Normen
AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §1 Z1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstbeschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 30. März 1995 wurde die Berufung der Erstbeschwerdeführerin (Mutter mit vier Kindern), einer Staatsangehörigen des Irak, die am 8. Jänner 1994 in das Bundesgebiet eingereist ist und am 10. Jänner 1994 den Asylantrag gestellt hat, gegen den den Asylantrag abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes vom 11. Jänner 1994 abgewiesen.
Die Erstbeschwerdeführerin gab anläßlich ihrer niederschriftlichen Einvernahme am 10. Jänner 1994 im wesentlichen an: Ihr Gatte habe seit dem Jahr 1979 in Kuwait gelebt. Sie sei nach der Heirat und Geburt ihres ersten Sohnes 1981 ebenfalls nach Kuwait gezogen. Dort habe sie problemlos bis zum Einmarsch der irakischen Armee am 2. August 1990 gelebt. Während der Okkupation sei sie von den Kuwaitis aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Die irakische Armee hätte sie und ihren Ehemann als fremdgewordene, nicht mehr Saddam-Hussein-getreue Iraker angesehen. Sie seien beschimpft und beleidigt worden. Ein durch die Eingangstüre gezielt abgefeuerter Schuß habe ihren Sohn M auf der rechten Wange verletzt. Die Familie habe sich am 21. Februar 1991 in den Irak begeben. Anfang März 1991 sei es zum Schiitenaufstand im Südirak gekommen. Der Gatte der Erstbeschwerdeführerin und alle Männer ihrer Familie hätten aktiv an diesem Aufstand teilgenommen. Einige Tage danach sei ihr Gatte von irakischen Soldaten verhaftet worden, seither wisse sie nichts mehr von ihm. Im März 1991 sei ihr Dorf von den irakischen Truppen eingenommen und der Aufstand niedergeschlagen worden. Die irakische Armee habe nach allen jungen Männern des Dorfes gesucht. Die Erstbeschwerdeführerin habe die Leichen von neun männlichen Verwandten im Dorf entdecken können. Daraufhin sei sie Anfang April 1991 zunächst in das Grenzgebiet zwischen Irak und Kuwait gezogen, wo sie nach notdürftigster Versorgung durch das Rote Kreuz zehn Tage geblieben sei. Dann sei es ihr und ihren Kindern gelungen, illegal nach Kuwait einzureisen. Sie habe in der Folge bis Oktober 1992 in ihrem intakt geblieben Haus in Kuwait, danach bis Dezember 1993 in einer Untermietwohnung gelebt. Den Unterhalt habe sie von Erspartem bestritten und sie sei von einer caritativen islamischen Organisation finanziell unterstützt worden. Am 3. Dezember 1993 sei sie anläßlich einer Kontrolle aufgefallen, weil sie keinen Ausweis habe vorzeigen können. Sie sei in der Folge vor die Alternative gestellt worden, in den Irak oder nach Jordanien auszureisen. Sie habe beide Länder abgelehnt. In den Irak habe sie deshalb nicht zurückkehren wollen, weil sie dort keinerlei Familienangehörige mehr habe und ihre Familie als oppositionell gelte. Sie hätte mit ihrer sofortigen Festnahme und Hinrichtung zu rechnen. Sie habe gehört, daß irakische kurdische Oppositionelle gleich bei ihrer Rückkehr getötet worden seien. Nach Jordanien habe sie nicht ausreisen wollen, da die jordanische Regierung zum Irak sehr gute Beziehungen pflege und sie nach einem Aufenthalt von sechs Monaten dieses Land wieder hatte verlassen müssen. In der Folge sei sie samt den Kindern in Schubhaft genommen und nach zehn Tagen mittels Flugzeug in eine ihr unbekannte Stadt ausgeflogen worden. Von dort sei sie samt den Kindern durch Schlepper nach Österreich gebracht worden.
