Normen
BehindertenG Wr 1986 §26 Abs2;
BehindertenG Wr 1986 §26 Abs2;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Zur Vorgeschichte des Beschwerdefalles wird auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. November 1985, Zl. 83/11/0266, verwiesen. Mit diesem Erkenntnis wurde der Bescheid der belangten Behörde vom 20. Juli 1983, mit dem ein Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Pflegegeld nach dem Wiener Behindertengesetz abgewiesen worden war, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im fortgesetzten Verfahren veranlaßte die belangte Behörde die Untersuchung des Beschwerdeführers durch die
I. Chirurgische Universitätsklinik in Wien. In dem darüber erstellten fachärztlichen Gutachten vom 16. Dezember 1987 kommt der untersuchende Arzt zu der Diagnose "Noduli hämorrhoidales
3. Grades (permanenter Prolaps)". In der daran anschließenden "Stellungnahme" heißt es, es bestehe beim Beschwerdeführer "ein beträchtliches Rezidiv nach Hämorrhoidektomie im Sinne von Noduli hämorrhoidales 3. Grades. Die Beschwerden, insbesondere des Prolaps, sind typisch, wobei es jedoch erstaunlich ist, daß der Patient die Hämorrhoiden nicht selbst reponieren kann." In dem vom Gutachter gefertigten, mit 16. Dezember 1987 datierten Formblatt findet sich unter der Rubrik "Befund" die Aussage:
"Aus chirurgischer Sicht besteht keine Pflegebedürftigkeit." In dem mit "Gutachten" überschriebenen Teil wurde der als Punkt 1. vorgedruckte Satz "Er (Sie) bedarf für einzelne lebenswichtige wiederkehrende Verrichtungen nicht der (Wartung und) Hilfe durch eine andere Person." als zutreffend angemerkt. Die Punkte 2. und 3. des "Gutachtens" - sie enthalten gleichfalls je einen vorgedruckten Satz betreffend den Bedarf nach im einzelnen angeführten lebenswichtigen wiederkehrenden Verrichtungen bzw. über eine dauernde Bettlägerigkeit - wurden gestrichen. Unter "Besondere Anmerkungen des Gutachters" findet sich der Hinweis "Siehe Befundbericht vom 16.12.1987". (Es handelt sich dabei um den "Klinischen Befund", der der Diagnose, wie sie im fachärztlichen Gutachten vom selben Tag gestellt wurde, zugrunde liegt.)
Noch vor Erlassung des angefochtenen Bescheides ging der belangten Behörde ein Schreiben des Beschwerdeführers zu, in dem es heißt, er sei nunmehr in der Lage, "eine Gesamtbefundung, welcher die Pflegestelle der MA 12 stets aus dem Wege ging", zu übermitteln. Angeschlossen war ein Schreiben der praktischen Ärztin Dr. Aurelia G. vom 13. Juli 1988, in dem diese ausführte, der Beschwerdeführer befinde sich "seit 1 1/5 Jahren in ständiger Kontrolle bei mir" und es seien ihr folgende Leiden bekannt: "Aortenstenose, coronare Herzkrankheit, chronisch-asthmoide Emphysem-Bronchitis, poststhrombot. Syndrom re Bein, Fehlhaltung und Spondylarthrosis def. der ges. WS, Nod. Häm. 3. Grades mit ständigem Prolaps." Der Beschwerdeführer bedürfe nicht nur laufender Medikation, sondern auch ständiger Hilfe und Betreuung, besonders bei der Reponierung der Hämorrhoiden, da diese in den meisten Fällen nur in der Badewanne und mit fremder Hilfe durchgeführt werden könne.
