VwGH 90/02/0172

VwGH90/02/017223.1.1991

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Dorner und Dr. Bernard als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gritsch, über die Beschwerde des N gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 7. September 1990, Zl. I/7-St-N-8951, betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2;
AVG §46;
StVO 1960 §20 Abs1;
StVO 1960 §20 Abs2;
AVG §45 Abs2;
AVG §46;
StVO 1960 §20 Abs1;
StVO 1960 §20 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.530,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er sei am 19. Juni 1989 um 15.45 Uhr als Lenker eines dem Kennzeichen nach bestimmten Pkws im Ortsgebiet von Karlstift auf einer näher bezeichneten Straßenstelle "schneller als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren"; seine Fahrgeschwindigkeit habe 70 km/h betragen. Er habe dadurch eine Übertretung nach § 20 Abs. 2 StVO 1960 begangen. Über ihn wurde eine Geldstrafe (Ersatzarreststrafe) verhängt.

In seiner an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Gerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde nahm die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Tat als erwiesen an, weil zwei Gendarmeriebeamte als Zeugen ausgesagt haben, sie hätten die Fahrgeschwindigkeit des vom Beschwerdeführer gelenkten Fahrzeuges im Herannahen auf einer Strecke von 100 Metern, nämlich in einer Entfernung von 180 bis 80 Metern von ihrem Standort, geschätzt.

Der Beschwerdeführer bestreitet, daß unter diesen Umständen eine verläßliche Schätzung seiner Fahrgeschwindigkeit möglich gewesen sei. Er ist damit im Recht. Zwar können dafür geschulte Straßenaufsichtsorgane grundsätzlich erhebliche Überschreitungen von zulässigen Höchstgeschwindigkeiten durch Schätzung der Fahrgeschwindigkeit feststellen. Damit solche Geschwindigkeitsschätzungen auch im Verwaltungsstrafverfahren verwertet werden dürfen, müssen sie ausreichend verläßlich sein. Dafür wiederum sind bestimmte äußere Bedingungen erforderlich. Neben einwandfreien Sichtbedingungen steht dabei im Vordergrund, daß das Fahrzeug, dessen Geschwindigkeit geschätzt wird, am schätzenden Straßenaufsichtsorgan vorbeifährt, sodaß das Fahrzeug sowohl beim Herannahen als auch beim Sich-Entfernen beobachtet werden kann. Unter diesen Umständen genügt eine Beobachtungsstrecke von insgesamt 100 Metern, um eine Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens ein Drittel festzustellen (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Dezember 1985, Zl. 85/02/0185, vom 9. Juli 1987, Zl. 87/02/0015, und vom 23. September 1988, Zl. 88/02/0015). Für eine verläßliche Geschwindigkeitsschätzung lediglich im Herannahen ist es erforderlich, daß besondere Umstände hinzutreten, wie etwa eine wesentlich längere ("mehrere hundert Meter") Beobachtungsstrecke (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 9. April 1987, Zl. 86/02/0180) oder eine wesentlich höhere Differenz zwischen der geschätzten und der höchstzulässigen Geschwindigkeit.

Im vorliegenden Fall haben die Gendarmeriebeamten das vom Beschwerdeführer gelenkte Fahrzeug erstmals in einer Entfernung von 180 Metern wahrgenommen und über eine Strecke von 100 Metern Länge beobachtet, sodaß es bei Beendigung des Schätzvorganges (und Abgabe eines Haltezeichens) noch 80 Meter von den Gendarmeriebeamten entfernt war. Wenn die Gendarmeriebeamten die Geschwindigkeit dieses Fahrzeuges mit 70 km/h anstatt der erlaubten 50 km/h geschätzt haben, so entbehrt diese Schätzung der für die Verwertung in einem Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Verläßlichkeit. Die Bestrafung des leugnenden Beschwerdeführers hätte auf dieses Ermittlungsergebnis allein nicht gestützt werden dürfen. Daran ändert nichts, daß zwei Straßenaufsichtsorgane übereinstimmend zu demselben Schätzungsergebnis gelangt sind. Daran ändert ebenfalls nichts, daß unmittelbar vor dem vom Beschwerdeführer gelenkten Pkw in gleicher Geschwindigkeit ein anderer Pkw gefahren sei, dessen Lenker - nach ebenfalls erfolgter Anhaltung - eine Organstrafverfügung wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit entgegengenommen und die darin festgesetzte Geldstrafe entrichtet habe; darin kann keinesfalls ein dem Beschwerdeführer zur Last fallendes Einbekenntnis der Begehung der in Rede stehenden Verwaltungsübertretung durch den anderen Fahrzeuglenker erblickt werden.

Der Verwaltungsgerichtshof kann auf Grund der von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen nicht prüfen, ob der Beschwerdeführer zu Recht der Begehung der in Rede stehenden Verwaltungsübertretung für schuldig erkannt wurde. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben (vgl. dazu das zitierte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 9. April 1987).

Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil der Schriftsatzaufwand nach der zitierten Verordnung lediglich S 10.110,-- beträgt.

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