VfGH B4/85

VfGHB4/8512.6.1987

Unter "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wird nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie", also die konkrete Gestaltung des jeweiligen Verwaltungsaktes, verstanden; vertretbare Annahme der ungebührlichen Lärmerregung iSd ArtVIII, 2. Begehungsfall EGVG;

festnahme in §35 litc VStG 1950 gedeckt; Festnahme in der Nacht - Vernehmung hat in den Morgen- oder frühen Vormittagsstunden stattzufinden; keine ungerechtfertigte Verfahrensverzögerung;

Anhaltung in §36 Abs1 VStG gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit; Fesselung des Bf. mit Handschellen, ohne daß er sich zvor den Polizeiorganen zu widersetzen suchte, aus Anlaß bloßer (verbaler) Verwaltungsdelikte - Verstoß gegen Art3 MRK; kein Nachweis für weitere behauptete Mißhandlungen; die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
EMRK Art3
VStG §35 litc
EGVG ArtVIII, zweiter Fall
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
EMRK Art3
VStG §35 litc
EGVG ArtVIII, zweiter Fall

 

Spruch:

I. Der Bf. ist durch seine am 23. November 1984 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

II. Hingegen ist der Bf. durch seine von Organen der Bundespolizeidirektion Wien vollzogene Fesselung mit Handschellen am 23. November 1984 in Wien im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung einer erniedrigenden Behandlung verletzt worden.

III. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

IV. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. G F begehrte in seiner mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er am 23. November 1984 in Wien durch (der Bundespolizeidirektion Wien als belangter Behörde zuzurechnende) Amtshandlungen von Sicherheitswacheorganen, nämlich a) seine Festnahme und Anhaltung in Haft, b) seine Fesselung (mit Handschellen) und c) durch Schläge und Fußtritte, demnach insgesamt durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, und zwar (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm Art5 EMRK) und (zu b) und c)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 EMRK), verletzt worden sei.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, worin sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrte.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß (Polizei-)Inspektor N T von der Bundespolizeid irektion Wien den (lt. Anzeigeinhalt) deutlich unter Alkoholeinfluß stehenden Bf. am 23. November 1984 um etwa 2 Uhr 15 in Wien-Margareten ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 aus dem Haftgrund des §35 litc VStG 1950 festnahm; ferner wurde der Festgenommene, als er nach Schilderung in der Anzeige auf den Beamten einzuschlagen suchte, (vorübergehend) mit Handschellen gefesselt, und zwar von Inspektor T selbst unter Mitwirkung des Inspektors G G, und im weiteren Verlauf - nach amtsärztlicher Untersuchung und polizeilicher Einvernahme - um 9 Uhr 15 desselben Tages wieder aus der Haft entlassen.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983, 10321/1985), aber auch für die zwangsweise Fesselung einer Person (mit Hand- oder Fußschellen) zutrifft (vgl. VfSlg. 7081/1973, 7377/1974, 8146/1977, 9836/1983, 10321/1985). Dabei wird unter dieser einer Beschwerdeführung zugänglichen "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" in der Bedeutung des Art144 Abs1 B-VG - nach herrschender Judikatur - nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie", d.h. also die konkrete Gestaltung des jeweiligen Verwaltungsaktes, verstanden (s. zB VfSlg. 8126/1977, 8580/1979, 10321/1985).

2.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die erhobene Beschwerde - soweit sie die Festnahme, Anhaltung und Fesselung des Bf. zum Gegenstand hat - Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG bekämpft.

2.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde im erörterten Umfang zulässig.

2.2. Zur Festnahme und Haftanhaltung

2.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958, 9919/1984, 10441/1985 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung begehen und bei Verübung des Delikts angetroffen werden. Gemäß der litc des §35 VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht. Freilich kommt es hier nicht auf die Richtigkeit des erhobenen Vorwurfs an; es genügt vielmehr, wenn das amtshandelnde Sicherheitsorgan aus damaliger Sicht - nach Lage des Falles - mit gutem Grund (d.i. vertretbar) der - subjektiven - Auffassung sein durfte, daß die in Rede stehende Tat verübt worden sei (vgl. zB VfSlg. 4143/1962, 7309/1974, 10321/1985, 10441/1985).

