VfGH B291/95

VfGHB291/9527.11.1995

Kein Verstoß gegen das Verbot der Zwangsarbeit durch die disziplinarrechtliche Verurteilung eines Rechtsanwalts wegen nicht ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Aufgaben als Mitglied des Disziplinarrates

Normen

EMRK Art4
DSt 1990 §11
RL-BA 1977 §23
EMRK Art4
DSt 1990 §11
RL-BA 1977 §23

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Salzburg. Er wurde anläßlich der Vollversammlung der Salzburger Rechtsanwaltskammer 1990 in den Disziplinarrat gewählt.

1.2. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer vom 30. November 1993 wurde der Beschwerdeführer für schuldig erkannt, er habe infolge Untätigkeit in drei Disziplinarsachen der Salzburger Rechtsanwaltskammer D 37/86, D 37/90 und D 13/90, jeweils nach Bestellung zum Berichterstatter bzw. Untersuchungskommissär, die ihm übertragenen Aufgaben als Disziplinarrats-(Ersatz)mitglied nicht ordnungsgemäß durchgeführt und erst nach wiederholten Aufforderungen die Disziplinarakten am 1. April 1992 (unerledigt) zurückgestellt. Infolge der Untätigkeit als Disziplinarrats-(Ersatz)mitglied über einen Zeitraum von jeweils mehr als einem Jahr sei von ihm gegen Berufspflichten sowie gegen Ehre und Ansehen des Standes verstoßen worden; hiedurch habe er die Gebote des §11 DSt und des §23 der am 14.12.1977 im Amtsblatt zur Wiener Zeitung kundgemachten Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, für die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes und für die Ausbildung der Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: RL-BA) verletzt. Der Beschwerdeführer wurde hiefür zur Disziplinarstrafe einer Geldbuße in Höhe von S 15.000,-- und zum Ersatz der Verfahrenskosten verurteilt.

1.3. Gegen diesen Bescheid wurde vom Beschwerdeführer Berufung an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) erhoben, welcher mit Erkenntnis vom 26. September 1994 nicht Folge gegeben wurde. Die OBDK begründete ihre Entscheidung im wesentlichen wie folgt:

"Gemäß §8 Abs1 des bis 31. Dezember 1990 geltenden DSt 1872 (jetzt: §11 Abs1 DSt 1990) war jedes Mitglied der Rechtsanwaltskammer verpflichtet, die Wahl in den Disziplinarrat oder als Anwalt(= Kammeranwalt) anzunehmen. Gemäß §8 Abs3 DSt 1872 hatte von Fall zu Fall die Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer zu entscheiden, ob die Ablehnung der Wahl aus anderen als in §8 Abs2 DSt 1872 genannten Gründen zulässig ist.

Aus der Verpflichtung zur Annahme der Wahl ergibt sich auch die Verpflichtung der gewählten Mitglieder und Ersatzmänner, ihr Amt gewissenhaft und ohne ungebührliche Versäumnisse auszuüben (vgl §10 Abs1 DSt 1872; jetzt §14 DSt 1990). Diese Verpflichtung hat der DB gröblich verletzt und damit auch gegen §23 RL-BA 1977 verstoßen, wonach der Rechtsanwalt die ihm von der Rechtsanwaltskammer (im Rahmen des Gesetzes) erteilten Aufträge zu befolgen und seine ihr gegenüber bestehenden Pflichten zu erfüllen hat.

Der Verantwortung des DB, daß seine Wahl zum Ersatzmitglied des Disziplinarrates nicht ordnungsgemäß erfolgt sei, weil er die Wahl nicht angenommen habe, erweist sich als bloße Schutzbehauptung. Gemäß §8 Abs3 DSt 1872 hätte der DB anläßlich seiner Wahl, die im Jahre 1990 stattfand, so daß noch das DSt 1872 galt (ArtV Z1 DSt 1990), bekanntgeben müssen, daß er diese ablehnt, sodaß die Plenarversammlung hierüber entscheiden hätte können. Eine Pflicht des Präsidenten der Rechtsanwaltskammer jeden einzelnen gewählten Funktionär zu fragen, ob er die Wahl annehme, bestand nicht, da jedes Mitglied der Rechtsanwaltskammer grundsätzlich verpflichtet ist, die Wahl in den Disziplinarrat oder als Kammeranwalt anzunehmen. Es obliegt daher dem einzelnen Mitglied, eventuelle Ablehnungs- oder Hinderungsgründe darzutun und die Entscheidung der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer (§8 DSt 1872 bzw nunmehr §11 DSt 1990) einzuholen. Auch nach Inkrafttreten des DSt 1990 hat der DB keinen Antrag auf Genehmigung der Zurücklegung des Amtes (§11 Abs1 DSt 1990) gestellt. Auf Mängel der Wahl kann sich der DB überhaupt nicht berufen, da die Wahl nicht angefochten worden ist. Im übrigen gestand der DB in seinem Schreiben an den Präsidenten der Salzburger Rechtsanwaltskammer vom 30. Dezember 1991 ausdrücklich zu, daß er die Wahl annehmen mußte und sagte auch die Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben zu. Auch aus dieser Verantwortung ist zu ersehen, daß der DB seine Wahl zum Ersatzmitglied des Disziplinarrates angenommen und dagegen nichts unternommen hat.

