OGH 8Ob506/93

OGH8Ob506/934.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.E.Huber, Dr.Jelinek, Dr.Rohrer und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des ***** mj.Massimiliano ***** I*****, infolge Revisionsrekurses des Dr.Joachim B*****, Rechtsanwaltsanwärter, ***** gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten als Rekursgerichtes vom 16.Dezember 1992, GZ R 859/92-35, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St.Pölten vom 22.Oktober 1992, GZ 1 P 177/91-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Stefano I*****, der außereheliche Vater des am 4.6.1945 geborenen mj.Massimiliano I*****, ist von seinem bisherigen Wohnort verzogen und seither unbekannten Aufenthaltes (ON 26). Mit Beschluß vom 20.12.1992 bewilligte das Pflegschaftsgericht dem Minderjährigen ab 1.10.1992 den Bezug von Unterhaltsvorschüssen in der monatlichen Höhe von S 1.800,-. Zwecks Zustellung des Bewilligungsbeschlusses an den Vater bestellte es für diesen den Rechtsanwaltsanwärter Dr.Joachim B***** zum Abwesenheitskurator.

Das von Dr.Joachim B***** mit Rekurs angerufene Gericht zweiter Instanz bestätigte den erstgerichtlichen Beschluß. Es erklärte den Revisionsrekurs für zulässig und führte in seiner Entscheidungsbegründung aus: An der Notwendigkeit einer Kuratorbestellung nach § 276 ABGB könne hier nicht gezweifelt werden.

Die Bestimmung des § 280 ABGB in der Fassung vor dem

Sachwaltergesetz BGBl 1983/136 habe noch ausdrücklich die Regeln über

die Bestellung eines Vormundes auch für die Bestellung eines Kurators

rezipiert. Nunmehr ordne diese Gesetzesstelle lediglich an, daß bei

der Auswahl des Sachwalters oder Kurators auf die Art der

Angelegenheit, die er zu besorgen habe, zu achten sei. § 281 Abs 3

ABGB sehe auch die Bestellung eines Rechtsanwaltes oder

Rechtsanwaltsanwärters vor. Die Entschuldigungsgründe der §§ 191 bis

195 ABGB seien nicht mehr unmittelbar anwendbar, bildeten aber

Wertungsrichtlinien. Hier bringe der bestellte Abwesenheitskurator

vor, daß er bereits in zwei anderen Verfahren Abwesenheitskurator

und in einem weiteren Verfahren Kollisionskurator sei und ihm ein

weiteres derartiges Amt daher nicht zugemutet werden könne. Diese

Entschuldigungsgründe seien nicht gerechtfertigt, da

Abwesenheitskuratelen mit der Führung selbst nur kleinerer

Vormundschaften noch in keiner Weise vergleichbar erschienen. Halte

das Gericht die behaupteten Gründe für eine Ablehnung der Übernahme

der Vormundschaft für nicht gerechtfertigt, könne es gemäß § 203

ABGB sogar Zwangsmittel anwenden. Alle diese Bestimmungen seien hier

jedenfalls analog anwendbar. Die Bezugnahme des Rekurswerbers auf

Art 4 Abs 2 und 3 MRK, wonach niemand dazu gezwungen werden dürfe,

Zwangs- und Pflichtarbeit, ausgenommen Arbeiten oder

Dienstleistungen, die zu den normalen Bürgerpflichten gehörten, zu

verrichten, gehe hier ebenfalls fehl. Im Rahmen jedes Gemeinwesens

müsse nämlich den schwächeren Mitgliedern Hilfe geboten werden und

für den Berufstand der Rechtsanwälte gehöre daher eine derartige

Hilfe bei der Rechtsverfolgung zur Bürgerpflicht.

