OGH 6Ob190/23v

OGH6Ob190/23v20.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder 1. V* T*, 2. M* T*, beide geboren am * 2012, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mgr. A* K*, Slowakei, vertreten durch Dr. Lubica Stelzer Páleniková, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 27. Juli 2023, GZ 20 R 380/21d‑132, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00190.23V.1120.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Unionsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

[1] Die Kinder wohnten mit ihren Eltern zunächst in Österreich. Seit der Trennung der Eltern im Juli 2020 halten sich die Kinder bei der Mutter in Bratislava auf. Der Vater beantragte im Juli 2020 nach Art 8 HKÜ die Rückführung der Kinder, worüber von den zuständigen slowakischen Gerichten noch nicht rechtskräftig entschieden wurde. Gleichzeitig beantragte er beim Erstgericht die Übertragung der alleinigen Obsorge für beide Kinder an ihn.

[2] Das Rekursgericht wies in Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung den Antrag der Mutter ab, das Erstgericht möge ein Gericht der slowakischen Republik ersuchen, sich gemäß Art 15 Abs 5 Brüssel‑IIa‑VO für die Weiterführung des gegenständlichen Pflegschaftsverfahrens für zuständig erklären.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der dagegen gerichtete außerordentliche Revisonsrekurs der Mutter zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf:

[4] 1. Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit und eine Mangelhaftigkeit des zweitinstanzlichen Verfahrens liegen nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).

[5] 2. Das Fehlen von Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer Frage des Unionsrechts begründet für sich allein noch keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung. Bei unbestimmten Gesetzesbegriffen reicht es aus, wenn sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Leitlinien zu deren Auslegung ergeben. Die Anwendung dieser Leitlinien auf den Einzelfall kann in weiterer Folge – wie auch in rein nationalen Fällen, in denen die Leitfunktion dem Obersten Gerichtshof zukommt – nur dann eine erhebliche Rechtsfrage begründen, wenn das Gericht zweiter Instanz seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat, also eine gravierende Fehlbeurteilung vorliegt (9 Ob 75/22b [ErwGr 2.]; RS0117100 [insb T12]).

[6] 3. Solche Leitlinien sind im vorliegenden Fall der vom Rekursgericht eingeholten Vorabentscheidung des EuGH vom 13. 7. 2023, C‑87/22 , zu entnehmen:

[7] 3.1. Danach kann ein Gericht, das nach Art 10 Brüssel‑IIa‑VO für Fragen der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen und nach angemessener, ausgewogener und vernünftiger Berücksichtigung des Kindeswohls die Verweisung des Falls, mit dem es befasst ist, auch an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen, in den das betreffende Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde (C‑87/22 [Rn 51]).

[8] 3.2. Die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung dieses Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats gemäß Art 15 Abs 1 Brüssel‑IIa‑VO zu beantragen, unterliegt ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen. Bei der Prüfung derjenigen dieser Voraussetzungen, die den Umstand, dass es in dem anderen Mitgliedstaat ein Gericht gibt, das den Fall besser beurteilen kann, und das Wohl des Kindes betreffen, muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats berücksichtigen, ob gemäß Art 8 Abs 1 und Abs 3 lit f HKÜ ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.

[9] 3.3. Zur konkreten Berücksichtigung eines solchen Umstands wurde unter anderem dargelegt, dass hinsichtlich der Voraussetzung, dass das Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, den Fall „besser“ beurteilen können muss, neben anderen Gesichtspunkten Verfahrensvorschriften des anderen Mitgliedstaats, wie die Vorschriften über die für die Behandlung des Falls erforderlichen Beweise, berücksichtigt werden können (C‑87/22 [Rn 63]). Ebenso kann die Verweisung einen realen und konkreten Mehrwert für den Erlass einer das Kind betreffenden Entscheidung darstellen, wenn das Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, auf Antrag der Parteien des Ausgangsverfahrens und entsprechend den anwendbaren Verfahrensvorschriften insbesondere auf der Grundlage von Art 20 Brüssel‑IIa‑VO eine Reihe dringender einstweiliger Maßnahmen erlassen hat. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Gericht im Licht der ihm von den Beteiligten so zur Kenntnis gebrachten Informationen besser in der Lage ist, alle Lebensumstände und Bedürfnisse des betroffenen Kindes zu erfassen und unter Berücksichtigung des Kriteriums der räumlichen Nähe angemessene Entscheidungen für das Kind zu treffen (C‑87/22 [Rn 66]).