Mit Bescheid vom 2. August 1988 wies die belangte Behörde als Berufungsbehörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Pflegegeld neuerlich ab. Nach dem eingeholten ärztlichen Gutachten seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes auch nur der Stufe I nicht gegeben, weil der Beschwerdeführer bei den lebenswichtigen wiederkehrenden Verrichtungen nicht auf die Hilfe einer anderen Person angewiesen sei. Zur Wendung "sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen" führte die belangte Behörde aus: Die Begriffe Wartung und Hilfe seien nicht gleichzusetzen, sondern hätten eine unterschiedliche Bedeutung. Es genüge nicht, daß nur eine dieser Voraussetzungen vorliege (also ein Bedarf nach Wartung oder nach Hilfe), sondern es müsse für die Verrichtung lebenswichtiger Funktionen Wartung UND Hilfe notwendig sein. Unter dem Begriff der Wartung seien alle Handreichungen und Verrichtungen seitens dritter Personen zu verstehen, die unmittelbar die Person des Behinderten beträfen und nicht unterbleiben dürften, solle nicht seine Existenz unmittelbar bedroht sein. Hiezu gehörten notwendige Hilfeleistungen beim Ankleiden und Auskleiden, bei der Körperreinigung und Körperpflege, beim Essen, bei der Verrichtung der Notdurft und der Beheizung der Wohnung. Demgegenüber umfasse der Begriff der Hilfe jene Verrichtungen, die mehr den sachlichen Lebensbereich beträfen, wie etwa die Besorgung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Heizmaterial, die Zubereitung einfacher Speisen, die einfache Reinigung der Wohnung, selbständig einkaufen gehen und ähnliches mehr.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Gemäß § 26 Abs. 1 des (Wiener) Behindertengesetzes, LGBl. Nr. 16/1986, (BehindertenG.) ist einem Behinderten, der infolge von Leiden und Gebrechen pflegebedürftig ist und das 15. Lebensjahr vollendet hat, nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen ein Pflegegeld zu gewähren. Nach Abs. 2 ist Pflegegeld der Stufe I Behinderten zu gewähren, die für lebenswichtige, wiederkehrende Verrichtungen ständig sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen. Nach Abs. 3 ist Pflegegeld der Stufe II Behinderten zu gewähren, die dauernd bettlägrig sind oder für die lebenswichtigen, wiederkehrenden Verrichtungen ununterbrochen und nachhaltig sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat aus Anlaß des vorliegenden Beschwerdefalles an den Verfassungsgerichtshof den Antrag gestellt, den § 26 Abs. 2 BehindertenG. als verfassungswidrig aufzuheben. Mit seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 1989, G 84/89, hat der Verfassungsgerichtshof diesem Antrag nicht Folge gegeben. Der Verwaltungsgerichtshof hat daher von der Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetzesstelle auszugehen. Sie ist (im Sinne der Begründung des angefochtenen Bescheides) dahin zu verstehen, daß die Worte "Wartung" und "Hilfe" voneinander zu trennende selbständige Begriffe sind, daß es also für einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe I nicht genügt, wenn eine Person ständig entweder nur Wartung oder nur Hilfe benötigt; vielmehr ist Pflegebedürftigkeit erst dann anzunehmen, wenn die Person sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedarf (vgl. dazu näher das genannte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes).
Die in Rede stehende Wendung wurde durch die 3. Behindertengesetz-Novelle, LGBl. Nr. 32/1976, in das Behindertengesetz eingefügt (damals als § 23 Abs. 2). Sie ist, wie sich aus den Erläuternden Bemerkungen zum Entwurf der 3. Behindertengesetz-Novelle (Beilage Nr. 13 aus 1976, S. 1) ergibt, im Sinne der ständigen Rechtsprechung des OLG Wien (siehe zu dieser das Urteil des OGH vom 22. Oktober 1987, Zl. 10 Ob S 59/87 = ZAS 1988, 53) als des damals zuständigen Höchstgerichtes zur Wendung "ständig der Wartung und Hilfe bedürfen" im § 105a ASVG zu verstehen. Demnach bedeutet der Begriff "ständig", daß Wartung und Hilfe zwar nicht täglich, aber immerhin in sich wiederholenden kürzeren Zeitabständen während eines nicht abgrenzbaren Zeitraumes notwendig sein müssen. Unter dem Begriff "Wartung" sind alle jene Handreichungen und Verrichtungen dritter Personen zu verstehen, die unbedingt erforderlich sind, um den Betreffenden vor dem sonst drohenden Untergang zu bewahren. Hiezu gehören alle Verrichtungen, die unmittelbar die Person betreffen und nicht unterbleiben dürfen, soll nicht seine Existenz unmittelbar bedroht sein, also etwa die Hilfeleistungen beim Ankleiden und Auskleiden, bei der Körperreinigung und Körperpflege, beim Essen, bei der Verrichtung der Notdurft, aber auch bei der Zubereitung des Essens und bei der Beheizung des Wohnraums. Demgegenüber stellt sich der Begriff der "Hilfe" als der weitere dar. Es sind dies alle Verrichtungen, die mehr den sachlichen Lebensbereich betreffen, wie etwa die Besorgung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Heizmaterial, die gründliche Reinigung der Wohnung, das Waschen der Leibwäsche und Bettwäsche und ähnliches.