Auch der Verantwortung des DB, daß die ihm aufgezwungene Tätigkeit im Disziplinarrat eine verfassungswidrige 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' im Sinne des Artikel 4 MRK sei, ist mit der ersten Instanz nicht zu folgen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit Urteil vom 23. November 1983 die auf Art4 MRK gestützte Beschwerde eines zum unentgeltlich tätigen Pflichtverteidiger bestellten belgischen Rechtsanwaltsanwärters als nicht gerechtfertigt erkannt, weil sich die zu leistenden Dienste im Rahmen der normalen Tätigkeit eines Rechtsanwaltes bewegt hätten. Außerdem hätten sie eine Kompensation in den mit dem Beruf einhergehenden Vorteilen (ausschließlich Berufsrecht, vor Gericht zu plädieren und Vertretungen wahrzunehmen) gefunden und zudem zur beruflichen Schulung des Beschwerdeführers beigetragen. Auch handle es sich bei dieser Verpflichtung um eine solche, die den in Art4 Abs3 litd MRK erwähnten 'normalen Bürgerpflichten' vergleichbar sei. Schließlich habe sich der Beschwerdeführer keiner unverhältnismäßigen Belastung gegenüber gesehen (etwa fünfzig Bestellungen im Laufe einer 3-jährigen Ausbildungszeit). Auf diese Entscheidung hat der Oberste Gerichtshof auch die Abweisung des Rekurses eines zum Abwesenheitskurator bestellten Rechtsanwaltsanwärters gestützt (8 Ob 506/93 vom 4. Februar 1993). Auch im vorliegenden Fall handelt es sich im Sinne des Art4 Abs3 litd MRK um eine Verpflichtung, die zu den 'normalen Bürgerpflichten' gehört und daher keine 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' nach Art4 Abs2 MRK ist. Verpflichtungen und Dienstleistungen, welche im Rahmen der Selbstverwaltung der Standesorganisation der Rechtsanwälte nach den dafür geltenden Bestimmungen der RAO und des DSt zu erbringen sind, sind nämlich als 'normale Bürgerpflichten' des betreffenden Berufsstandes zu betrachten.

..."

1.4. Gegen diesen Bescheid wendet sich vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, namentlich des Art4 Abs2 EMRK, sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird. Der Beschwerdeführer bringt hiezu im wesentlichen vor:

"Die belangte Behörde setzt sich in ihrem angefochtenen Erkenntnis mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 23.11.1983 - van der Mussele gegen Belgien, EUGRZ 1985, 477 auseinander. Allerdings ist dieses Urteil nicht auf den gegenständlichen Sachverhalt analog anwendbar. Ich habe mehrfach in meiner Verantwortung darauf verwiesen, daß ich sehr wohl bereit bin, als Rechtsanwalt meine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft als Verfahrenshelfer zu leisten, jedoch nicht bereit bin, ein Sonderopfer als Mitglied des Disziplinarrates zu tragen. Die Tätigkeit eines Mitgliedes des Disziplinarrates ist die einzige im Bereich der Rechtsanwälte (Verfahrenshelfer, Kurator, Mitglied des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer, Anwaltsrichter und Prüfer für die Anwaltsprüfung) deren Ausnahme unter Androhung einer Geldstrafe (§8 Abs4 DSt 1872) steht. Es verstößt überdies gegen mein gesetzlich gewährleistetes Recht auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz, wenn sämtliche anderen Anwaltsfunktionen ohne Strafandrohung abgelehnt werden können, dies jedoch nicht sanktionslos für den Disziplinarrat der Fall ist. Allein schon dadurch ergibt sich, daß die Tätigkeit des Disziplinarrates keine allgemeine Bürgerpflicht ist, sondern eine Pflichtarbeit, welche für mich bedrückend war und eine vermeidbare Härte dargestellt hat.

