VwGH 2001/21/0098

VwGH2001/21/00988.7.2004

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Thurin, über die Beschwerde des A, vertreten durch Dr. Gottfried Lindner und Mag. Thomas Fragner, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Landstraße 35B, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 7. Mai 2001, Zl. Fr 1121/01, betreffend Feststellung gemäß § 75 Abs. 1 Fremdengesetz 1997, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1997 §57 Abs1;
FrG 1997 §57 Abs2;
FrG 1997 §75 Abs1;
FrG 1997 §57 Abs1;
FrG 1997 §57 Abs2;
FrG 1997 §75 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der am 1. August 1992 nach Österreich eingereiste Beschwerdeführer, ein armenischer Staatsangehöriger, gab zu seinen Fluchtgründen befragt am 4. August 1992 vor dem Bundesasylamt im Wesentlichen an: Seit Ende August 1991 sei er in Armenien Mitglied einer Organisation gewesen, die sich HAB genannt habe. Der Beschwerdeführer habe (in dieser Organisation) die Grenzen gegen Angriffe der Aserbeidschaner geschützt. Seit Armenien eine eigene Armee habe, sei diese Organisation nicht mehr erlaubt. Der Beschwerdeführer selbst sei nie an der Grenze eingesetzt gewesen, sondern im Innendienst, und habe die Personalien von neu angekommenen Freiwilligen aufgenommen. Im Dezember 1991 habe er einen Anruf erhalten, bei dem man ihn gebeten habe, der sechsten Abteilung (ehemaliger KGB) beizutreten. Er habe dies jedoch nicht gewollt. Im Jänner 1992 sei er von vier uniformierten Männern, die der sechsten Abteilung angehört hätten, von zu Hause abgeholt worden. Er sei in das ehemalige KGB-Gebäude in Eriwan gebracht worden. Einer der Männer habe ihm gesagt, dass er an der Grenze kämpfen sollte. Für den Fall seiner Weigerung habe man angekündigt, ihn auf der Stelle zu töten. Der Mann habe ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Nach etwa acht Stunden habe ihm der Mann gesagt, dass er gehen könnte. Er hätte sich die Sache überlegen sollen, in zwei Tagen hätten diese Männer wieder bei ihm zu Hause vorbeikommen wollen. Nach diesem Vorfall habe der Beschwerdeführer im Jänner 1992 nicht mehr zu Hause gewohnt. Sein letzter Aufenthaltsort vor seiner Ausreise sei Moskau gewesen. Er sei am 16. und 17. Juli 1992 nach Eriwan zurückgegangen, um Dollars zu besorgen und ein Flugticket zu organisieren. Damals habe er aber nicht bei seinen Eltern gewohnt, sondern bei Verwandten außerhalb von Eriwan.

In seinem Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung nach Armenien machte der Beschwerdeführer keine darüber hinausgehenden Angaben.

Mit hg. Erkenntnis vom 24. Juli 2001, Zl. 97/21/0641, wurde die Beschwerde gegen den im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 2. Juli 1997, mit dem dieser Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung nach Armenien negativ beschieden worden war, als unbegründet abgewiesen.

Rechtlich führte der Gerichtshof u.a. aus, dass der belangten Behörde nicht entgegengetreten werden könne, wenn sie auf den erheblichen Zeitraum seit der vom Beschwerdeführer behaupteten Verfolgungshandlung im Jänner 1992 und auf die seither geänderten politischen Verhältnisse in Armenien, insbesondere darauf hingewiesen habe, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen, an welchen teilzunehmen der Beschwerdeführer gezwungen worden zu sein behauptet habe, seit Jahren beendet seien. Insofern habe es der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren unterlassen, konkret aufzuzeigen, weshalb er auch angesichts der unbestritten veränderten Verhältnisse in seinem Herkunftsstaat dort weiterhin aktuell gefährdet wäre. Das erstmals in der Beschwerde enthaltene Vorbringen, nach dem Beschwerdeführer würde weiterhin von der armenischen Militärpolizei gesucht, sei als eine im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unzulässige Neuerung zu werten.

Am 21. Dezember 2000 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung nach Armenien mit der Begründung, er sei als Mitglied der unterlegenen politischen Partei HAB während des Bürgerkrieges politisch verfolgt worden. Er sei auch von den an der politischen Macht befindlichen Mitgliedern der HHSCH aufgefordert worden, in den damals gegen Aserbeidschan geführten Krieg an die Front zu ziehen. Im Fall seiner Weigerung sei er mit dem Tod bedroht worden. Ihm sei bekannt, dass er nach wie vor von der armenischen Polizei gesucht werde und es würde ihm im Fall seiner Rückkehr nach Armenien die Todesstrafe drohen. Derzeit befinde sich in Armenien die HHSCH an der Macht.

