OGH 6Ob153/24d

OGH6Ob153/24d4.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richterin der Außerstreitsache des Antragstellers J* S*, geboren am *, Vereinigtes Königreich, vertreten durch MMag. Michael Harthaller, LL.M., Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die Antragsgegnerin N* O*, geboren am *, vertreten durch Pallauf Meißnitzer Staindl & Partner Rechtsanwälte (OG) in Salzburg, wegen Rückführung der Minderjährigen 1. A* S*, geboren am * 2014, 2. A* S*, geboren am * 2017, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 20. Juni 2024, GZ 54 R 59/24h‑21, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00153.24D.0904.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

[1] Das Rekursgericht bestätigte die Anordnung der Rückführung der Kinder in das Staatsgebiet des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirlands.

Rechtliche Beurteilung

[2] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragsgegnerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf:

[3] 1. Das Rekursgericht hat den geltend gemachten (angeblichen) Verfahrensmangel (hier: unterlassene Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens) verneint. Zwar wird in diesem Zusammenhang judiziert, es könne die Grundregel, dass vom Rekursgericht verneinte Verfahrensmängel im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden können (RS0121265 [T12]; RS0050037; RS0030748), in Fällen der Gefährdung des Kindeswohls ausnahmsweise durchbrochen werden (RS0050037 [T4]). Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats in Verfahren nach dem HKÜ ist aber ein Sachverständigengutachten in der Regel gar nicht einzuholen, weil dies der Verpflichtung zur Beschleunigung des Verfahrens zuwiderlaufen würde (6 Ob 54/23v [ErwGr 3.5.]; vgl RS0108469). Dass in Einzelfällen die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens als unerlässlich angesehen wurde (vgl 9 Ob 102/03w), stellt diesen Grundsatz nicht in Abrede (6 Ob 54/23v [ErwGr 3.5.]; 6 Ob 218/15z [ErwGr 1.2.]).

[4] 2. Der Fachsenat hat vor dem Hintergrund der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) C‑87/22 (Rn 67 ff) bereits die Auffassung gebilligt, wonach im Fall der widerrechtlichen Verbringung eines Kindes eine Übertragung der Zuständigkeit nach dem Regelungsregime des Art 15 Brüssel IIa-VO (vgl nunmehr Art 13 f Brüssel IIb‑VO) an die Gerichte des Fluchtstaats im Regelfall nicht in Betracht kommt, wenn ein dort gestellter Rückführungsantrag nach dem HKÜ noch nicht rechtskräftig erledigt wurde (6 Ob 190/23v [ErwGr 4.1. f]). Auf die Argumentation des Revisionsrekurses, die Kinder, die auch die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, seien durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union schlechter gestellt als vorher, weil gegenständlich nicht mehr von Art 15 Brüssel IIa‑VO Gebrauch gemacht werden könne, braucht daher nicht weiter eingegangen zu werden.

[5] 3. Der Oberste Gerichtshof ist auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RS0108449 [T2]; RS0006737; RS0006379 [T4]; vgl 1 Ob 194/10a; 6 Ob 242/20m); es besteht daher eine Bindung an die Beweiswürdigung der Vorinstanzen und an deren Feststellungen (zum Verfahren über die Rückführung nach dem HKÜ 6 Ob 103/23z [ErwGr 1.]; 6 Ob 54/23v [ErwGr 3.2.]).

[6] Nach den vom Rekursgericht gebilligten Feststellungen lehnen beide Kinder eine Rückkehr in das Vereinigte Königreich nicht strikt ab. Wenn die Vorinstanzen deshalb verneinten, dass sich die Kinder der Rückgabe widersetzten, ist darin keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken. Im Zusammenhang mit einer Gefährdung des Kindeswohls nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist der bloße Wunsch des Kindes, in der bisherigen Umgebung zu bleiben, regelmäßig nicht derart gravierend, dass bei Nichterfüllung eine Kindeswohlgefährdung im Sinn des Übereinkommens zu bejahen wäre (6 Ob 13/23i [ErwGr 4.2.]; RS0074568 [T6]).

[7] 4.1. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1 HKÜ) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8, T12]). Die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, trifft die volle Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen. Selbst die Frage, ob das Kindeswohl der Rückführung entgegensteht, ist nicht von Amts wegen, sondern nur über Vorbringen der Person, die sich der Rückführung widersetzt, zu prüfen (RS0074561 [T1]).