In ihrer gegen die abweisende Entscheidung der ersten Instanz erhobenen Berufung brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, daß Angehörige von Oppositionellen - dies treffe auf sie zu, weil sie die Ehefrau eines Teilnehmers am Schiitenaufstand sei, der verhaftet worden sei, und von dem sie seither nichts mehr gehört habe - im Irak wegen der dort herrschenden Sippenhaftung akut von Verfolgung bedroht seien. Die Situation im Irak habe sich seit April 1991 nicht verändert. Schiiten seien im Südirak aktuell bedroht, weil sie als Rebellen gegen Bagdad gelten. Manche Medien würden von einem Genozid berichten (diesbezüglich legte die Erstbeschwerdeführerin einen Bericht der Salzburger Nachrichten vom 19. Oktober 1993 bei).
Hierauf erließ die belangte Behörde den nunmehr angefochtenen Bescheid. Sie führte begründend aus, daß die Erstbeschwerdeführerin keine einzige konkrete, gegen sie selbst gerichtete asylrelevante Verfolgungshandlung behauptet habe. Die Probleme der Erstbeschwerdeführerin mit den irakischen Soldaten anläßlich der Okkupation Kuwaits wiesen keine Asylrelevanz und nicht die geforderte erhebliche Intensität auf. Weiters mangle es der Aktualität, weil die aus der Sicht der Erstbeschwerdeführerin behaupteten asylrelevanten Umstände schon längere Zeit vor der Ausreise aus dem Irak zurücklägen, die wohlbegründete Furcht somit nicht bis zur Ausreise angedauert habe. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich über einen längeren Zeitraum in ihrer Heimat aufgehalten, ohne für diese Zeitspanne Umstände glaubhaft gemacht zu haben, welche die Annahme rechtfertigten, daß die behauptete Furcht wegen dieser Gründe bis zum Verlassen des Heimatlandes angedauert habe oder wohlbegründet gewesen sei. Zu den mit dem Schiitenaufstand im Südirak in Verbindung stehenden Vorfällen gegen den Gatten der Erstbeschwerdeführerin führte die belangte Behörde aus, daß im Asylverfahren nur solche Umstände Berücksichtigung finden könnten, die eine Person unmittelbar beträfen und daher Ereignisse gegen Familienmitglieder und andere Personen nicht den gewünschten Verfahrensausgang bewirken könnten. Zu dem vorgelegten Ausschnitt aus den Salzburger Nachrichten führte die belangte Behörde aus, daß derart allgemeine Berichte nur einen Auszug der allgemeinen Situation widerspiegeln könnten, jedoch nicht auf die individuelle Situation der Erstbeschwerdeführerin eingingen und somit für die Feststellung einer konkreten, gegen sie persönlich gerichteten Verfolgung nicht genügten. Weitere Ausführungen der belangten Behörde betrafen den Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin in Kuwait.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Wenn die Erstbeschwerdeführerin rügt, daß die belangte Behörde die Sachverhaltsfeststellungen der ersten Instanz ungeprüft übernommen habe, obwohl im Berufungsvorbringen Zweifel am Ergebnis des Ermittlungsverfahrens vorgebracht worden seien, ist ihr zu entgegnen, daß die Erstbehörde einerseits die Angaben der Erstbeschwerdeführerin zur Gänze als glaubwürdig bewertet hat und andererseits in der Berufung kein bei der Aufnahme der erstinstanzlichen Niederschrift unterlaufener Verfahrensmangel gerügt wurde. In der Übernahme des im erstinstanzlichen Bescheid wiedergegebenen Inhaltes der bei der niederschriftlichen Vernehmung der Erstbeschwerdeführerin getätigten Aussagen ist daher keine Rechtswidrigkeit zu erkennen.
Dennoch ist die Beschwerde im Ergebnis berechtigt. Zentraler Aspekt des von § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 aus Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention übernommenen Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt dann vor, wenn der Eingriff in die zu schützende Sphäre geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in den Aufenthaltsstaat zu begründen. Keineswegs ist es erforderlich, daß eine tatsächliche Verfolgung bereits stattgefunden hat. Es reicht hin, daß aufgrund der äußeren Umstände und allenfalls bereits geschehener Ereignisse die Gefahr einer Verfolgung gegeben ist. Dabei ist auch die politische Situation des Heimatlandes zu berücksichtigen. Verhaftungen und Verfahren in Ländern, für welche nicht feststeht, daß sie nach rechtsstaatlichen Grundsätzen handeln, sind in einem anderen Licht zu beurteilen als in demokratischen Rechtsstaaten. Es ist die Gesamtsituation des Asylwerbers zu berücksichtigen, einzelne Aspekte seiner Situation in der Heimat dürfen nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden.