[10] 3.4. Allerdings kann, wenn bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in den das betreffende Kind widerrechtlich verbracht wurde, gemäß den Bestimmungen des HKÜ ein Rückführungsantrag gestellt wurde, kein Gericht dieses Mitgliedstaats als iSd Art 15 Abs 1 Brüssel‑IIa‑VO zur besseren Beurteilung des Falls geeignet angesehen werden, solange die in Art 11 HKÜ und in Art 11 Brüssel‑IIa‑VO vorgesehene Frist von sechs Wochen noch nicht abgelaufen ist. Außerdem kann die erhebliche Verzögerung mit der die Gerichte dieses Mitgliedstaats über diesen Rückführungsantrag entscheiden, ein Faktor sein, der gegen die Feststellung spricht, dass diese Gerichte besser in der Lage wären, in der Hauptsache über das Sorgerecht zu entscheiden (C‑87/22 [Rn 67]).

[11] Nachdem ihnen das widerrechtliche Verbringen des Kindes mitgeteilt wurde, dürfen die Gerichte des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht wurde, nach Art 16 HKÜ eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn insbesondere entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Aspekt bei seiner Beurteilung der zweiten Voraussetzung von Art 15 Abs 1 Brüssel‑IIa‑VO besonders zu berücksichtigen (C‑87/22 [Rn 68]).

[12] Dies gilt auch für die Beurteilung der Voraussetzung des Kindeswohls, bei der im Hinblick auf Art 16 HKÜ nicht außer Acht gelassen werden darf, dass es den Gerichten des Mitgliedstaats, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, solange unmöglich ist, eine dem Kindeswohl entsprechende Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, bis das mit dem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht dieses Mitgliedstaats zumindest über diesen Antrag entschieden hat (C‑87/22 [Rn 69].

[13] 4.1. Das Rekursgericht erachtete in der slowakischen Staatsangehörigkeit der beiden Kinder einen ausreichenden Bezug zur slowakischen Republik begründet. Es war der Auffassung, es sprächen zwar einige Umstände dafür, dass das Wohl der Kinder dadurch besser gefördert würde, wenn das Obsorgeverfahren von Gerichten der slowakischen Republik weitergeführt würde. Nicht nur, dass eine einfachere und effizientere Verfahrensführung ermöglicht würde, weil langwierige Übersetzungen schriftlicher Eingaben, der Urkunden oder aber auch im Zuge von Beweisaufnahmen wegfielen, würden Erhebungen der slowakischen Jugendwohlfahrtsbehörden und allenfalls auch slowakische Kinderpsychologen rascher, unmittelbarer – nämlich ohne Beiziehung von Dolmetschern – und in direktem Wege und nicht im Wege über die Europäische Beweisaufnahmeverordnung zu erreichen sein. Es widerspreche jedoch dem Wohl des Kindes iSd Art 15 Brüssel‑IIa‑VO, dass die slowakischen Gerichte bislang über den im Juli 2020 gestellten Rückführungsantrag des Vaters nach dem HKÜ noch nicht rechtskräftig entschieden haben. Aufgrund der noch nicht rechtskräftig erledigten Rückführungsentscheidung komme eine Übertragung der Zuständigkeit nach dem Regelungsregime des Art 15 Brüssel‑IIa‑VO – im vorliegenden Fall jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt – nicht in Betracht.

[14] Mit dieser Auffassung hat das Rekursgericht den nach den erörterten Leitlinien des EuGH bestehenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten.

[15] 4.2. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurses hat das Rekursgericht eine Abwägung der nach der Rechtsprechung des EuGH maßgeblichen Kriterien vorgenommen. In diesen Kriterien findet auch dessen Beurteilung, dass im vorliegenden Fall aufgrund der noch nicht rechtskräftigen Entscheidung über den Rückführungsantrag des Vaters eine Übertragung der Zuständigkeit nicht in Betracht kommt, Deckung, zumal danach bei der Beurteilung, ob das Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, den Fall „besser“ beurteilen kann, nicht nur die erhebliche Verzögerung, mit der die slowakischen Gerichte über den Rückführungsantrag des Vaters entscheiden, gegen eine solche „bessere“ Beurteilung spricht (EuGH C‑87/22 [Rn 67], sondern auch der Umstand besonders zu berücksichtigen ist, dass die slowakischen Gerichte nach Art 16 HKÜ eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen dürfen, wenn insbesondere entschieden ist, dass das Kind aufgrund des Übereinkommens nicht zurückzugeben ist (C‑87/22 [Rn 68]).

[16] 4.3. Der Revisionsrekurs legt weder nachvollziehbar dar, welche dringenden einstweiligen Maßnahmen nach Art 20 Brüssel‑IIa‑VO das slowakische Gericht angeblich erlassen habe noch weshalb diese Maßnahmen oder slowakische Verfahrensvorschriften im konkreten Fall dennoch für eine „bessere“ Beurteilung durch das slowakische Gericht sprechen sollten. Mit der den erörterten Leitlinien des EuGH (C‑87/22 [Rn 69]) entsprechenden Beurteilung des Rekursgerichts, wonach eine Übertragung der Zuständigkeit aufgrund der noch nicht rechtskräftig erledigten Rückführungsentscheidung auch nicht dem Kindeswohl entspreche, setzt sich der Revisonsrekurs gar nicht auseinander.

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