Hätte die Salzburger Rechtsanwaltskammer bei Erstellung ihres Wahlvorschlages für den Disziplinarrat seinerzeit mich um meine Einwilligung gefragt, so hätte ich diese nicht erteilt und wäre nicht einer Pflichtarbeit unterworfen gewesen.

Entgegen den Ausführungen im zitierten belgischen Fall dient die Tätigkeit eines Disziplinarrates auch nicht der Ausbildung eines Rechtsanwaltes und besteht keine sachliche Begründung, Rechtsanwälte zu dieser Tätigkeit zu zwingen.

Solange der Gesetzgeber sachlich ungerechtfertigt zwischen der Wahlannahme für den Disziplinarrat und die übrigen Funktionen im Rahmen der Rechtsanwaltskammer differenziert und die Salzburger Rechtsanwaltskammer kein faires Verfahren bei der Wahl zu Mitgliedern des Disziplinarrates gewährleistet, so z.B. dadurch, daß Rechtsanwälte ihr Einverständnis zum Aufscheinen auf einem Wahlvorschlag erklären müssen, hat die gegen meinen Willen erfolgte Wahl zum Mitglied des Disziplinarrates und Erzwingung meiner Tätigkeit im Rahmen des Disziplinarrates den Charakter einer verpönten Zwangs- und Pflichtarbeit im Sinne des Artikel 4 Abs2 und 3 litd MRK.

Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes:

Die im Disziplinarstatut 1872 §8 vorgesehene Strafandrohung für den Fall der Nichtannahme einer Wahl stellt eine sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung zu anderen Wahlakten im Bereich der RAO dar. Im übrigen verweise ich auf meine oben stehenden Ausführungen."

1.5. Die OBDK als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen (gemeint wohl: abzuweisen).

2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

2.1. Der Beschwerdeführer erachtet sich zunächst durch die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt. Der Beschwerdeführer hält die in §8 Abs4 DSt 1872 angedrohte Verhängung einer Geldstrafe für gleichheitswidrig.

Dieses Bedenken vermag jedoch der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die vom Beschwerdeführer als verfassungswidrig erachtete Bestimmung ist weder bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendet worden noch ist sie vom Verfassungsgerichtshof bei der Behandlung der Beschwerde anzuwenden. §8 Abs4 DSt 1872 ist somit im vorliegenden Verfahren nicht präjudiziell. Die disziplinäre Verurteilung des Beschwerdeführers erfolgte unter Anwendung der §§11 Abs1 DSt und 23 RL-BA. Gegen diese Bestimmungen werden vom Beschwerdeführer keine verfassungsrechtlichen Bedenken vorgebracht. Auch im Verfassungsgerichtshof sind solche aus der Sicht des vorliegenden Beschwerdefalles nicht entstanden.

2.2. Zu den behaupteten Vollzugsfehlern:

2.2.1. Der Beschwerdeführer meint weiters, er sei durch den angefochtenen Bescheid in seinen durch Art4 Abs2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt.

2.2.2. Gemäß Art4 Abs2 EMRK darf niemand gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. Gemäß Art4 Abs3 litd EMRK gilt jede Arbeit oder Dienstleistung, die zu den normalen Bürgerpflichten gehört, nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels.

2.2.3. Die Verurteilung des Beschwerdeführers gründet sich auf §11 DSt 1990 und §23 RL-BA. Da der Beschwerdeführer - wie er selbst einräumt - die Wahl in den Disziplinarrat angenommen hat, ist er zur Erfüllung der Pflichten des Amtes, in das er gewählt wurde, bis zu einer zulässigen Zurücklegung verpflichtet, wofür das Vorliegen wichtiger Gründe nach §11 Abs1 zweiter Satz DSt 1990 vorausgesetzt ist. Über die Zulässigkeit der Rücklegung des Amtes hat gemäß §11 Abs1 Satz 3 leg.cit. der Disziplinarrat durch Beschluß zu entscheiden. Der Beschwerdeführer hat einen solchen Antrag nie gestellt. Er war daher zur Ausübung des Amtes verpflichtet. Bei dieser Sach- und Rechtslage hat die belangte Behörde in unter verfassungsrechtlichen Aspekten jedenfalls vertretbarer Weise die Untätigkeit des Beschwerdeführers als Verstoß gegen §23 RL-BA qualifiziert. Vor diesem Hintergrund ist das Vorbringen des Beschwerdeführers, seine Wahl und seine Verpflichtung zum Tätigwerden als Ersatzmitglied des Disziplinarrates verstoße gegen Art4 Abs2 EMRK schon vom Ansatz her verfehlt.

2.2.4. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.

Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß der Beschwerdeführer in sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, daß er in seinen Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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