Normen
AVG §69 Abs1 litb;
AVG §69 Abs1 Z2 impl;
AVG §69 Abs1 litb;
AVG §69 Abs1 Z2 impl;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Begehren auf Ersatz von Stempelgebühren wird abgewiesen.
Begründung
Der am 10. März 1965 geborene Beschwerdeführer, der bis zum Beginn seines Präsenzdienstes am 1. Oktober 1985 im Bezug einer Waisenpension nach seiner am 28. Mai 1984 verstorbenen Mutter stand, beantragte am 6. Juni 1986 nach Beendigung des Präsenzdienstes die Weitergewährung der Waisenpension mit der Begründung, er beabsichtige ab Herbst 1986 das Studium als ordentlicher Hörer an der Technischen Universität Wien aufzunehmen.
Auf Grund dieses Antrages wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid der Mitbeteiligten vom 13. Juni 1986 die Waisenpension gemäß § 270 in Verbindung mit § 260 ASVG für die Dauer der Ausbildung, die seine Arbeitskraft überwiegend beanspruche (§ 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG), ab 1. Juni 1986 bis längstens 31. März 1991 weiter gewährt.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 1986 teilte die Mitbeteiligte dem Beschwerdeführer mit, sie sehe sich auf Grund "der eingelangten Unterlagen" (gemeint war eine Mitteilung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, wonach der Beschwerdeführer ab 25. September 1986 vom Landesarbeitsamt Wien als Dienstgeber zur Pflichtversicherung gemeldet sei) veranlaßt, die Waisenpension ab November 1986 einzustellen. Dazu nahm der Beschwerdeführer in der Niederschrift vom 29. Oktober 1986 dahin Stellung, daß er seit 25. September 1986 bei der Gemeinde Wien ein Maturantenpraktikum nach dem Arbeitsmarktförderungsgesetz auf die Dauer eines Jahres absolviere. Hiefür erhalte er zur Deckung seines Lebensunterhaltes eine Beihilfe von S 5.130,-- monatlich.
Daraufhin erging der Bescheid der Mitbeteiligten vom 14. Jänner 1987, dessen Spruch lautet:
"Das auf Grund Ihres Antrages vom 6.6.1986 auf Weitergewährung der Waisenpension gemäß § 270 in Verbindung mit § 260 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetz vom 9.9.1955, BGBl. Nr. 189 (ASVG) eingeleitete und mit Bescheid vom 13.6.1986 abgeschlossene Verfahren wird gemäß § 69 Abs. 1 lit. b Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1950, BGBl. Nr. 172 (AVG 1950) in Verbindung mit § 357 Abs. 1 ASVG wieder aufgenommen.
Ihr Antrag vom 6.6.1986 auf Weitergewährung der Waisenpension gemäß § 260 in Verbindung mit § 252 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, Bundesgesetz vom 9.9.1955, BGBl. Nr. 189 (ASVG), wird abgelehnt.
Der in der Zeit vom 1.6.1986 bis 31.10.1986 entstandene Überbezug im Betrage von S 15.193,80 wird rückgefordert und ist binnen 14 Tagen nach Rechtskraft des Bescheides bei sonstiger Exekution mittels beiliegenden Zahlscheines rückzuzahlen."