In der gegen den diesen Antrag abweisenden erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, die Behörde habe die von ihm plausibel dargestellte Situation in seinem Heimatland in keiner Weise gewürdigt und auch keinerlei Ermittlungen in diese Richtung angestrengt. Es wäre für die Behörde ohne Weiteres möglich gewesen, durch eine Anfrage bei den armenischen Sicherheitsbehörden, allenfalls unter Kontaktaufnahme über die armenische Botschaft in Wien, in Erfahrung zu bringen, dass er tatsächlich von den Sicherheitsbehörden in seinem Heimatland noch immer gesucht werde und ihm im Fall seiner Ergreifung drastische Strafen bis hin zur Verhängung der Todesstrafe drohten. Es müsse der Behörde bekannt sein, dass in Armenien nach wie vor ein politisch äußerst angespanntes Klima herrsche und die systematische Verfolgung von Personen, die sich politisch gegen die herrschende Regierung engagierten, auf der Tagesordnung stehe.

Mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den (zweiten) Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung nach Armenien gemäß § 75 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen zur allgemeinen Lage in Armenien aus:

Die Unabhängigkeit der Gerichte werde durch die weit verbreitete Korruption in der Praxis stark eingeschränkt.

Verfahrensgrundrechte wie rechtliches Gehör und Verteidigung durch Personen des Vertrauens würden mittlerweile gewährt. Die Verfassung enthalte einen ausführlichen Grundrechtsteil modernen Zuschnitts mit vielen sozialen Grundrechten. Armenien sei 1993 internationalen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte beigetreten. Es seien keine Behinderungen von Menschenrechtsorganisationen beobachtet worden. Die weit verbreitete Korruption in Polizeikreisen werde seit der Amtsübernahme von Präsident Kotscharian verstärkt strafrechtlich verfolgt. Im Gefolge der Präsidentenwahl vom 22. September 1996 sei es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition gekommen. Die Regierung habe auf die Zwischenfälle mit Demonstrations- und Versammlungsverbot, Verhaftung von Oppositionspolitikern und Schließung von Parteibüros reagiert. Diese Maßnahmen seien inzwischen aber wieder aufgehoben worden. In Armenien gebe es keinen Bürgerkrieg. Der seit Mai 1994 vereinbarte Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbeidschan werde im Grundsatz respektiert. Es komme vereinzelt zu Schusswechsel an der nordöstlichen Grenze Armeniens zu Aserbeidschan. Neben der Armee existierten in Armenien verschiedene paramilitärische Verbände, die dem Innenministerium unterstünden. Dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass auf dem Gebiet der Republik Armenien "eine systematische Folter praktiziert" werde. Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen würden von mehreren Fällen berichten, in denen es bei Verhaftungen oder Verhören zu schweren Übergriffen der Ordnungsorgane und der Sicherheitsdienste gekommen sein solle. Im Zuge der repressiven Maßnahmen nach den Präsidentschaftswahlen seien mindestens 68 Personen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte gewesen. Oppositionelle, darunter auch Abgeordnete, seien nach Angaben ihrer Angehörigen in Gefangenschaft gefoltert worden. Die meisten Festgenommenen seien in Schnellverfahren zu jeweils 15 Tagen Haft verurteilt worden. Die Todesstrafe könne als außerordentliche Strafmaßnahme noch immer verhängt werden. Unmenschliche oder erniedrigende Strafen seien nicht bekannt, die Haftbedingungen müssten als sehr hart bezeichnet werden.

Angesichts des positiven Lageberichtes in Armenien komme die erkennende Behörde zu dem Schluss, dass im Fall einer Rückkehr nach Armenien keinerlei Gefahr drohe und der Beschwerdeführer keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 75 Abs. 1 FrG hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen, also im Fall seiner Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Ebenso wie im Asylverfahren ist auch bei der Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr gemäß § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG im Verfahren gemäß § 75 leg. cit. die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Antragstellers in diesen Staat zu beurteilen. Für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob allenfalls gehäufte Verstöße der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind. (Vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 7. April 2000, Zl. 99/21/0001.)

In der Beschwerde werden die wiedergegebenen behördlichen Feststellungen nicht bestritten. Nach Ansicht der Beschwerde sei aber ausgehend von diesen Feststellungen nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde zu dem Schluss kommen könne, dass dem Beschwerdeführer in Armenien keinerlei Gefahr drohen würde. Der Beschwerdeführer habe hinsichtlich der ihm individuell und konkret drohenden Verfolgung hinreichend detaillierte Angaben gemacht, sodass die belangte Behörde weitere Ermittlungen zur Prüfung dieser Darstellungen vorzunehmen gehabt hätte.

Mit diesem Argument zeigt der Beschwerdeführer eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf. Die belangte Behörde hat nämlich zwar Feststellungen zur allgemeinen Lage in Armenien getroffen, sich aber in keiner Weise mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er aus persönlichen Gründen eine Verfolgung in Armenien zu befürchten habe, auseinander gesetzt. Sie hätte seine Behauptung, er sei von Mitgliedern der genannten machthabenden politischen Partei aufgefordert worden, in den damals gegen Aserbeidschan geführten Krieg an die Front zu ziehen und für den Fall seiner Weigerung mit dem Tod bedroht worden, ebenso einer Würdigung unterziehen müssen wie sein weiteres Vorbringen, ihm sei bekannt, dass er nach wie vor von der armenischen Polizei gesucht werde und es würde ihm im Fall seiner Rückkehr nach Armenien die Todesstrafe drohen.

Wegen dieses relevanten Verfahrensmangels war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht - im Rahmen des Begehrens - auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Wien, am 8. Juli 2004

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte