OGH 14Os37/24h

OGH14Os37/24h19.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Juni 2024 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Loibl LL.M., BSc, in der Maßnahmenvollzugssache des * P* wegen bedingter Entlassung aus einer strafrechtlichen Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB, AZ 15 BE 304/23p des Landesgerichts St. Pölten, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 19. Februar 2024, GZ 15 BE 304/23p‑17, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider, und des Untergebrachten zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0140OS00037.24H.0619.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Maßnahmenvollzugssache AZ 15 BE 304/23p des Landesgerichts St. Pölten verletzt der Beschluss dieses Gerichts vom 19. Februar 2024 § 47 Abs 2 StGB.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Mit rechtskräftigem Urteil vom 10. September 2019, GZ 29 Hv 48/19m‑43 (ON 4 im Akt AZ 15 BE 304/23p des Landesgerichts St. Pölten), ordnete das Landesgericht Krems an der Donau die Unterbringung des * P*nach § 21 Abs 1 StGB idF vor BGBl I 2022/223 in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an, weil er in E* unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einem Asperger-Syndrom mit bestehenden paranoid-psychotischen Tendenzen beruhte, eine im Urteilstenor näher bezeichnete Tat begangen hatte, die als Verbrechen der Brandstiftung nach §§ 15, 169 Abs 1 StGB mit einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist.

[2] In weiterer Folge ordnete auch das Landesgericht Linz mit (rechtskräftigem) Urteil vom 11. Oktober 2022, GZ 22 Hv 68/21x‑27 (ON 5 im Akt AZ 15 BE 304/23p des Landesgerichts St. Pölten), die Unterbringung des P* in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an, weil er in L* unter dem Einfluss eines seine Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer schizophrenen Erkrankung mit gleichzeitigen Hinweisen auf eine schizoide Persönlichkeitsakzentuierung (und Persönlichkeitsstörung) sowie dissoziale Züge beruhte, eine im Urteilstenor näher bezeichnete Tat begangen hatte, die als Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB mit einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist.

[3] Mit (rechtskräftigem) Beschluss vom 19. Februar 2024, GZ 15 BE 304/23p‑17, sprach das Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht aus, dass die strafrechtliche Unterbringung des Betroffenen in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 1 StGB weiterhin notwendig sei, und wies gleichzeitig einen Antrag des Untergebrachten auf bedingte Entlassung nach § 47 Abs 2 StGB ab.

Rechtliche Beurteilung

[4] Dieser Beschluss steht – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[5] Ein Beschluss, mit dem die bedingte Entlassung aus der (strafrechtlichen) Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB (§ 47 Abs 2 StGB)abgelehnt wird, muss Sachverhaltsannahmen enthalten, die den rechtlichen Schluss zulassen, dass die „Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet“, fortbesteht (RIS‑Justiz RS0126648 [T2]). Davon ist auszugehen, wenn die der Unterbringung zugrundeliegende Gefährlichkeit weiter vorliegt und sie außerhalb des forensisch-therapeutischen Zentrums nicht hintangehalten werden kann (vgl zu den gleichgesetzten Begriffen Gefährlichkeit iSd § 47 Abs 2 StGB und Notwendigkeit des Maßnahmenvollzugs iSd § 25 Abs 3 StGB Haslwanter in WK² StGB § 47 Rz 5 ff).

[6] Die Gefährlichkeit des Untergebrachten besteht (wie hier) im Fall von Anlasstaten, die mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind, in der Befürchtung (vgl zum durch das MVAG 2022 unveränderten Erfordernis hoher Wahrscheinlichkeit als Maß für die Prognose Haslwanter in WK² StGB Vor §§ 21–25 Rz 4; RIS‑Justiz RS0089988 [T7]), dass er sonst in absehbarer Zukunft unter dem maßgeblichen Einfluss seiner schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen (§ 21 Abs 1 StGB) begehen werde (Haslwanter in WK² StGB § 47 Rz 10; zur Anwendbarkeit der durch das MVAG 2022 geänderten Unterbringungsvoraussetzungen auch auf die über Antrag oder nach § 25 Abs 3 StGB stattfindende Überprüfung nach altem Recht angeordneter Unterbringungen siehe Art 6 Abs 2 erster Satz MVAG 2022 und § 63 Abs 16 JGG; vgl ErläutRV 1789 BlgNR 27. GP  31).

[7] Der somit auch für die Entscheidung über die bedingte Entlassung aus der vorbeugenden Maßnahme nach § 21 StGB maßgebliche (mit jenem des § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO idente) Begriff der „schweren Folgen“ umfasst über die tatbestandsmäßigen Folgen hinaus alle konkreten Tatauswirkungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, also Art, Ausmaß und Wichtigkeit aller effektiven Nachteile sowohl für den betroffenen Einzelnen als auch für die Gesellschaft im Ganzen, den gesellschaftlichen Störwert einschließlich der Eignung, umfangreiche und kostspielige Abwehrmaßnahmen auszulösen und weitreichende Beunruhigung und Besorgnisse herbeizuführen (RIS‑Justiz RS0108487; Haslwanter in WK² StGB § 21 Rz 27; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 43).

[8] Die (rechtliche) Beurteilung der Tatfolgen als schwer ist auch dann anhand der (beschriebenen) konkreten Tatauswirkungen vorzunehmen, wenn sich die Prognose auf Taten iSd § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB bezieht:

[9] § 21 Abs 1 StGB normiert die Voraussetzungen für die strafrechtliche Unterbringung zurechnungsunfähiger (§ 11 StGB) Rechtsbrecher in einem forensisch-therapeutischen Zentrum, Abs 2 jene für zurechnungsfähige Straftäter. Darauf aufbauend sieht § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB hinsichtlich der Prognose („Befürchtung nach Abs 1“) eine Ausnahme für den Fall vor, dass die Anlasstat (§ 21 Abs 3 erster Satz StGB) mit drei Jahre nicht übersteigender Freiheitsstrafe bedroht ist. In einer solchen Konstellation hat sich die Prognose auf eine bestimmte in § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB genannte strafbedrohte Handlung zu beziehen. Dadurch stellt der Gesetzgeber auch klar, dass mit mehr als zweijähriger Freiheitsstrafe bedrohte Handlungen gegen Leib und Leben sowie mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohte Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung Prognosetaten mit schweren Folgen sein können, ohne zum Ausdruck zu bringen, dass sie stets solche sind (so schon 11 Os 80/23h, wonach strafbedrohte Handlungen iSd § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB zur rechtlichen Kategorie der strafbedrohten Handlungen mit schweren Folgen zählen [Rz 6] und die rechtliche Bewertung als „folgenschwer“ eine sachverhaltsmäßige Beschreibung voraussetzt, die gegebenenfalls auch die Beurteilung als strafbedrohte Handlung iSd § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB ermöglichen muss [Rz 7]; vgl Haslwanter in WK² StGB § 21 Rz 32;sozur alten Rechtslage hinsichtlich einer auf die Begehung einer schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB gerichteten Prognose 14 Os 138/21g; vgl ErläutRV 1789 BlgNR 27. GP  11, wonach davon auszugehen sei, dass Prognosetaten iSd § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB schwere Folgen nach sich ziehen; vgl auch zur gesetzgeberischen Intention, die Voraussetzungen für die strafrechtliche Unterbringung nach § 21 StGB einzuengen ErläutRV 1789 BlgNR 27. GP  5 [„strengere Kriterien ...“] und  7 [„moderate Entlastung der strafrechtlichen Unterbringung“]).

[10] Vor diesem Hintergrund sind daher im Beschluss über die Ablehnung der bedingten Entlassung des P* aus der (nach der neuen Terminologie) strafrechtlichen Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 1 StGB die Prognosetaten sachverhaltsmäßig derart zu umschreiben, dass die rechtliche Annahme einer strafbedrohten Handlung (vgl RIS‑Justiz RS0120218) mit schweren Folgen (im geschilderten Sinn) möglich ist.

[11] Dass bei P* weiterhin gefährlichkeitsrelevante Risikofaktoren vorlägen, die zu einer hohen Gefahr eines nicht näher spezifizierten „Deliktrezidivs“ führen würden (BS 4), das Rückfallrisiko mit der Wahrscheinlichkeit von nicht näher umschriebenen „weiteren Prognosetaten“ als hoch anzusehen sei (BS 8), es durchaus denkbar sei, dass neuerliche impulsive Handlungen „mit Sachbeschädigung oder Körperverletzungsdelikten“ erfolgen könnten (BS 7), und es durchaus als wahrscheinlich anzusehen sei, dass der Untergebrachte in schwierigen Konstellationen „erneut drohend auffährt und so körperliche oder Sachschäden verursacht“ (BS 9), genügt dafür nicht.

[12] Die rechtliche Beurteilung, dass sich die Prognose auf eine strafbedrohte Handlung mit schweren Folgen bezieht, lässt der Beschluss somit nicht zu, weshalb der gezogene rechtliche Schluss auf Ablehnung der bedingten Entlassung nach § 47 Abs 2 StGB auf Basis der (insoweit unvollständigen) Konstatierungen fehlerhaft ist. Der Beschluss verletzt daher § 47 Abs 2 StGB.

[13] Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung wie im Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO). Von der Aufhebung rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (vgl RIS‑Justiz RS0100444).

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