2.2.2. Die dem Bf. den Umständen nach in erster Linie zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nach ArtVIII,

2. Begehungsfall, EGVG 1950 igF begeht, wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt.

Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979, 9919/1984, 10480/1985) und des VwGH (VwGH 25.3.1969 Z1614/68, 19.4.1982 Z81/10/0104) dadurch gekennzeichnet, daß (störender) Lärm dann "ungebührlicherweise" erregt wird, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.

Angesichts der Verfahrensergebnisse - so auch des Inhalts der Administrativakten - vermag der VfGH der bel. Beh. nicht entgegenzutreten, wenn sie die Auffassung verficht, daß der Sicherheitswachebeamte N T - nach der sich ihm damals darbietenden Situation - mit gutem Grund annehmen durfte, der Bf. habe durch die in der Anzeige beschriebene Handlungsweise (lautstarkes Lärmen und Schimpfen in alkoholisiertem Zustand zur Nachtzeit auf offener Straße - siehe dazu die Einlassungen im Protokoll vom 23. November 1984) zumindest die Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 begangen. War aber - nach dem Gesagten - die Qualifikation des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsdelikt immerhin vertretbar und lag - wie hier - nach Betretung auf frischer Tat und Tatwiederholung trotz förmlicher Abmahnung der - von der Behörde herangezogene - Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.

2.2.3. Unter den obwaltenden Umständen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Grund für die anschließende verwaltungsbehördliche Verwahrung des Bf. schon vor dem Zeitpunkt der Entlassung aus der Haft entfallen wäre.

Gemäß §36 Abs1 VStG 1950 hat die Behörde den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen vierundzwanzig Stunden nach der Übernahme zu vernehmen. In Fällen wie dem vorliegenden (Festnahme um etwa 2 Uhr nachts) ist zu fordern, daß die vorgeschriebene Vernehmung (die (Straf-)Verhandlung) keinesfalls später als in den Morgen- oder doch in den frühen Vormittagsstunden stattfindet (vgl.VfSlg. 9368/1982). Dies traf hier zu, sodaß von einer ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung nicht die Rede sein kann, zumal namentlich auch die damalige (anfängliche) Alkoholisierung des Bf. (mit-)zuberücksichtigen war (vgl. VfSlg. 9860/1983, 10419/1985).

2.2.4. Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß der Bf. im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt wurde.

2.3. Zur Fesselung mit Handschellen

2.3.1. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 210/1958 (EMRK), die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 Verfassungsrang hat, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.

Aus dem WaffengebrauchsG 1969 ist abzuleiten, daß auch die als weniger gefährliche Maßregel eingestufte Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse, die sich als Mittel zur Überwindung eines auf die Vereitelung einer rechtmäßigen Amtshandlung gerichteten Widerstandes und zur Erzwingung einer Festnahme vom Waffengebrauch selbst nur graduell unterscheidet, denselben grundsätzlichen Einschränkungen wie die Waffenverwendung unterliegt, also zur Erreichung der vom Gesetz vorgesehenen Zwecke nur dann Platz greifen darf, wenn sie notwendig ist und maßhaltend vor sich geht, dann aber, d.h. unter diesen Voraussetzungen, wie der Waffengebrauch an sich nicht gegen Art3 EMRK verstößt. So stellt eine notwendige Fesselung (mit Handschellen), wie der VfGH ua. bereits in seinen Erkenntnissen VfSlg. 7081/1973, 8146/1977 und 10018/1984 aussprach, keine hier allein in Betracht kommende "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" iS des Art3 EMRK dar.

