Normen
AVG §52;
AVG §69 Abs1 litb;
AVG §52;
AVG §69 Abs1 litb;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der belangten Behörde vom 16. November 2000 ist der Berufung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice Wien vom 18. Oktober 2000, mit welchem die Einstellung des Arbeitslosengeldes ab 21. September 2000 mangels Arbeitsfähigkeit verfügt worden war, keine Folge gegeben worden. Begründend ist, ebenso wie im erstinstanzlichen Bescheid, ausgeführt worden, die ärztliche Begutachtung des arbeitsmedizinischen Zentrums des Wiener Roten Kreuzes vom 21. September 2000 habe ergeben, die Beschwerdeführerin sei nicht mehr arbeitsfähig.
Nach Erhalt dieses ärztlichen Gutachtens hat die Beschwerdeführerin am 16. Oktober 2000 bei der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension gestellt.
Mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 23. Februar 2001 ist der Antrag der Beschwerdeführerin mangels Berufsunfähigkeit abgewiesen worden. In der Begründung ist ausgeführt worden, aus dem von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten eingeholten ärztlichen Gutachten gehe hervor, dass die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin nicht so weit herabgesunken sei, dass die Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit oder eine Tätigkeit innerhalb der gleichen Berufsgruppe nicht mehr möglich wäre.
Gegen den Bescheid hat die Beschwerdeführerin Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien erhoben. Mit Schreiben vom 20. April 2001 hat sie die Wiederaufnahme des Verfahrens bei der belangten Behörde beantragt. Die Untersuchung im Zusammenhang mit ihrer Antragstellung auf Berufsunfähigkeitspension durch die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten habe ergeben, dass das der Entscheidung auf Einstellung von Arbeitslosengeld zu Grunde liegende ärztliche Gutachten des arbeitsmedizinischen Zentrums des Wiener Roten Kreuzes offensichtlich falsch sei. Aus dem von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten eingeholten Gutachten gehe die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin hervor, die sogar die Möglichkeit der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit gebiete.
Mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid der belangten Behörde ist dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens keine Folge gegeben worden. In der Begründung hat die belangte Behörde im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe gegen den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten Klage beim Arbeits- und Sozialgericht eingebracht, weshalb neuerliche Untersuchungen zu erfolgen hätten und nicht auszuschließen sei, dass das ärztliche Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, welches zur Abweisung des Antrages auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension geführt habe, falsch sei und das ärztliche Gutachten des arbeitsmedizinischen Zentrums somit der Richtigkeit entsprechen würde. Aus diesem Grund sei ein Tatbestand des § 69 AVG für die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gegeben.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn kostenpflichtig aufzuheben.
Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahren vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Nach § 7 Abs. 1 AlVG hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer
- 1. der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht,
- 2. die Anwartschaft erfüllt und
- 3. die Bezugsdauer noch nicht erschöpft hat.
Gemäß § 7 Abs. 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf (Abs. 3) und arbeitsfähig (§ 8), arbeitswillig (§ 9) und arbeitslos (§ 12) ist.
Arbeitsfähig ist gemäß § 8 AlVG, wer nicht invalid beziehungsweise nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 255, 273 beziehungsweise 280 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ist.
Gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. ist der Arbeitslose, wenn sich Zweifel über die Arbeitsfähigkeit ergeben, verpflichtet, sich auf Anordnung der regionalen Geschäftsstelle ärztlich untersuchen zu lassen. Weigert er sich, dieser Anordnung Folge zu leisten, so erhält er für die Dauer der Weigerung kein Arbeitslosengeld.
Nach § 8 Abs. 3 leg. cit. sind die ärztlichen Gutachten der regionalen Geschäftsstellen einerseits und der Sozialversicherungsträger andererseits, soweit es sich um die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit handelt, gegenseitig anzuerkennen.
Gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.
Tatsachen und Beweismittel können nur dann einen Grund für die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG darstellen, wenn sie bei Abschluss des seinerzeitigen Verfahrens schon vorhanden gewesen sind, deren Verwertung der Partei aber ohne ihr Verschulden erst nachträglich möglich geworden ist, nicht aber wenn es sich um erst nach Abschluss des seinerzeitigen Verfahrens neu entstandene Tatsachen und Beweismittel handelt (vgl. aus der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes etwa die in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 2. Auflage, zu § 69 ENr. 124 zitierten Erkenntnisse).
Soweit die belangte Behörde meint, die Beendigung des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien sei abzuwarten gewesen, weil in diesem Verfahren geklärt worden wäre, ob das von der Beschwerdeführerin als Wiederaufnahmegrund vorgebrachte Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten oder das im Verfahren vor dem Arbeitsmarktservice eingeholte Gutachten der Richtigkeit entspreche, verkennt sie den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund. Dieser ist nämlich im Gutachten vom 7. Dezember 2000 gelegen und nicht im Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 23. Februar 2001 (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. Februar 1999, Zl. 96/08/0083). Das Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 7. Dezember 2000 bezog sich jedenfalls auf den Zeitraum ab dem Pensionsstichtag der Beschwerdeführerin am 1. November 2000 bis zum 16. November 2000, dem Datum des Berufungsbescheides der belangten Behörde. Wäre dieser das erwähnte Gutachten zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits bekannt gewesen, hätte dieser Umstand allenfalls zu einem anderen Ausgang des Berufungsverfahrens führen können. Ob das erwähnte Gutachten einen Wiederaufnahmegrund darstellt, kann anhand des angefochtenen Bescheides nicht abschließend beurteilt werden. Dies aus folgenden Gründen:
Ein Gutachten besteht aus einer sachverständigen Tatsachenfeststellung - der so genannten Befundaufnahme - und aus sachverständigen Schlussfolgerungen aus eben den festgestellten Tatsachen unter Anwendung der jeweiligen Kunst oder Wissenschaft - dem Gutachten im engeren Sinn. Sollte ein Sachverständiger Tatsachen, die zur Zeit der Bescheiderlassung im Hauptverfahren bereits bestanden haben, erst später feststellen oder sollten solche Tatsachen einem Sachverständigen erst später zur Kenntnis kommen, so könnten solche neuen Befundergebnisse - die sich ja auf seinerzeit bestandene Tatsachen beziehen müssen - durchaus einen Wiederaufnahmegrund darstellen, wenn die weiteren Voraussetzungen gegeben sind. Anders steht es mit dem vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen. Es stellt weder einen Wiederaufnahmegrund dar, wenn der bereits im Verfahren bestellte Sachverständige später erklären sollte, sich bei seinen Schlussfolgerungen - ohne dass die Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG vorgelegen seien - geirrt zu haben und nunmehr zu anderen Schlussfolgerungen zu kommen, noch wenn ein anderer Sachverständiger auf Grund unveränderter Sachverhaltsgrundlage zu anderen Schlüssen kommen sollte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151).
Ausgehend von dem unrichtigen Verständnis des Begriffes der neuen Tatsachen oder Beweismittel hat es die belangte Behörde unterlassen, sich damit auseinander zu setzen, ob das als Wiederaufnahmegrund herangezogene, im Verfahren vor der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten erstellte Sachverständigengutachten bloß abweichende Schlussfolgerungen aus unveränderten Befundtatsachen enthält oder ob dadurch Tatsachen, die schon bei Erlassung des Bescheides vom 16. November 2000 bestanden hatten, nach Abschluss dieses Verfahrens erstmals festgestellt wurden und daher für die belangte Behörde "neu" waren.
Der angefochtene Bescheid war wegen der aufgezeigten Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Wien, am 4. August 2004
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