Die belangte Behörde verkennt, daß die Erstbeschwerdeführerin bei ihrer niederschriftrlichen Einvernahme angegeben hat, nur kurze Zeit (21. Februar 1991 bis Anfang April 1991) nach langem Aufenthalt in Kuwait in ihrer Heimat verbracht zu haben, wobei in diese Zeit der Schiitenaufstand, die Verhaftung und das Verschwinden ihres Gatten sowie der Tod weiterer männlicher Verwandter aufgrund deren aktiver Beteiligung am Schiitenaufstand fiel. Die Erstbeschwerdeführerin hat auch den Zusammenhang mit ihrer eigenen Situation hergestellt, als sie mit hinreichender Deutlichkeit darauf hinwies, daß sie als Angehörige von Oppositionellen mit ihrer sofortigen Festnahme und Hinrichtung bei ihrer Rückkehr in den Irak rechne.
Die belangte Behörde hat in rechtlicher Hinsicht ausgeführt, nur solche Umstände könnten zur Asylgewährung führen, die eine Person unmittelbar betreffen, daher könnten Ereignisse gegen Familienmitglieder nicht diesen Verfahrensausgang bewirken.
Die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung setzt nicht voraus, daß die Erstbeschwerdeführerin während ihres Aufenthaltes im Irak eine individuell gegen sie gerichtete Verfolgung bereits erlitten haben müßte oder ihr zumindest eine solche bereits konkret angedroht worden wäre. Eine derartige Annahme wäre auch dann gerechtfertigt, wenn die Verhältnisse im Heimatland der Erstbeschwerdeführerin dergestalt wären, daß von einer "Sippenhaftung" gesprochen werden könnte, weil die Erstbeschwerdeführerin dadurch der Gefahr ausgesetzt wäre, selbst mit ihren Kindern davon unmittelbar betroffen zu sein. Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin enthielt einen deutlichen Hinweis darauf, daß für SIE eine aus der den Behörden ihres Heimatstaates bekannten politischen Aktivität ihres Ehemannes resultierende Verfolgungsgefahr von erheblicher Intensität bestanden habe. Dabei handelt es sich im Zusammenhang mit der Verhaftung und dem darauf folgenden Verschwinden ihres Ehegatten wegen seiner Teilnahme am Schiitenaufstand sowie dem Tod weiterer Verwandter aus demselben Grund auch um von ihr persönlich zu erwartende Repressionshandlungen, die einen weiteren Aufenthalt bzw. eine Rückkehr in ihr Heimatland unzumutbar erscheinen ließen (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom 23. Mai 1995, Zl. 94/20/0801).
Die Furcht der Erstbeschwerdeführerin wurde mit der Verhaftung ihres Gatten ausgelöst. Sie reagierte darauf umgehend mit Flucht, zuerst in das kuwaitisch-irakische Grenzgebiet in ein Auffanglager des Roten Kreuzes und sogleich anschließend nach Kuwait. Die Ausführungen der belangten Behörde, zum Zeitpunkt der Ausreise wären die fluchtauslösenden Ereignisse "längere Zeit" zurückgelegen und nicht mehr aktuell, sind damit unverständlich und widersprechen dem aktenkundigen Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin.
Während des folgenden längeren Aufenthaltes in Kuwait änderte sich aber - nach den Behauptungen der Erstbeschwerdeführerin - die Situation in ihrer Heimat nicht. Da die Erstbeschwerdeführerin in Kuwait während ihres illegalen Aufenthaltes vor dem Zugriff des irakischen Staates geschützt war, kann nicht davon ausgegangen werden, daß sie zum Entscheidungszeitpunkt keiner Verfolgungsgefahr in ihrer Heimat ausgesetzt wäre.
Die Ausführungen der belangten Behörde betreffend den Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin in Kuwait vor und nach ihrem Heimataufenthalt sind im Lichte des Vorbringens der Erstbeschwerdeführerin nicht verständlich, denn die Erstbeschwerdeführerin behauptet keine Furcht vor Verfolgung durch die Behörden des Staates Kuwait, sondern Furcht vor Verfolgung durch den Heimatstaat Irak.
Deshalb erweist sich der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
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