VwGH 2002/08/0238

VwGH2002/08/023820.4.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Strohmayer, Dr. Köller und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des B in F, vertreten durch Dr. Nikolaus F. Mair, Rechtsanwalt in 6010 Innsbruck, Müllerstraße 27, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom 5. September 2002, Zl. Vd-SV-1001- 2-68/2/Au, betreffend Haftung für Beitragsschuldigkeiten gemäß § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse, 6020 Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §114;
ASVG §59;
ASVG §60;
ASVG §67 Abs10;
StGB §5;
ASVG §114;
ASVG §59;
ASVG §60;
ASVG §67 Abs10;
StGB §5;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 9. Juli 2001 wurde der Beschwerdeführer gemäß § 67 Abs. 10 ASVG verpflichtet, einen Betrag von S 251.036,11 zuzüglich Verzugszinsen seit dem 1. Februar 2001 in der sich nach § 59 Abs. 1 ASVG jeweils ergebenden Höhe zu bezahlen. Die S. GmbH, deren Geschäftsführer der Beschwerdeführer im fraglichen Zeitraum gewesen sei, schulde der mitbeteiligten Partei die Dienstnehmerbeiträge für die Zeit von Juni 2000 sowie August 2000 bis Oktober 2000 (in Höhe von S 87.072,97) und Ordnungsbeiträge gemäß § 56 ASVG laut Vorschreibung vom 12. März 2001 in der genannten Höhe. Die Einbringlichmachung dieser Forderung sei nicht möglich gewesen. Der beim Landesgericht Innsbruck eingebrachte Konkursantrag sei mangels hinreichenden Vermögens am 14. März 2001 abgewiesen worden.

Im erstinstanzlichen Verfahren hatte der Vertreter des Beschwerdeführers der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse mit Schreiben vom 11. Juni 2001 Folgendes mitgeteilt:

"Meinem Mandanten war es vor allem deshalb nicht möglich, die fraglichen Beträge abzuführen, da es im fraglichen Zeitraum zur Unterschlagung eines Betrages von ca. ATS. 350.000,-- kam (durch einen Angestellten). Es war dies Anfang Juli 2000, es wurde seither laufend die Rückzahlung dieses Betrages in Aussicht gestellt und wäre es dann möglich gewesen, die Abgaben zu entrichten. Bis heute wurde aber keine Rückzahlung geleistet. (...) (Den Beschwerdeführer) trifft an der Nichtabführung der Beiträge somit kein Verschulden und wird beantragt das Verfahren einzustellen."

Der Beschwerdeführer erhob Einspruch. Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse brachte vor, der Haftungsbetrag von S 251.036,11 setze sich aus laufenden Beiträgen für Juni 2000 in Höhe von S 35.131,95, für August 2000 in Höhe von S 15.512,86, für September und Oktober 2000 aus Beiträgen in Höhe von je S 18.214,08, aus einem Beitragszuschlag in Höhe von S 1.800,--, aus Ordnungsbeiträgen in Höhe von S 150.264,--, aus Exekutionskosten in Höhe von S 4.602,82 sowie aus Verzugszinsen in Höhe von S 7.296,32 zusammen.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch als unbegründet ab. Dem Argument des Beschwerdeführers, im fraglichen Zeitraum sei ein hoher Geldbetrag durch einen Angestellten unterschlagen worden und er habe sich auf die Zusage eines Schuldners über die Zahlung eines höheren Betrages verlassen, sei entgegenzuhalten, dass nicht seine Schuldlosigkeit am Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der S. GmbH bzw. sein Vertrauen auf die Zahlungszusage eines Schuldners, sondern nur die Erfüllung seiner sozialversicherungsrechtlichen Pflichten eine Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG ausschließen könne. Er habe verabsäumt darzulegen, aus welchen besonderen Gründen die rechtzeitige Abfuhr der Sozialversicherungsbeiträge unterblieben sei. Aus seinem Vorbringen lasse sich seine Schuldlosigkeit an dem Entstehen der Beitragsrückstände nicht ableiten. Der Tatbestand des § 114 ASVG sei erfüllt, wenn der Dienstgeber die gesamten Barmittel zur Bezahlung der Löhne verwende und sich dadurch bewusst unfähig mache, Beiträge an die Sozialversicherung abzuführen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor. Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. § 67 Abs. 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften (offene Handelsgesellschaft, offene Erwerbsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Kommandit-Erwerbsgesellschaft) berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können. Vermögensverwalter haften, soweit ihre Verwaltung reicht, entsprechend.