In der Bescheidbegründung wurde nach Zitierung des § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950 sowie des § 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG ausgeführt, es sei der Mitbeteiligten nach "Bescheiderteilung" (gemeint, des Bescheides vom 13. Juni 1986) bekannt geworden, daß der Beschwerdeführer ab 25. September 1986 ein Maturantenpraktikum nach dem Arbeitsmarktförderungsgesetz besuche. Damit seien die angeführten Voraussetzungen für die Weitergewährung der Leistung nicht gegeben. Sein Antrag (auf Weitergewährung der Waisenpension) sei daher abzulehnen gewesen. Gemäß § 107 Abs. 1 ASVG habe der Versicherungsträger zu Unrecht erbrachte Geldleistungen zurückzufordern.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Einspruch an den Landeshauptmann von Wien mit dem Antrag, "den angefochtenen Bescheid aufzuheben", in eventu, auf die Rückerstattung der für die Monate Juni bis Oktober 1986 gewährten Waisenpension gemäß § 107 Abs. 3 Z. 1 ASVG zu verzichten, in eventu, dem vorliegenden Einspruch aufschiebende Wirkung bis zur rechtskräftigen Erledigung der beim Arbeits- und Sozialgericht erhobenen Klage zuzuerkennen, allenfalls - in sinngemäßer Anwendung des § 38 AVG 1950 (§ 357 Abs. 1 ASVG) - das gegenständliche Verwaltungsverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die vor dem Arbeits- und Sozialgericht anhängige Klage auszusetzen. Zur Begründung des Einspruches verwies er auf die Ausführungen in der in Fotokopie angeschlossenen Klage. Danach habe der Beschwerdeführer, nach seiner Entlassung aus dem Präsenzdienst, am 6. Juni 1986 die Weitergewährung der Waisenpension gemäß § 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG beantragt, weil er die Absicht gehegt habe, im Wintersemester 1986, also zum frühest möglichen Termin, das Studium an der Technischen Universität Wien aufzunehmen. Er sei hiebei von der ernstlichen Absicht geleitet gewesen, mangels Erlangung eines seiner bisherigen Schulausbildung entsprechenden Arbeitsplatzes das Studium tatsächlich aufzunehmen. Er habe daher die erforderlichen Universitätsvordrucke besorgt und sie ausgefüllt, einen "Ausweis für Studierende" erstellen lassen, am 22. September 1986 den vorgeschriebenen Hochschülerschaftsbeitrag in der Höhe von S 135,-- eingezahlt und sich am 23. Juni 1986 der vorgeschriebenen amtsärztlichen Untersuchung unterzogen. Die Inskriptionsfrist für das Wintersemester 1986/87 sei bis Mitte Oktober 1986 gelaufen. Noch vor Durchführung der Inskription habe ihn jedoch eine Mitteilung des Arbeitsamtes für Angestellte Wien, bei dem sich der Beschwerdeführer in eventu habe vormerken lassen, erreicht, mit der ihm die (seinen auf praktische Ausbildung zielenden Neigungen näher liegende) Möglichkeit in Aussicht gestellt worden sei, ein Maturantenpraktikum bei der Gemeinde Wien zu absolvieren. Dieses Anbot habe der Beschwerdeführer angenommen. Demzufolge sei er seit 25. September 1986 bei der Gemeinde Wien als "Maturapraktikant" beschäftigt. Er sei der Meinung, daß es selbst dann, wenn im übrigen die Rechtsansicht der Mitbeteiligten (daß nämlich das Maturantenpraktikum keine Berufsausbildung im Sinne des § 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG darstelle) gebilligt werde, der Sachlage entsprochen hätte, den Vorbezug der Waisenpension nur ex nunc einzustellen, es sohin bei der Mitteilung vom 23. Oktober 1986 bewenden zu lassen. Im übrigen sei die Rechtsauffassung aus näher dargelegten Gründen unrichtig.
In der Stellungnahme zum Einspruch brachte die Mitbeteiligte vor, es habe zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides vom 13. Juni 1986 dem Beschwerdeführer ab 1. Juni 1986 nur deshalb die Waisenpension weiter gewährt werden können, weil der Beschwerdeführer angegeben habe, das Studium zum frühest möglichen Zeitpunkt nach Ableistung des Präsenzdienstes aufzunehmen; dadurch sei nach der damaligen Aktenlage der Bestand der Kindeseigenschaft gemäß § 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG nachgewiesen erschienen. Die Tatsache jedoch, daß der Beschwerdeführer das beabsichtigte Studium nicht aufgenommen, sondern ab 25. September 1986 ein Maturantenpraktikum nach dem AMFG absolviert habe (womit er sich - entgegen seiner Auffassung - nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung im Sinne des § 252 Abs. 2 Z. 1 ASVG befunden habe), sei erst nach Erlassung des Bescheides vom 13. Juni 1986 hervorgekommen, hätte jedoch einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt. Die Wiederaufnahme des mit dem genannten Bescheid rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950 sei daher zu Recht erfolgt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der Mitbeteiligten vom 14. Jänner 1987 "betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens zur Weitergewährung der Waisenpension" gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 als unbegründet ab und bestätigte den (in diesem Umfang) bekämpften Bescheid