Gegen den rekursgerichtlichen Beschluß erhebt Dr.Joachim B***** Revisionsrekurs mit dem Abänderungsantrag auf ersatzlose Behebung der angefochtenen Entscheidung. Er bringt vor, bei der Tätigkeit eines Abwesenheitskurators handle es sich zweifellos um eine Zwangs- bzw. Pflichtarbeit, die aus den Bestimmungen der §§ 280 ff ABGB nicht abgeleitet werden könne. Er sei auch noch nicht Rechtsanwalt, sondern lediglich ein in Ausbildung stehender Rechtsanwaltsanwärter ohne Haftpflichtversicherung. Für den Minderjährigen sollte im Rahmen der Verfahrenshilfe gesorgt werden. Mangels Entlohnung sei die Bestellung zum Abwesenheitskurator jedenfalls rechtswidrig. Handle es sich um eine "normale Bürgerpflicht", dann müßten auch Notariatskanditaten, Richteramtsanwärter, Beamte usw bestellt werden.

Der Revisionsrekurs ist gemäß § 14 Abs 1 AußStrG zulässig, aber nicht gerechtfertigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 3 Ob 543, 1548/92 dargelegt, daß bei Bestellung einer - auch nicht in § 281 ABGB genannten - Person zum Sachwalter gemäß § 273 ABGB grundsätzlich die Verpflichtung zur Übernahme des Amtes in Analogie zur Regelung für die Vormundbestellung (§ 200 ABGB) besteht und für diese Person auch die Vorschriften über die notwendige und freiwillige Entschuldigung eines Vormundes (§§ 191 - 195 ABGB) analog zur Anwendung kommen, so auch die Ablehnung wegen unzumutbarer Belastung zufolge bereits geführter mehrerer Sachwalterschaften. Gleiches muß grundsätzlich aber auch für den - im selben Gesetzesabschnitt "Von der Kuratel" genannten - gemäß § 276 ABGB bestellten Abwesenheitskurator gelten.

Es ist dem Rekursgericht darin zuzustimmen, daß die Belastung des zum Abwesenheitskurator bestellten Rechtsmittelwerbers durch zwei weitere Abwesenheitskuratelen und eine Kollisionskurator-Funktion ihrem Gewicht nach keinen Entschuldigungsgrund bildet. Ebenso versagt die auf Art 4 Abs 2 und 3 lit d MRK gestützte Argumentation des Rechtsmittelwerbers:

Diese im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen normieren, daß

"niemand gezwungen werden darf, Zwangs- und Pflichtarbeit zu

verrichten" (Abs 2), hiezu aber "jede Arbeit oder Dienstleistung,

die zu den normalen Bürgerpflichten gehört", nicht zählt (Abs 3 lit

d). Eine die Bestellung eines Rechtsanwaltes oder

Rechtsanwaltsanwärters zum unentgeltlich tätigen Parteienvertreter

betreffende Entscheidung des Obersten Gerichshofes oder des

Verfassungsgerichtshofes liegt nicht vor. Der Europäische

Gerichtshof für Menschenrechte hat sich dagegen bereits mit der auf

die vorgenannten Bestimmungen der MRK gestützten Beschwerde eines

zum unentgeltlich tätigen Pflichtverteidiger bestellten belgischen

Rechtsanwaltsanwärters befaßt und sie mit Urteil vom 23.11.1983 als

nicht gerechtfertigt erkannt. Nach der in Berger, Rechtsprechung

des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, unter "50.Fall

Van der Mussele" (S.219 ff), sinngemäß dargestellten

Entscheidungsbegründung (vgl hiezu auch Frowein-Peukert, Die

Europäische Menschenrechtskonvention EMRK - Kommentar Rz 9 zu Art 4)

