VwGH 2001/20/0040

VwGH2001/20/00403.7.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Moritz als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des E in W, vertreten durch Univ.-Doz. Dr. Richard Soyer und Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Kärntner Ring 6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 7. Dezember 2000 (mündlich verkündet am 24. November 2000), Zl. 209.587/0-III/07/99, betreffend § 7 Asylgesetz (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Liberia, reiste am 8. Dezember 1995 in das Bundesgebiet ein und stellte am 12. Dezember 1995 einen Asylantrag. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 8. Jänner 1996 führte der Beschwerdeführer aus, sein Vater sei bei den Armed Forces of Liberia Soldat (Captain) gewesen und habe im Kampf viele Menschen getötet. Im Jahre 1994 sei der Vater des Beschwerdeführers ermordet worden. Die Angehörigen der Opfer seines Vaters hätten die Familie des Beschwerdeführers angegriffen. Am 19. November 1995 sei eine Gruppe von Personen zum Haus der Familie gekommen und habe die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers getötet. Der Beschwerdeführer selbst sei weggelaufen. Schon im Jahr 1994 hätten die Angehörigen der Opfer des Vaters des Beschwerdeführers dem Beschwerdeführer eine Schädelverletzung zugefügt. Die Angreifer seien Mitglieder der Gruppe um Charles Taylor gewesen.

Mit Bescheid vom 19. Jänner 1996 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 3 Asylgesetz 1991 ab. In seiner Berufung gegen diesen Bescheid wiederholte der Beschwerdeführer sein Vorbringen und gab darüber hinaus an, dass in Liberia die ganze Familie ausgerottet werde, wenn sich auch nur ein Familienmitglied gegen die Regierung richte.

Am 24. November 2000 führte die belangte Behörde eine mündliche Verhandlung durch, an der weder der Beschwerdeführer noch sein (damaliger) Rechtsvertreter teilnahm.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz abgewiesen. In der Begründung wurde festgestellt, dass der Vater des Beschwerdeführers im Zuge des Bürgerkrieges gegen "die Kräfte" des nunmehrigen Präsidenten Charles Taylor gekämpft und im Kampf viele Menschen getötet habe, bevor er im Jahr 1994 selbst getötet worden sei. Im November 1995 hätten Angehörige der Opfer des Vaters des Beschwerdeführers dessen Familie in ihrem Haus angegriffen und die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers getötet. Dem Beschwerdeführer selbst sei es gelungen zu flüchten. Festgestellt werde weiters, dass der Bürgerkrieg in Liberia beendet sei und im Land abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln im Norden Frieden herrsche. Es bestehe nicht a priori ein Risiko für Personen, die seinerzeit in einer der NPFL feindlich gesinnten Bürgerkriegsgruppierung gekämpft hätten. Es bestehe lediglich ein Risiko für Personen, die eine gewisse Funktion innegehabt hätten, sohin ab einem gewissen Niveau an Bedeutung. Nicht gefährdet sei hingegen der "einfache Mann von der Straße". Die Feststellungen zur Situation in Liberia ergäben sich aus einem Bericht des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten vom 11. November 1999 sowie aus einem Bericht des auswärtigen Amtes der BRD vom 20. April 1999, aus welchen insgesamt übereinstimmend hervorgehe, dass ein gewisses Verfolgungsrisiko lediglich für prominente Personen, die in Gegnerschaft zu Präsident Taylor gestanden seien, nicht ausgeschlossen werden könne, dass jedoch eine "einfache" Person, die keine exponierte Funktion innegehabt habe, nicht gefährdet sei. Nicht verifiziert habe werden können, dass die gesamte Familie ausgerottet würde, wenn sich auch nur ein Familienmitglied gegen die Regierung richte. In den erwähnten Berichten werde eine Verfolgungsgefahr allein für bedeutendere Funktionsträger genannt. Familienangehörige würden hingegen offensichtlich nicht zum gefährdeten Personenkreis gezählt. Der Beschwerdeführer habe selbst niemals vorgebracht, eine bedeutende Funktion in einer Charles Taylor feindlich gesinnten Organisation innegehabt zu haben. Er fürchte lediglich die Rache der Angehörigen der im Zuge der Bürgerkriegshandlung getöteten Opfer seines Vaters. Staatliche Verfolgung würde dem Beschwerdeführer daher nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dies umso mehr, als offensichtlich nicht einmal sein Vater ein exponierter, in Gegnerschaft zur Taylor stehender Funktionsträger, sondern lediglich Soldat gewesen sei. Selbst wenn die Behauptung zuträfe, dass die gesamte Familie verfolgt würde, könne keine maßgebliche Gefährdung gegeben sein, da selbst für den Vater des Beschwerdeführers (würde er noch leben) nach den Ermittlungsergebnissen davon auszugehen wäre, dass derzeit in Liberia keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mit asylrechtlich relevanter Eingriffintensität bestehe. Es ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Behörden des Heimatstaates nicht in der Lage oder nicht gewillt wären, dem Beschwerdeführer gegen die Übergriffe von Privaten (Angehörigen der Opfer seines Vaters) Schutz zu gewähren. Das Motiv der Angehörigen der Opfer seines Vaters wäre auch nur Rache, sodass schon allein deshalb kein Zusammenhang mit einer Verfolgung des Beschwerdeführers aus Gründen, die in der Genfer Flüchtlingskonvention genannt sind, erkannt werden könne.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