Der Verwaltungsgerichtshof hat im ersten Rechtsgang den Bescheid der belangten Behörde vom 20. Juli 1983 deshalb aufgehoben, weil sich die Verneinung der Pflegebedürftigkeit in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden ärztlichen Gutachten mangels konkreter Angaben über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers nicht nachvollziehen ließ und weil eine Auseinandersetzung mit seinem Berufungsvorbringen, insbesondere mit der Behauptung, er bedürfe zur Reponierung des beim Stuhlgang austretenden Darmes der Hilfe einer anderen Person, fehlte. Dieser Mangel haftet, wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, auch dem vorliegend angefochtenen Bescheid an.
Für die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer sei bei lebenswichtigen wiederkehrenden Verrichtungen nicht auf die "Hilfe" einer anderen Person angewiesen, bieten auch die im fortgesetzten Verfahren vorgenommenen Ermittlungen keine ausreichende Grundlage. So ist in Ansehung des Bedarfes nach "Wartung" weiterhin die hier maßgebende Frage nicht schlüssig beantwortet, ob der Beschwerdeführer tatsächlich außerstande ist, die ausgetretenen Hämorrhoiden selbst zu reponieren. Dazu hätte es der medizinisch-fachlichen Beurteilung der bei ihm diagnostizierten Leiden dahingehend bedurft, ob sie wegen ihrer Art und/oder ihres Schweregrades für sich allein oder allenfalls in Verbindung mit einer bestehenden Einschränkung seiner Beweglichkeit den behaupteten Wartungsbedarf begründen oder nicht. Ohne diesbezügliche konkrete und begründete Aussagen im Gutachten des ärztlichen Sachverständigen fehlt der Verneinung eines Wartungsbedarfes die sachverhaltsmäßige Grundlage, die es erst ermöglichen würde, die Schlüssigkeit seines Urteils zu überprüfen. Die Bemerkungen des Gutachters, es sei "erstaunlich", daß der Beschwerdeführer dies nicht könne (die ausgetretenen Hämorrhoiden selbst zu reponieren), und es bestehe "aus chirurgischer Sicht keine Pflegebedürftigkeit", können die erwähnten fehlenden Aussagen nicht ersetzen; sie lassen nicht einmal erkennen, ob auf die vorhin erwähnten spezifischen Umstände überhaupt entsprechend Bedacht genommen wurde. Der geschilderte Mangel liegt in gleicher Weise in Ansehung des bereits im ersten Rechtsgang behaupteten Bedarfes nach "Hilfe" wegen "Unfähigkeit zur einfachsten Reinigung der Wohnung" vor. Die belangte Behörde hätte die erforderliche Ergänzung dieses Gutachtens in der aufgezeigten Richtung veranlassen müssen. Da sie dies unterließ, blieb der maßgebende Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt ergänzungsbedürftig und wurden Verfahrensvorschriften außer acht gelassen, bei deren Vermeidung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Daher ist auch der vorliegend angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Zuspruch von Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989.
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