[8] Das konkrete Kindeswohl ist – wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt – auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung zu berücksichtigen. In Ausnahmefällen kann ein Vollzug dann unterbleiben, wenn nach der Anordnung der Rückführung und vor der Vornahme von Vollstreckungsmaßnahmen neue Umstände eingetreten sind, die bei der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden (6 Ob 83/21f [ErwGr 2.]; vgl 6 Ob 218/15z; RS0106456). Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist und daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG darstellt (vgl RS0112662).

[9] 4.2. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das HKÜ nicht die Rückgabe des entführten Kindes an den anderen Elternteil verlangt (die Entscheidung darüber kommt grundsätzlich den Behörden im Herkunftsstaat zu), sondern die Rückführung des Kindes in das Staatsgebiet des Herkunftsstaats (6 Ob 83/21f [ErwGr 2.]; 6 Ob 66/14w; RS0119950 [T4, T7]).

[10] 4.3. Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst praktisch jede Rückführung scheitern und damit das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (RS0074568 [T5]). Eine gelungene Integration eines Kindes in seine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ schließt eine Rückführung nur dann aus, wenn der Rückführungsantrag – was hier nicht der Fall ist – mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde (RS0074568 [T7]).

[11] 4.4. Grundsätzlich ist es dem entführenden Elternteil zumutbar, gemeinsam mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, weil es dann nicht zur Trennung kommen muss. Dem entführenden Elternteil ist auch zuzumuten, eigene Nachteile der Rückkehr in Kauf zu nehmen, weil es auf sein Wohl dabei nicht ankommt (6 Ob 66/14w; 6 Ob 122/12b; 6 Ob 230/11h; RS0109515 [T14, T15]). Dass eine Weigerung des hauptsächlich betreuenden Elternteils, das Kind bei seiner Rückführung zu begleiten, eine schwerwiegende Gefahr für das Kind begründen könnte, vermag eine Rückführung daher nur dann zu verhindern, wenn es dem hauptsächlich betreuenden Elternteil nach den im Einzelfall gegebenen Umständen unmöglich oder nicht zumutbar ist, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren (6 Ob 83/21f [ErwGr 4.1.]; 6 Ob 240/18i; 6 Ob 94/17t [auch zur Vermeidung einer Geschwistertrennung]; RS0074568 [T4]). Es liegt andernfalls am entführenden Elternteil, im Rahmen seiner Obsorgepflicht mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, um dessen Wohl zu sichern (6 Ob 83/21f [ErwGr 4.2.2.]; vgl 6 Ob 240/18i; 6 Ob 66/14w; 6 Ob 171/13k; 5 Ob 47/09m).

[12] 4.5. Das Rekursgericht war der Auffassung, es sei im Verfahren nicht hervorgekommen, dass der Antragsgegnerin eine Rückkehr in das Vereinigte Königreich nicht zumutbar wäre. Nach der vom Erstgericht erarbeiteten Sachverhaltsgrundlage könnte die Antragsgegnerin auch dort einen vom Antragsteller getrennten Wohnsitz nehmen, ohne dass dadurch das Wohl der Kinder gefährdet wäre. Dadurch würde auch die nunmehr behauptete Gefährdung des Wohls des Sohnes hintangehalten, weil eine Trennung von der Antragsgegnerin (seiner Mutter) verhindert würde. Auch zu einer Geschwistertrennung käme es nicht.

[13] Diese Beurteilung findet Deckung in den erörterten Rechtsprechungsgrundsätzen. Weshalb dies an der sozioökonomischen Realität der Antragsgegnerin vorbeigehen soll, hat diese weder in erster Instanz noch im Rechtsmittelverfahren näher dargelegt. Mit seiner auf eine schwerwiegende Gefährdung der Kinder wegen der durch die Rückführung drohenden Trennung von der Antragsgegnerin gestützten Argumentation, vermag der Revisionsrekurs daher keine aufzugreifende Fehlbeurteilung aufzuzeigen.

[14] 5. Die Vorinstanzen haben bereits das Vorliegen des Rückkehrverweigerungsgrundes des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ vertretbar verneint. Die Frage, ob und allenfalls welche begleitenden Vorkehrungen die Vorinstanzentreffen hätten sollen, um das Kindeswohl bei der Rückkehr nicht zu gefährden, stellt sich schon deshalb nicht (vgl 6 Ob 150/12w [ErwGr 4.4.]). Dies ungeachtet dessen, dass die Antragsgegnerin weder im bisherigen Verfahren noch im Revisionsrekurs inhaltlich auch nur ansatzweise darlegte, welche Maßnahmen dies sein sollten.

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