. Abs. 3 Z. 1 AlVG nicht verfügbar und hätte schon deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 22. Dezember 1998

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