VwGH 2001/20/0736

VwGH2001/20/073626.5.2004

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des E, geboren 1977 (alias S, geboren am 1976) in W, vertreten durch Mag. Claudia Steegmüller, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 3. Oktober 2001, Zl. 224.031/0-IX/27/01, betreffend §§ 7, 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §7;
AVG §67d;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §7;
AVG §67d;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer reiste im April 2000 nach Österreich ein und stellte nach (in Anwendung des Dubliner Übereinkommens erfolgter) Zurückschiebung aus Deutschland am 20. April 2000 unter dem Namen A S, geboren am 1. März 1976, einen Asylantrag. Nach einer neuerlichen Zurückschiebung des Beschwerdeführers aus Schweden, wo er seinen Angaben zufolge ebenfalls Asyl beantragt hatte, und Stellung eines weiteren Asylantrages am 18. Oktober 2000 unter dem Namen B E, geboren am 10. Mai 1977, wurde er am 20. Oktober 2000 vom Bundesasylamt vernommen. Zu seiner Identität befragt gab er an, den zuletzt erwähnten Namen zu führen, Staatsbürger des Libanon und sunnitischer Moslem zu sein und der Volksgruppe der Araber anzugehören. Die unrichtigen Angaben bei der ersten Asylantragstellung habe er auf Anraten des Schleppers getätigt. Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer (auch unter Bedachtnahme auf die Angaben in der ergänzenden Befragung am 6. August 2001) zusammengefasst vor, er sei im Zeitraum November 1999 bis April 2000 Mitglied der South Libanese Army (SLA) und bei der Abwehr von Angriffen der Hisbollah in der Ortschaft Qalat Shqef im Rahmen der Bewachung einer näher bezeichneten Zitadelle eingesetzt gewesen. Nach dem Rückzug der Einheiten der SLA aus dem Südlibanon habe die libanesische Regierung verlautbaren lassen, dass ehemalige Mitglieder der SLA, deren Festnahme gelungen sei, teilweise zum Tode verurteilt worden seien. Darauf hin habe sich der Beschwerdeführer zur Flucht entschlossen, weil er aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der (nach ihrem militärischen Führer so bezeichneten) "Lahad-Armee" Angst vor einer Gerichtsverhandlung gehabt habe, bei der sogar die Verhängung der Todesstrafe möglich gewesen wäre. Für den Fall der Rückkehr in den Libanon befürchte er die Verurteilung zu einer Haftstrafe, die "von fünf bis zehn Jahre dauern könne".

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 6. September 2001 gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Libanon fest. Es erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers auf Grund seiner widersprüchlicher Angaben - vor allem zu seiner Einheit, zu den verwendeten Waffengattungen und deren Kaliber, zum Zeitpunkt des Beitritts und zur Frage der Ausbildung bei der SLA - für nicht glaubwürdig. Zusammenfassend folgerte die Erstbehörde, der Beschwerdeführer habe über seine Tätigkeit bei der SLA "praktisch keine Angaben" machen können, die glaubhaft machen würden, dass er tatsächlich dort gedient habe. Auch die "sonstigen Umstände" seien "nicht dazu angetan", die Aussagen des Beschwerdeführers zu untermauern. So sei etwa nicht nachvollziehbar, warum der Beschwerdeführer seinen ersten Asylantrag unter "anderem Nationale" gestellt habe. Aus seinem Verhalten - angeblicher Visaantrag 1998, zweimalige Weiterreise nach Asylantragstellung in Österreich - sei vielmehr zu schließen, dass es dem Beschwerdeführer nicht darum gegangen sei, Schutz vor Verfolgung zu finden, sondern so rasch als möglich nach Schweden zu seinen Brüdern zu gelangen. Im Zusammenhang mit dem erwähnten Visaansuchen und der angeblich im Oktober 1999 erfolgten Ausstellung des Reisepasses sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seine Ausreise schon länger geplant habe, weshalb der Beitritt zur SLA auch aus diesem Grund nicht glaubhaft sei.

Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung erlassenen - Bescheid der belangten Behörde vom 3. Oktober 2001 wurde die gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung "gemäß §§ 7, 8 AsylG" abgewiesen. Die belangte Behörde stellte fest, der Beschwerdeführer sei libanesischer Staatsangehöriger arabischer Volksgruppenzugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Es könne hingegen nicht davon ausgegangen werden, dass er den Libanon aus den von ihm angegebenen Gründen verlassen habe. In Bezug auf die Beweiswürdigung könne der Erstbehörde nicht entgegengetreten werden, wenn sie aus den im erstinstanzlichen Bescheid angeführten Gründen das Vorbringen des Beschwerdeführers als unglaubwürdig qualifiziert habe. Daran anknüpfend führte die belangte Behörde aus:

"Die Angaben des Berufungswerbers stehen in der Tat zum Teil in Widerspruch zueinander - z.B. das Vorbringen, die Einheiten der SLA seien nicht nummeriert, zu seiner späteren Aussage, der

8. Brigade angehört zu haben -, zum Teil lassen sie sich nicht miteinander in Einklang bringen (z.B. das Vorbringen, gleich nach dem Militärdienst - der nach seinen Angaben 1998 beendet war - zur SLA gegangen zu sein, gegenüber seiner Aussage, sich im November 1999 der SLA angeschlossen zu haben.) Hinzu kommen die widersprüchlichen Angaben des Berufungswerbers zum Kaliber der von ihm verwendeten Waffen sowie zur Frage, ob er bei der SLA noch eine (weitere) Ausbildung erhalten habe.

Dem Bundesasylamt ist auch Recht zu geben, wenn es ausführt, dass der Ärger des Berufungswerbers über die im Vergleich zu den Wohnverhältnissen bei seinem Bruder in Schweden bescheidenen Wohnverhältnisse in der ihm in Österreich zugewiesenen Unterkunft die Unrichtigkeit seiner Angaben bei seiner ersten Einvernahme nicht erklären können (kann).

Dem Bundesasylamt ist schließlich beizupflichten, wenn es aus dem Umstand, dass sich der Berufungswerber bereits im Jahre 1998 im Libanon um ein schwedisches Visum bemüht hat, sowie der Tatsache, dass er sich sowohl gegenüber den deutschen Behörden als auch bei seiner Asylantragstellung in Österreich mit falschem Namen und unrichtigen anderen Personaldaten ausgab, den Schluss zog, dass der Berufungswerber nicht wegen ihm drohender Verfolgung sein Heimatland verlassen hat, sondern um nach Schweden zu gelangen (wo - wie sich aus den Angaben des Berufungswerbers ergibt - nicht nur seine Brüder, sondern auch seine Verlobte lebt).

Da die aufgezeigten Unstimmigkeiten zentrale Punkte des Vorbringens des Berufungswerbers zu seinen Fluchtgründen betreffen, sprach das Bundesasylamt richtigerweise diesen in seiner Gesamtheit die Glaubwürdigkeit ab."