Seit dem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 12. Dezember 2000, Slg. Nr. 15.528/A, vertritt der Verwaltungsgerichtshof in Abkehr von seiner früheren ständigen Rechtsprechung nunmehr die Auffassung, dass unter den "den Vertretern auferlegten Pflichten" im Sinne dieser Gesetzesstelle in Ermangelung weiterer in den gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich normierter Pflichten des Geschäftsführers im Wesentlichen die Melde- und Auskunftspflichten, soweit diese im § 111 ASVG iVm § 9 VStG auch gesetzlichen Vertretern gegenüber sanktioniert sind, sowie die im § 114 Abs. 2 ASVG umschriebene Verpflichtung zur Abfuhr einbehaltener Dienstnehmerbeiträge zu verstehen sind. Auf die nähere Begründung dieses Erkenntnisses wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

Zu Unrecht hat die belangte Behörde die Haftung des Beschwerdeführers auch für jene Teile der Gesamtforderung angenommen, die aus dem gegen die Gesellschaft verhängten Beitragszuschlag, den Ordnungsbeiträgen, den Exekutionskosten und den Verzugszinsen resultieren. Es ist nicht erkennbar, dass eine der vom Verwaltungsgerichtshof im bereits genannten Erkenntnis des verstärkten Senates vom 12. Dezember 2000, VwSlg. Nr. 15.528/A, für die Haftung für erforderlich bezeichneten schuldhaften Pflichtverletzungen eines Geschäftsführers für die Uneinbringlichkeit der genannten Forderungsteile kausal sein könnten (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 27. Juli 2001, Zl. 2001/08/0061, vom 26. Mai 2004, Zl. 2001/08/0209, und vom 4. August 2004, Zl. 2002/08/0145). Eine Haftung des Geschäftsführers für die genannten Forderungsteile kommt daher nicht in Frage.

2. Gemäß § 114 Abs. 1 ASVG ist ein Dienstgeber strafbar, der Beiträge eines Dienstnehmers zur Sozialversicherung einbehalten oder von diesem übernommen und dem berechtigten Versicherungsträger vorenthalten hat. Trifft die Pflicht zur Einzahlung der Beiträge eines Dienstnehmers zur Sozialversicherung eine juristische Person, eine Personengesellschaft des Handelsrechts oder eine Erwerbsgesellschaft, so ist diese Bestimmung gemäß § 114 Abs. 2 erster Satz ASVG auf alle natürlichen Personen anzuwenden, die dem zur Vertretung befugten Organ angehören.

Unabhängig vom Gleichbehandlungsgebot verletzt der Geschäftsführer, der entgegen den Bestimmungen der §§ 60 iVm 114 ASVG die einbehaltenen Beiträge (Dienstnehmeranteile) nicht der Sozialversicherung abführt, seine gesetzlichen Pflichten im Zusammenhang mit der Beitragsentrichtung, weil diesen Bestimmungen ein Gebot der Abfuhr tatsächlich einbehaltener Dienstnehmeranteile zu Grunde liegt. In subjektiver Hinsicht muss dem Geschäftsführer in Ansehung aller Tatbestandelemente Vorsatz zur Last liegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. Februar 2001, Zl. 99/08/0142). Als "einbehalten" sind nicht nur jene Dienstnehmeranteile an Sozialversicherungsbeiträgen anzusehen, die bei der Lohn- oder Gehaltsauszahlung an den Dienstnehmer beim Dienstgeber bar verbleiben. Es genügt auch die rechnungsmäßige Kürzung der Löhne und Gehälter um den vom Dienstnehmer zu tragenden Sozialversicherungsbeitrag bei der Auszahlung (Auszahlung der Nettolöhne). Vorenthalten sind die auf diese Weise einbehaltenen Dienstnehmeranteile frühestens ab dem Anfangszeitpunkt der gesetzlichen Verzugszinsen im Sinne des § 59 ASVG (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 4. August 2004, Zl. 2004/08/0063). Gemäß § 59 Abs. 1 ASVG sind von rückständigen Beiträgen Verzugszinsen zu entrichten, wenn die Beiträge nicht innerhalb von 15 Tagen nach Fälligkeit eingezahlt werden. Die allgemeinen Beiträge sind gemäß § 58 Abs. 1 ASVG am letzten Tag des Kalendermonates fällig, in den das Ende des Beitragszeitraumes fällt. Der genannte "Anfangszeitpunkt" deckt sich daher nicht mit der Fälligkeit des Anspruchs auf das Entgelt.

3.1. Die verfahrensgegenständlichen Beiträge für Juni 2000 waren am 30. Juni 2000 fällig und sind nach dem Gesagten vom Beschwerdeführer frühestens ab dem 15. Juli 2000 iSd § 114 Abs. 1 ASVG vorenthalten worden. Der Beschwerdeführer hat im Verwaltungsverfahren vorgebracht, dass es "Anfang Juli 2000" zur Unterschlagung eines Betrages von ca. S 350.000,-- durch einen Angestellten gekommen sei. Nur im Fall einer Rückzahlung dieses Betrages wäre er in der Lage gewesen, die Beiträge abzuführen.

Im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde ist dieses Vorbringen nicht grundsätzlich ungeeignet, ein Verschulden des Beschwerdeführers an der Nichtabführung der Beiträge für Juni 2000 auszuschließen. Denn träfe seine Behauptung zu und wäre er am 15. Juli 2000 ohne die behauptete spätere Unterschlagung in der Lage gewesen, die geschuldeten Beiträge zu entrichten, so könnte nicht gesagt werden, dass er die bei Lohn- oder Gehaltsauszahlung an den Dienstnehmer zurückbehaltenen Dienstnehmeranteile der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vorsätzlich vorenthalten hat. Er konnte im - festzustellenden - Zeitpunkt der Auszahlung des Nettolohnes möglicherweise nicht wissen, dass die Gesellschaft nicht in der Lage sein werde, die besagten Beiträge zu entrichten.

Der Beschwerdeführer ist damit in Bezug auf die Beiträge für Juni 2000 seiner Pflicht nachgekommen, darzulegen, weshalb er nicht dafür Sorge tragen konnte, dass die Beitragsschulden rechtzeitig (zur Gänze) entrichtet wurden. Hat der Geschäftsführer aber nicht nur ganz allgemeine, sondern einigermaßen konkrete sachbezogene Behauptungen aufgestellt, die nicht schon von vornherein aus rechtlichen Gründen unmaßgeblich sind, so hat ihn die Behörde vorerst zu einer solchen Präzisierung und Konkretisierung seines Vorbringen und zu entsprechenden Beweisanboten aufzufordern, die ihr - nach allfälliger Durchführung eines danach erforderlichen Ermittlungsverfahrens - die Beurteilung ermöglichen, ob den Geschäftsführer ein Verschulden an der Nichtentrichtung der Beiträge trifft (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 19. Februar 1991, Zl. 90/08/0100, und vom 4. Oktober 2001, Zl. 98/08/0368). Die belangte Behörde hätte sich im Sinne der wiedergegebenen Rechtsprechung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinander setzen müssen und diesen insbesondere zu entsprechenden Beweisanboten bezüglich der von ihm bisher bloß behaupteten Unterschlagung und deren Auswirkung auf die finanzielle Lage der S. GmbH auffordern müssen, um eine Überprüfung der Richtigkeit seines Vorbringens zu ermöglichen.

3.2. Hingegen ist das Vorbringen des Beschwerdeführers, es wäre Anfang Juli 2000 ein Geldbetrag unterschlagen worden und er habe mit dem Eingang von Zahlungen gerechnet, ungeeignet, sein Verschulden an der Nichtabführung der Beiträge August bis Oktober 2000 auszuschließen. Nach dem bereits zitierten Erkenntnis Zl. 2004/08/0063 wäre der Vorsatz des Beschwerdeführers nur dann auszuschließen, wenn er bereits im Zeitpunkt der Lohnzahlungen mit Sicherheit mit dem Eingang der zur Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge erforderlichen Mittel innerhalb der Zahlungsfrist des § 59 ASVG hätte rechnen dürfen. Diese Sicherheit war aber nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gegeben. Er hat vielmehr bei der Auszahlung der Nettolöhne bewusst in Kauf genommen, dass die von ihm lediglich erhofften Zahlungen nicht fristgerecht geleistet würden.

4. Der angefochtene Bescheid war ungeachtet seiner bloß teilweisen Rechtswidrigkeit mangels Teilbarkeit seines Spruches zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Stempelgebührenersatz war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 ASVG) nicht zuzusprechen.

Wien, am 20. April 2005

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