In der Beschwerde wird gerügt, dass die belangte Behörde ihre Entscheidung auf Quellen gestützt habe, die nicht mehr aktuell seien. Die Entwicklungen im zweiten Halbjahr 1999 und im gesamten Jahr 2000 seien darin nicht berücksichtigt worden. Der Beschwerde sind zwei Unterlagen von Amnesty International vom 2. März 1999 und vom 11. Oktober 2000 beigeschlossen. In der Unterlage vom 11. Oktober 2000 findet sich u.a. folgende Passage:

"Präsident Taylor hat die versprochenen Anstrengungen zur Versöhnung der verschiedenen Volksgruppen nicht eingeleitet. Die nach wie vor instabile Sicherheitslage ist jedoch auf die Politik beim Wiederaufbau von Polizei und Armee zurückzuführen. Die Sicherheitskräfte werden weder von allen ethnischen Gruppierungen getragen, noch sind sie trainiert, die Einhaltung von Recht und Ordnung unter Berücksichtigung international anerkannter Menschenrechtsstandards sicherzustellen. Statt dessen wurden Taylor's frühere Kämpfer in Armee, Polizei und verschiedene neu gebildete Sicherheitsdienste, u. an den Special Security Service, (SSS) übernommen.

Außerdem existieren verschiedene bewaffnete Sondereinheiten, z. B. eine Spezialeinheit innerhalb der Polizei, die Special Operations Division (SOD) und eine Spezialeinheit namens Anti Terrorist Unit (ATU), die vornehmlich aus Personen besteht, die während des Bürgerkrieges als Kinder oder Jugendliche für Charles Taylor's Rebellenorganisation kämpften. Alle diese Einheiten haben sich zahlreicher Menschenrechtsverletzungen in Liberia schuldig gemacht."

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen hat, muss sich die belangte Behörde als Spezialbehörde laufend über asylrechtlich maßgebliche Entwicklungen auf dem neuesten Stand halten. Sie hat daher ihren Bescheiden die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Beweismittel zu Grunde zu legen (vgl. z.B. die hg. Erkenntnisse vom 4. April 2001, Zl. 2000/01/0348, und vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/01/0197). Diesen Anforderungen werden die von der belangten Behörde im vorliegenden Fall herangezogenen Berichte, die im Zeitpunkt der Bescheiderlassung durchwegs älter als ein Jahr waren, jedenfalls nicht gerecht (vgl. das zitierte hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2002).

Die Unterlassung der Berücksichtigung aktueller Berichte bei der Entscheidung durch die belangte Behörde ist auch insofern von Relevanz, als bereits die oben wiedergegebene Passage aus der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlage vom 11. Oktober 2000, wäre sie von der belangten Behörde in ihre Beweiswürdigung einbezogen worden, hinsichtlich der Annahme ausreichenden staatlichen Schutzes für den Beschwerdeführer zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte führen können. Sollten Hinterbliebene vom verstorbenen Vater des Beschwerdeführers im Zuge politisch motivierter Kämpfe getöteter Personen am Beschwerdeführer Rache nehmen wollen, so könnte dem auch unter dem Gesichtspunkt des - von der belangten Behörde offenbar angenommenen - Fehlens eines Konventionsgrundes nicht von vornherein die Relevanz abgesprochen werden (vgl. zur Familienzugehörigkeit als Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv etwa die Nachweise in dem Erkenntnis vom 14. Jänner 2003, Zl. 2001/01/0508).

Die Ausführungen in der Beschwerde bzw. in den Beilagen zur Beschwerde sind aber auch im Zusammenhang mit den von der belangten Behörde herangezogenen Unterlagen zu sehen. So wird in der Unterlage vom Oktober 1999 ausgeführt, dass "künftige" Verfolgungen von Einzelpersonen durchaus aus "politischethnischen" Gründen vorstellbar sind. In der Unterlage vom April 1999 wird festgehalten, dass Übergriffe verschiedenster Art im Berichtszeitraum vorgekommen seien und auch "für die Zukunft" nicht ausgeschlossen werden könnten. Im gleichen Bericht heißt es, dass Repressalien der Regierung gegen frühere Kontrahenten "nicht auszuschließen" seien, "insbesondere" bei prominenten Politikern. Die belangte Behörde konnte daher auf Grund der von ihr herangezogenen Unterlagen ohne Beischaffung aktuellerer Berichte nicht davon ausgehen, dass im Entscheidungszeitraum asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer auszuschließen ist bzw. dass bei anderen Personen als prominenten Politikern asylrelevante Repressalien der Regierung nicht vorkommen.

Aus den dargelegten Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001. Wien, am 3. Juli 2003

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