auf Grund von § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950. Begründend wurde ausgeführt, die belangte Behörde habe im Zuge des Ermittlungsverfahrens eine Auskunft des Landesarbeitsamtes Wien über das Maturantenpraktikum eingeholt. Danach handle es sich dabei um eine Maßnahme der Berufsvorbereitung, wofür vom Landesarbeitsamt eine Beihilfe zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz und zur Deckung des Lebensunterhaltes gewährt werde, die im Gegenstande S 5.130,-- bzw. S 5.400,-- monatlich ausmache. Nach den Bestimmungen des § 19 Abs. 1 lit. b AMFG seien die Teilnehmer am Maturantenpraktikum auch sozialversichert. Voraussetzung zur Gewährung der Waisenpension sei die Fortdauer der Kindeseigenschaft im Sinne von § 252 ASVG. Wohl dauere die Kindeseigenschaft für die Dauer einer Schul- oder Berufsausbildung auch über das 25. Lebensjahr hinaus an, dies jedoch nur so lange, als eine Beschäftigung zur Berufsvorbereitung nicht gegen eine unterhaltsdeckende Beihilfe ausgeübt werde. Im Falle der Gewährung einer unterhaltsdeckenden Beihilfe - wie vorliegend - verlängere sich die Kindeseigenschaft jedenfalls nicht. Sohin stelle die Teilnahme am Maturantenpraktikum mit unterhaltsichernder Beihilfe eine neue Tatsache im Sinne des § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950 dar, die, da durch diese Art der Berufsvorbereitung die Kindeseigenschaft des Beschwerdeführers beendet worden sei, eine Weitergewährung der Waisenpension schon zum Zeitpunkt des Beginnes des Praktikums ausgeschlossen hätte. Diese neu hervorgekommene Tatsache sei geeignet, eine gegenüber dem Spruch des Bescheides vom 13. Juni 1986 anders lautende Entscheidung herbeizuführen, weswegen die Verfügung der Wiederaufnahme durch die Mitbeteiligte zu Recht erfolgt sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie die Mitbeteiligte eine Gegenschrift.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Beschwerdefall ist - entsprechend dem sich nur auf den ersten Absatz des Spruches des Bescheides der Mitbeteiligten vom 14. Jänner 1987 beziehenden Spruch des angefochtenen Bescheides - zu prüfen, ob das vom Beschwerdeführer am 25. September 1986 aufgenommene Maturantenpraktikum bei der Gemeinde Wien in Verbindung mit der Unterlassung der von ihm angekündigten Inskription an der Technischen Universität Wien einen Wiederaufnahmsgrund nach § 69 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit § 69 Abs. 3 AVG 1950 darstellt (vgl. zum Erfordernis der Erkennbarkeit des herangezogenen Wiederaufnahmsgrundes die Erkenntnisse vom 25. Mai 1987, Zl. 83/08/0066, und vom 29. März 1984, Zl. 83/08/0321, mit weiteren Judikaturhinweisen).
Gemäß § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950 ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalte des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten. Nach § 69 Abs. 3 leg. cit. kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 lit. a stattfinden.
Eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 lit. b AVG 1950 setzt demnach u.a. voraus, daß "neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen". Neu hervorgekommene Tatsachen sind aber nur solche, die bereits zur Zeit des Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden; erst nach Abschluß des Verfahrens entstandene Tatsachen sind nicht neu hervorgekommen (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 13. Dezember 1984, Zl. 83/08/0252, vom 22. Februar 1985, Zl. 84/08/0055, und vom 27. Juni 1985, Zlen. 83/08/0213, 84/08/0045, sowie Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts4, Seite 211).
Das vom Beschwerdeführer am 25. September 1986 aufgenommene Maturantenpraktikum bei der Gemeinde Wien in Verbindung mit der Unterlassung der von ihm angekündigten Inskription an der Technischen Universität Wien stellen keine neu hervorgekommenen Tatsachen in diesem Sinne dar, weshalb schon deshalb die auf § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 lit. b AVG 1950 gestützte Wiederaufnahme des mit Bescheid der Mitbeteiligten vom 13. Juni 1986 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nicht dem Gesetz entsprach. Daran änderte es auch nichts, wenn (wovon aber weder die belangte Behörde noch die Mitbeteiligte ausgehen) der Beschwerdeführer vor der Erlassung des Bescheides der Mitbeteiligten vom 13. Juni 1986 seine ihr gegenüber bekanntgegebene Absicht, ab Herbst 1986 ein Studium an der Technischen Universität Wien zu beginnen, nur vorgetäuscht hätte, da dies - auch bei Zutreffen der sonstigen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens - keinen Wiederaufnahmsgrund nach § 69 Abs. 1 lit. b, sondern nach Abs. 1 lit. a AVG 1950 darstellte.
Da die belangte Behörde diese Rechtslage verkannte, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Das Begehren auf Ersatz der Stempelgebühren war im Hinblick auf die bestehende sachliche Abgabenfreiheit (§ 110 ASVG) abzuweisen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)