VwGH 92/08/0138

VwGH92/08/013825.10.1994

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der Tiroler Gebietskrankenkasse in Innsbruck, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in I, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. April 1992, Zl. 120.058/1-7/92, betreffend Versicherungspflicht nach dem ASVG und dem AlVG (mitbeteiligte Parteien: 1. X, vertreten durch Dr. F, Rechtsanwalt in Z, 2. Firma H Gesellschaft m.b.H.,

3. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Wien XX, Adalbert-Stifter-Straße 1), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §413 Abs1 Z1;
AVG §10 Abs1;
AVG §10 Abs2;
AVG §63 Abs5;
AVG §66 Abs4;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
ASVG §413 Abs1 Z1;
AVG §10 Abs1;
AVG §10 Abs2;
AVG §63 Abs5;
AVG §66 Abs4;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin sprach mit Bescheid vom 5. Dezember 1988 aus, daß der Erstmitbeteiligte vom 1. Jänner 1983 bis 14. Oktober 1984 als Moto-Cross-Rennfahrer der Zweitmitbeteiligten nicht der Sozialversicherungs- und Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen sei. Dieser Bescheid wurde dem Erstmitbeteiligten am 14. Dezember 1988 und der Zweitmitbeteiligten am 15. Dezember 1988 zugestellt. Diesem Bescheid ging nach der Aktenlage eine Einvernahme des Erstmitbeteiligten am 20. September 1988 voraus, bei welcher laut dem Inhalt der Niederschrift auch "Herr X sen." anwesend war. Der Erstmitbeteiligte berief sich bei dieser Einvernahme auf Vereinbarungen zwischen ihm und der Zweitmitbeteiligten "laut Beilage".

Neben diesen Vereinbarungen finden sich im Akt auch eine Kopie des Beschlusses des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. September 1987, eine Fotokopie einer Berufung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. Mai 1987 und schließlich auch eine Kopie dieses Urteiles. Aus diesen Fotokopien ergibt sich, daß der Erstmitbeteiligte in dieser Sozialrechtssache durch Angestellte der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol vertreten war. Mit Schreiben vom 17. Februar 1989 gab die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol der Beschwerdeführerin bekannt, daß sie den Erstmitbeteiligten beim Landesgericht Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht wegen Versehrtenrente nach einem Arbeitsunfall vertrete. Das Gerichtsverfahren sei am 9. November 1987 zur Feststellung der Versicherungspflicht im Verwaltungsverfahren unterbrochen worden. Der entsprechende Bescheid sei dem Erstmitbeteiligten, nicht aber der Kammer als dessen ausgewiesene Vertretung, zugestellt worden. Es werde beantragt, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen und den Bescheid über die Ablehnung der Versicherungspflicht auch der Kammer als Vertreterin des Erstmitbeteiligten zuzustellen.

Die Beschwerdeführerin stellte, ohne über den Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung zu entscheiden, den eingangs erwähnten Bescheid vom 5. Dezember 1988 nunmehr auch an die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol zu.

Aufgrund dieser am 8. März 1989 erfolgten Zustellung an die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol erhob der Erstmitbeteiligte, vertreten durch (einen) Funktionär(e) dieser Kammer, gegen den Bescheid der Beschwerdeführerin vom 5. Dezember 1988 Einspruch an den Landeshauptmann von Tirol. Dieser wies - ohne die Frage der Rechtzeitigkeit des Einspruches ausdrücklich zu behandeln - den Einspruch als unbegründet ab.

Die belangte Behörde gab der Berufung des Erstmitbeteiligten gegen den Einspruchsbescheid Folge und stellte in dessen Abänderung des Bescheides die Versicherungspflicht des Erstmitbeteiligten im genannten Zeitraum gemäß § 4 Abs. 1 Z. 1 und Abs. 2 ASVG sowie § 1 Abs. 1 lit. a AlVG fest. Auch die belangte Behörde erörterte die Frage der Rechtzeitigkeit des Einspruches nicht.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde bekämpft die Beschwerdeführerin unter dem Beschwerdegrund der Rechtswidrigkeit des Inhaltes die Feststellung der Versicherungspflicht des Erstmitbeteiligten im genannten Zeitraum.