2.3.2. Laut Anzeige wurde der Bf. deshalb gefesselt, weil er mit der rechten Hand "auf N T (einmal) einzuschlagen versuchte"; zu einer Berührung des Beamten, der sich - wieder nach Darstellung in der Anzeige - zur Seite drehte, kam es danach gar nicht. Der Bf. stellte jedwede - zur Fesselung Anlaß gebende - versuchte Gewalttätigkeit entschieden in Abrede; damit stimmt die Aussage des Zeugen H P, der den Vorgang beobachtet hatte, im wesentlichen überein. Die amtshandelnden Polizisten T und G erwähnten im Zuge ihrer Einvernahme zur Sache (am 6. Dezember 1984) eine als (versuchte) Gewaltanwendung zu wertende Handlungsweise des Bf. überhaupt nicht. Der VfGH mißt unter diesen Umständen der einleitend umschriebenen Anzeigepassage keine Beweiskraft zu und geht davon aus, daß der Bf. gefesselt wurde, ohne daß er sich zuvor den Polizeiorganen gewaltsam zu widersetzen suchte.

2.3.3. Angesichts dieses Sachverhalts war die bekämpfte Fesselung also nicht etwa deshalb notwendig und geboten, um eine Gefährdung der körperlichen Sicherheit der einschreitenden Polizeiorgane hintanzuhalten. Sie geschah darüber hinaus unter (Begleit-)Umständen, die eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person erkennen ließen (vgl. VfSlg. 9836/1983): (Mit-)maßgebend für diese Wertung war nicht zuletzt der Umstand, daß die - schon nach ihrer Beschaffenheit nur als ultima ratio geeignete - polizeiliche Zwangsmaßnahme in aller Öffentlichkeit aus Anlaß bloßer (verbaler) Verwaltungsdelikte auf deutlich demütigende Weise vor sich ging.

2.3.4. Durch die in Rede stehende Fesselung wurde daher der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verletzt.

2.4. Zu den übrigen Beschwerdepunkten

2.4.1. Was das weitere Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art3 EMRK (angebliche Mißhandlungen mit Verletzungsfolgen) anlangt, so sieht sich der VfGH in Prüfung und Würdigung aller Ergebnisse des abgeführten Beweisverfahrens außerstande, den entsprechenden Behauptungen des Bf. uneingeschränkt beizutreten und die in der Beschwerdeschrift des näheren angegebenen Zwangsakte als zweifelsfrei erwiesen anzusehen:

Der VfGH übersandte eine Ausfertigung der

- entsprechende Vorwürfe gegen die Inspektoren N T und G G enthaltenden - Beschwerdeschrift gemäß §84 StPO der zuständigen Staatsanwaltschaft Wien. Diese Anklagebehörde leitete daraufhin gegen die beiden Verdächtigen vorerst polizeiliche, dann gerichtliche Vorerhebungen (zum AZ 23b Vr 2130/85 des Landesgerichts für Strafsachen Wien) wegen der Vergehen der Körperverletzung nach §83 Abs1 StGB unter Ausnützung einer Amtsstellung (§313 StGB) und der fahrlässigen Verletzung der Freiheit der Person nach §303 StGB in die Wege. Nach Abschluß dieser Erhebungen kam es zur Einstellung des Verfahrens gegen G G gemäß §90 Abs1 StPO und zur Stellung eines Strafantrags gegen N T. Diesem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, er habe am 23. November 1984 in Wien G F durch Schläge am Körper verletzt und hiedurch das Vergehen nach §83 Abs1 StGB - strafbar nach §313 StGB - begangen. N T wurde von dieser wider ihn erhobenen Anklage mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 3. Juni 1986, GZ 2eE Vr 2130/85-32, gemäß §259 Z3 StPO freigesprochen. Dieser Freispruch erwuchs in Rechtskraft. Angesichts dieser konkreten Sachlage, so vor allem im Blick auf das Schicksal der Strafanzeige gegen die verdächtigten Sicherheitswachebeamten, war - zusammenfassend gesehen - (auch) im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren eine hinreichende Klärung der maßgebenden Vorfälle und damit ein Nachweis der behaupteten Mißhandlungen nicht möglich.

2.4.2. Die Beschwerde war darum - in diesem Umfang mangels eines tauglichen Beschwerdegegenstandes als unzulässig zurückzuweisen (Punkt III. des Spruchs).

2.5. Die Kostenentscheidung (Punkt IV. des Spruchs) beruht auf §§88 und 35 Abs1 VerfGG 1953 iVm §43 Abs1 ZPO.

2.6. Diese Entscheidung konnte der Verfassungsgerichtshof in einer der Norm des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 genügenden Zusammensetzung treffen.

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