argumentierte der Europäische Gerichtshof unter Bezugnahme auch auf

die Übereinkommen Nr.29 und Nr.105 der Internationalen

Arbeitsorganisation und ausgehend von der Auffassung, es sei

erforderlich, die Gesamtumstände des Falles im Lichte der dem Art 4

MRK zugrundeliegenden Ziele zu berücksichtigen (Interesse der

Allgemeinheit, gesellschaftliche Solidarität und Normalität), im

einzelnen folgendermaßen: Die zu leistenden Dienste hätten sich im

Rahmen der normalen Tätigkeit eines Rechtsanwaltes bewegt. Darüber

hinaus hätten sie eine Kompensation in den mit dem Beruf

einhergehenden Vorteilen (ausschließliches Berufsrecht, vor Gericht

zu plädieren und Vertretungen wahrzunehmen) gefunden und zudem zur

beruflichen Schulung des Beschwerdeführers beigetragen. Auch handle

es sich bei dieser Verpflichtung um eine solche, die den in Art 4

Abs 3 lit d MRK erwähnten "normalen Bürgerpflichten" vergleichbar

sei. Schließlich habe sich der Beschwerdeführer keiner

unverhältnismäßigen Belastung gegenüber gesehen (etwa fünfzig

Bestellungen im Laufe einer 3-jährigen Ausbildungszeit)...... Zur

Rüge des Fehlens eines Honorars und der Nichterstattung der Kosten

des Pflichtverteidigers sei anzumerken, daß sich die Gesetzgebung

zahlreicher Vertragsstaaten dahingehend entwickle, die Bezahlung der

zur Verteidigung Bedürftiger bestellten Rechtsanwälte oder Anwärter

der Staatskasse aufzuerlegen. Im vorliegenden Falle habe jedenfalls

trotz mangelnder Entlohnung kein beträchtliches oder unverhältmäßiges

Ungleichgewicht vorgelegen zwischen dem angestrebten Ziel - Zulassung

zur Anwaltschaft - und den übernommenen Verpflichtungen, um dieses

zu erreichen ........ Auch eine Diskriminierung im Sinne des Art 14

iVm Art 4 MRK liege nicht vor. Eine für sich gesehen normale

Tätigkeit könne sich zwar als anormal erweisen, wenn bei der Auswahl

von Gruppen oder Einzelpersonen, welche gehalten seien, diese zu

verrichten, Diskriminierung bestehe. Art 14 MRK schütze Personen in

vergleichbarer Lage gegen jede Art der Diskriminierung, bei den vom

Beschwerdeführer angeführten verschiedenen Berufen (Rechtsanwälte

einerseits und andererseits Richter, Notare oder sonstige

Staatsbeamte) sei jedoch keine Vergleichbarkeit gegeben.

Diese Argumentation des Europäischen Gerichtshofes für Menschrechte trifft grundsätzlich auch auf den Fall eines gemäß § 276 ABGB zum Abwesenheitskurator bestellten Rechtsanwaltsanwärters und somit auch auf den Rechtsmittelwerber zu. Seine Bestellung bloß in einigen wenigen Kuratelfällen und auch der Umstand, daß gerade die gegenständliche Bestellung zum Abwesenheitskurator des Stefano I***** voraussichtlich keinen größeren Aufwand an Zeit und Mühe und keinerlei Unkosten verursacht - der Abwesenheitskurator hat nach der Rechtsprechung im übrigen grundsätzlich einen Entlohnungsanspruch (6 Ob 186/60; 1 Ob 606/81 ua) -, führt daher jedenfalls zur Verneinung der behaupteten Verletzung des Art 4 Abs 2 und 3 lit d MRK. Die dem Rechtsmittelwerber auferlegte Pflicht ist ebenso wie die dem vorgenannten Urteil zugrundeliegende Pflicht zur Tätigkeit als Pflichtverteidiger den in der letztgenannten Konventionsbestimmung angeführten "normalen Bürgerpflichten" vergleichbar. Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S.127 ff, meint, diese Pflichten seien stets gegeben, wenn das sittliche Gebot der Nächstenliebe eine Hilfe notwendig mache und verweist hiebei auch auf öffentlich-rechtliche Bürgerpflichten zu ehrenamtlichen Tätigkeiten z.B. als Schöffe oder Geschworener.

Der Zweck des Abwesenheitskuratel erschöpft sich im übrigen nicht darin, die gerechten Interessen des Abwesenden wahrzunehmen, sondern liegt auch darin, den Mitbürgern die Rechtsverfolgung gegen den Abwesenden zu ermöglichen; sie dient daher insgesamt auch der Allgemeinheit.

Der Hinweis des Rechtsmittelwerbers auf eine mögliche Ungleichbehandlung geht hier schon deswegen fehl, weil nach der Gerichtspraxis sehr häufig z.B. auch Richteramtsanwärter und auch Geschäftsbeamte zu Kuratoren bestellt werden.

Demgemäß war dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

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