Der Verwaltungsgerichtshof gab mit Beschluß vom 8. Februar 1994, Zl. 92/08/0138-6, den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gemäß § 41 Abs. 1 letzter Satz VwGG Gelegenheit, zur Frage der Versäumung der Einspruchsfrist Stellung zu nehmen.

Die Beschwerdeführerin brachte dazu vor, es sei davon auszugehen, daß ihr Bescheid vom 5. Dezember 1988 im Zeitpunkt des Schreibens der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol vom 17. Februar 1989 bereits in Rechtskraft erwachsen sei. Der Umstand, daß sie sich im Zuge des Einspruchsverfahrens meritorisch mit den vorgetragenen Einspruchsgründen auseinandergesetzt habe, vermöge daran ebensowenig zu ändern, wie der Umstand, daß dies bislang im Rechtsmittelverfahren und auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht aufgegriffen worden sei. Die Beschwerdeführerin habe ihren Bescheid vom 5. Dezember 1988 dem Erstmitbeteiligten und auch der zweitmitbeteiligten Partei zugestellt. Zur Zustellung des Bescheides an den im Verfahren beim Landesgericht Innsbruck ausgewiesenen Vertreter des Erstmitbeteiligten habe keine Veranlassung bestanden. Erst aufgrund des Schreibens der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol vom 17. Februar 1989 habe die Beschwerdeführerin dieser Kammer ein Bescheidexemplar übermittelt, dies offensichtlich in der irrigen Rechtsansicht, die Kammer für Arbeiter und Angestellte sei auch im vorangegangenen Verfahren als Vertreter des Erstmitbeteiligten ausgewiesen.

Die belangte Behörde bringt vor, daß von der Rechtzeitigkeit des Einspruches auszugehen gewesen sei. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol habe im Schreiben vom 17. Februar 1989 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie bereits als Vertreterin des Erstmitbeteiligten ausgewiesen sei. Offenbar aus diesem Grunde habe auch die Beschwerdeführerin eine Kopie ihres Bescheides vom 5. Dezember 1988 an die einschreitende Kammer geschickt.

Der Erstmitbeteiligte führte in seiner Stellungnahme aus, daß er im erwähnten gerichtlichen Verfahren durch die Funktionäre der Arbeiterkammer vertreten gewesen sei. Diese hätten dann auch telefonisch sowohl mit dem Gericht als auch mit dem zuständigen Referenten der Beschwerdeführerin Kontakt aufgenommen, damit die entsprechenden Unterlagen vom Gericht zur Gebietskrankenkasse kommen und dort eine Entscheidung getroffen werde. Die Beschwerdeführerin habe daher von der Bevollmächtigung der Arbeiterkammer sowohl im Gerichts- als auch im Verwaltungsverfahren gewußt. Dies ergebe sich insbesondere aus der Zustellung des Bescheides an die Arbeiterkammer aufgrund einer entsprechenden Aufforderung im Schreiben vom 17. Februar 1989. In diesem Zusammenhang sei auf § 10 Abs. 4 AVG zu verweisen, wonach von einer ausdrücklichen Vollmacht abgesehen werden könne, wenn die Vertretung durch amtsbekannte Funktionäre erfolge. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol sei zum damaligen Zeitpunkt selbstverständlich vom Erstmitbeteiligten auch im Verwaltungsverfahren bevollmächtigt gewesen. Daß die Beschwerdeführerin keinen Zweifel über die Bevollmächtigung gehabt habe, ergebe sich eindeutig aus ihrer Reaktion auf das Schreiben der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol vom 17. Februar 1989. Der im Schreiben vom 17. Februar 1989 gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung könne nur für den Fall verstanden werden, als die direkte Zustellung an den Erstmitbeteiligten als rechtswirksam betrachtet würde, was aber nach Ansicht des Erstmitbeteiligten nicht der Fall sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Nach § 41 Abs. 1 VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof zwar nur zu prüfen, ob jenes subjektive Recht der Beschwerdeführerin verletzt ist, dessen Verletzung sie behauptet, er ist dabei aber nicht an die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Beschwerdegründe gebunden; er hat vielmehr alle für die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit im Beschwerdepunkt maßgebenden Gründe zu beachten (vgl. etwa das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 19. September 1984, Slg. N.F. 11.525/A).