In der rechtlichen Beurteilung kam die belangte Behörde zu dem Schluss, es lägen keine Asyl- oder Refoulementschutzgründe vor. Abschließend begründete die belangte Behörde die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung im Wesentlichen damit, dass die Berufung das Vorbringen bloß wiederhole und der erstinstanzlichen Beweiswürdigung - außer der Argumentation mit der Absicht, so schnell wie möglich nach Schweden zu gelangen - nicht substantiiert entgegentrete. Da die Berufung nicht einmal den Versuch unternehme, die Widersprüche aufzuklären, auf die sich das Bundesasylamt bei seiner Beweiswürdigung im Wesentlichen gestützt habe, bliebe diese auch "bei Wegfallen" des genannten - in der "Argumentationslinie" der Erstbehörde untergeordneten - Begründungselementes weiterhin schlüssig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Voranzustellen ist, dass die belangte Behörde ihre Entscheidung nicht damit zu begründen versucht hat, der Asylantrag des Beschwerdeführers wäre auch ausgehend von seinem Vorbringen - vor dem Hintergrund der Behandlung ehemaliger SLA-Mitglieder durch die libanesischen Behörden - abzuweisen gewesen; das kann nach den allgemein zugänglichen Berichten zu diesem Thema auch nicht ohne Weiteres gesagt werden. Entscheidungswesentlich ist daher, ob die belangte Behörde ohne Durchführung der in der Berufung beantragten Verhandlung von der mangelnden Glaubhaftmachung der vom Beschwerdeführer behaupteten Fluchtgründe ausgehen durfte.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zu der hier maßgeblichen Rechtslage vor der Verwaltungsverfahrens-Novelle 2001 das Erkenntnis vom 11. November 1998, Zl. 98/01/0308, und die daran anschließende Judikatur; vgl. auch die Nachweise in dem zur aktuellen Rechtslage ergangenen Erkenntnis vom 23. Jänner 2003, Zl. 2002/20/0533) kann der Sachverhalt im Sinne des Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG als "geklärt" angesehen werden, wenn er nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde und in der Berufung kein dem Ergebnis des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt - erstmalig und mangels Neuerungsverbotes zulässigerweise - neu und in konkreter Weise behauptet wird. Die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhaltes im Sinne der genannten Bestimmung ist auch dann nicht erfüllt, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird (vgl. zuletzt das hg. Erkenntnis vom 1. April 2004, Zl. 2001/20/0291).

Entgegen der Auffassung der belangten Behörde liegen die erwähnten Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Berufungsverhandlung im gegenständlichen Fall nicht vor, was die Beschwerde zutreffend rügt. Die belangte Behörde durfte nach den dargestellten Grundsätzen schon deshalb nicht von der Durchführung einer Verhandlung Abstand nehmen, weil der Beschwerdeführer - wie im angefochtenen Bescheid auch eingeräumt wird - dem Argument des Bundesasylamtes, es ginge dem Beschwerdeführer nicht darum, Schutz vor Verfolgung zu finden, sondern so rasch wie möglich nach Schweden zu gelangen, mit beachtenswerten, die Schlüssigkeit dieser Überlegung in Frage stellenden Ausführungen in der Berufung, mit denen auch das Auftreten unter falscher Identität zu erklären versucht wurde, ausreichend konkret entgegengetreten ist. Entgegen der Auffassung der belangten Behörde kann in Bezug auf die Beweiswürdigung des Bundesasylamtes, auf die es insoweit allein ankommt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. September 2002, Zl. 2001/01/0597, mwN), aber nicht gesagt werden, es handle sich dabei aus der Sicht der Erstbehörde um ein "untergeordnetes" Argument. Dem erstinstanzlichen Bescheid kann nicht entnommen werden, die behauptete Zugehörigkeit zur SLA wäre auch dann als unglaubwürdig gewertet worden, wenn die Beweiswürdigung nicht auch maßgebend von der Einschätzung beeinflusst worden wäre, dem Beschwerdeführer gehe es gar nicht um die Gewährung von Verfolgungsschutz. Vielmehr sind die abschließenden, die Beweiswürdigung zusammenfassenden Ausführungen dahin zu verstehen, dass es sich dabei um ein zumindest gleichwertiges und essentielles Begründungselement gehandelt hat.

Vor allem hat die belangte Behörde bei ihren Überlegungen aber übersehen, dass die Berufung das Vorbringen auch sonst nicht bloß wiederholt hat. Ein solches Verständnis wird dem Inhalt der Berufung nicht gerecht, in der die Fluchtgründe für sich genommen in konsistenter Weise unter Hinzufügung weiterer Details und - erkennbar - zur Aufklärung der vom Bundesasylamt gesehenen Widersprüche geschildert wurden und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch die ergänzende Vernehmung des Beschwerdeführers durch die Berufungsbehörde beantragt wurde. Auch angesichts dessen durfte die belangte Behörde im vorliegenden Fall mit der von ihr gewählten Begründung nicht von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung Abstand nehmen (vgl. zum Ganzen auch das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0738, mwN).

Es ist aber nicht auszuschließen, dass die belangte Behörde nach der Vornahme einer ergänzenden Vernehmung des Beschwerdeführers bei der Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 26. Mai 2004

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