Wie jede Behörde hat auch die Einspruchsbehörde zu prüfen, ob die formellen Prozeßvoraussetzungen vorliegen. Das bedeutet, daß sie neben der Prüfung ihrer (sachlichen, örtlichen und funktionellen) Zuständigkeit auch die Frage der Zulässigkeit und Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels und allfälliger Formgebrechen desselben zu prüfen hat. Eine meritorische Erledigung des Einspruches ist inhaltlich rechtswidrig, wenn der Einspruch als verspätet zurückzuweisen gewesen wäre. Ob im vorliegenden Fall der Einspruch als verspätet zurückzuweisen ist, hängt davon ab, ob die Beschwerdeführerin zu Recht ihren Bescheid vom 5. Dezember 1988 dem Erstmitbeteiligten zustellte, oder ob eine Zustellung an die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol erforderlich gewesen wäre.

Nach der Aktenlage ist bis zum Zeitpunkt des Einlangens des Schreibens der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol vom 17. Februar 1989 das Einschreiten irgendeines bevollmächtigten Vertreters des Erstmitbeteiligten in diesem Verfahren nicht aktenkundig. Die Bevollmächtigung der namentlich genannten Angestellten und Funktionäre der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens vermag daran nichts zu ändern. Der Umstand, daß in den der Beschwerdeführerin vorgelegten gerichtlichen Entscheidungen der Erstmitbeteiligte vertreten war, berechtigte die Beschwerdeführerin nicht, davon auszugehen, daß der Erstmitbeteiligte auch in dem vor ihr durchgeführten Verfahren vertreten sein wolle, es sei denn, daß der Erstmitbeteiligte seinen Willen, sich auch in dieser Rechtssache eben dieser Vertreter zu bedienen, unmißverständlich zu erkennen gegeben hätte (vgl. VwSlg. 3726/A/1955). Ein solcher ausdrücklicher Hinweis kann auch der Einvernahme des Erstmitbeteiligten vom 20. September 1988 nicht entnommen werden. Die Vorlage der genannten gerichtlichen Entscheidungen durch den Erstmitbeteiligten oder durch das Gericht selbst reicht nicht zur Annahme hin, daß der Erstmitbeteiligte durch die im gerichtlichen Verfahren einschreitenden Vertreter auch im Verfahren vor der Beschwerdeführerin vertreten werden wollte. Die Zustellung des Bescheides der Beschwerdeführerin vom 5. Dezember 1988 an den Erstmitbeteiligten am 14. Dezember 1988 entsprach daher dem Gesetz. Die auf eine Änderung der Rechtsansicht der Beschwerdeführerin zurückgehende nachfolgende Zustellung dieses Bescheides an die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol konnte daher die - mittlerweile längst abgelaufene - Einspruchsfrist nicht neuerlich eröffnen. Die Einspruchsbehörde hätte daher - ungeachtet des anhängigen Wiedereinsetzungsverfahrens (Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Oktober 1986, Slg. Nr. 12.275/A) - den Einspruch vom 6. April 1989 (eingelangt bei der Beschwerdeführerin am 7. April 1989) als verspätet zurückweisen müssen. Ebenso hätte die belangte Behörde die Nichtbeachtung dieses Umstandes durch die Einspruchsbehörde aufgreifen und in Abänderung des Einspruchsbescheides den Einspruch zurückweisen müssen. Da die belangte Behörde demgegenüber eine meritorische Entscheidung getroffen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes zum Nachteil der Beschwerdeführerin belastet, weil sie zur Fällung einer Sachentscheidung nicht berufen war.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben, ohne daß auf das übrige Beschwerdevorbringen einzugehen war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil für eine vom Verwaltungsgerichtshof im Sinne des § 41 VwGG verlangte Parteienäußerung ein zusätzlicher Ersatz des Schriftsatzaufwandes nicht gebührt (vgl. das bei Dolp, die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, Seite 559, 2. Absatz, zitierte hg. Erkenntnis).

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