European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00051.24M.0619.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Klauselentscheidungen, Versicherungsvertragsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.694,40 EUR (darin enthalten 282,40 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger schloss mit der Beklagten im Jahr 2007 eine fondsgebundene Lebensversicherung ausgestaltet als Kapitalversicherung mit Rentenwahlrecht ab. Versicherungsbeginn war der 1. 10. 2007; die Laufzeit betrug 25 Jahre. Der Versicherungsvertrag sollte als Tilgungsträger für einen Kredit dienen.
[2] Im Versicherungsvertrag waren eine Kapitalgarantie und eine Höchststandsgarantie (Klauseln 1–3) und eine Rentenwahlklausel (Klausel 4) enthalten. Klausel 4 lautet auszugsweise:
„Wenn Sie Ihre fondsgebundene Lebensversicherung als Kapitalversicherung mit Rentenwahlrecht abgeschlossen haben, haben Sie nach Ablauf der Ansparphase das Recht, anstelle der Auszahlung einer einmaligen Versicherungsleistung die Zahlung einer laufenden Rente zu verlangen.
[...]
In beiden Fällen richtet sich die Höhe der Rente neben dem zur Verfügung stehenden Kapital nach dem Alter der zu versichernden Person bei Rentenauszahlungsbeginn und den zu diesem Zeitpunkt gültigen Tarifen für die Rentenauszahlung. Es finden die dann gültigen Versicherungsbedingungen für die Rentenauszahlung Anwendung.“
[3] Der Kläger konvertierte aufgrund der aus seiner Sicht ungünstigen Entwicklung des Produkts seinen Vertrag 2015. Dabei erhöhte sich die Prämie und die Streuung der Veranlagung veränderte sich. Das geänderte Produkt enthielt auch keine Kapital- oder Höchststandsgarantie mehr, was dem Kläger bewusst war. Er dachte, damit falle auch das Rentenwahlrecht weg, wobei ihm das nicht mehr wichtig war. Das neue Produkt sieht aber weiterhin ein Rentenwahlrecht vor, welches der Kläger mit Ende der Ansparphase per 1. 10. 2032 ausüben kann.
[4] Der Kläger begehrt die Rückzahlung der von ihm geleisteten Nettoprämien samt Zinsen seit dem Vertragsschlusszeitpunkt wegen Gesamtnichtigkeit des Vertrags.
[5] Die Beklagte wendet ein, die Klauseln 1–3 seien seit der Konvertierung kein Vertragsbestandteil mehr und könnten daher bereits deshalb nicht zur Gesamtnichtigkeit des Vertrags führen. Der Wegfall von Klausel 4 führe ebenfalls nicht zur Gesamtnichtigkeit des Vertrags, könne doch der Kläger sein Rentenwahlrecht nach wie vor ausüben.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Aus einer allfälligen Intransparenz oder Missbräuchlichkeit der Klauseln 1–3 könnten dem Kläger keine Nachteile mehr erwachsen, weil sie kein Bestandteil seines bestehenden Vertrags mehr seien. Der Wegfall von Klausel 4 führe nicht zur Undurchführbarkeit des Vertrags, handle es sich dabei doch nicht um eine Hauptleistungspflicht.
[7] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Kläger habe sich bewusst entschieden, auf die Kapitalgarantie zu verzichten und befinde sich in einer gänzlich anderen Lage, als ein Versicherungsnehmer auf dessen Vertrag die inkriminierten Klauseln 1–3 weiterhin anwendbar seien. Hinsichtlich Klausel 4 sei im Hinblick auf die Beurteilung der Frage, ob Teil- oder Gesamtnichtigkeit vorliege, auch der hypothetische Parteiwille zu berücksichtigen. Dem Kläger sei die Rentenwahlklausel nach der Konvertierung des Vertrags ohnehin nicht mehr wichtig gewesen.
[8] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, ob der Entfall einer Rentenwahlklausel zur Gesamt- oder Teilnichtigkeit des Lebensversicherungsvertrags führe, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
[9] Mit seiner Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung beantragt der Kläger die Abänderung im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung, sodass davon auszugehen ist, dass das Revisionsinteresse von lediglich 21.770 EUR sA irrtümlich angeführt wurde; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
[10] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
1. Zur Rentenwahlklausel (Klausel 4):
[12] 1.1. Der Oberste Gerichtshof hat Klauseln wie die im Vertrag der Parteien enthaltene Rentenwahlklausel in Verbandsprozessen bereits als intransparent (vgl 7 Ob 186/20h, 7 Ob 97/22y und 7 Ob 153/22h) beurteilt.
[13] 1.2. In der Entscheidung 7 Ob 13/23x hat der Oberste Gerichtshof in einem Verbandsverfahren eine solche Rentenwahlklausel als vertragliche Nebenabrede und damit auch der Kontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB unterliegend und in der Folge auch inhaltlich als gröblich benachteiligend eingestuft. Der Begriff der vertraglichen Hauptleistungspflichten ist möglichst eng abzugrenzen und soll auf die individuelle, zahlenmäßige Umschreibung der beiderseitigen Leistungen beschränkt bleiben (RS0016908). Bei Versicherungsverträgen gibt es einen Kernbereich der Leistungsbeschreibung, der als Hauptgegenstand des Vertrags nicht der inhaltlichen Kontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB unterliegt. Dies betrifft jedenfalls die Festlegung der Versicherungsart und die Prämienhöhe (RS0128209), nicht aber eine Klausel, die dem Versicherungsnehmer ein Rentenwahlrecht anstelle der grundsätzlich vereinbarten einmaligen Kapitalabfindung einräumt und die Rechnungsgrundlagen dieser Rente regelt (vgl 7 Ob 13/23x mwN).
[14] 1.3. Die Parteien und die Vorinstanzen gehen damit zu Recht von der Unwirksamkeit der hier vereinbarten Rentenwahlklausel aus.
[15] Der Umstand, dass diese Klausel als außerhalb des Kernbereichs des Vertrags liegend nicht kontrollfrei ist, führt alleine aber nicht zur Gültigkeit des Vertrags bei Wegfall der Klausel. Vielmehr sind dabei die unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (Klausel-RL) zu beachten.
[16] 1.4. Die durch die Unwirksamkeit einer – jedenfalls wie hier als gröblich benachteiligend zu beurteilenden – Klausel entstandene Lücke darf weder durch ergänzende Vertragsauslegung, noch durch Rückgriff auf dispositives Gesetzesrecht gefüllt werden, es sei denn, eine ansonsten eintretende Unwirksamkeit des gesamten Vertrags nach nationalem Recht hätte für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen (vgl jüngst EuGH C-645/22 Rz 33 und C‑6/22 Rz 56), wovon hier nicht auszugehen ist.
[17] 1.5. Ob die Streichung einer missbräuchlichen Klausel die Nichtigkeit des übrigen Vertrags zur Folge hat, ist in Art 6 Abs 1 Klausel-RL geregelt. Dieser sieht vor, dass der Vertrag für beide Parteien bindend bleibt, sofern er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Diese Bestimmung legt allerdings nicht selbst die Kriterien fest, nach denen ein Vertrag ohne die missbräuchlichen Klauseln fortbestehen kann, sondern überlässt es der nationalen Rechtsordnung, sie unter Beachtung des Unionsrechts festzulegen. Somit ist es Sache der Mitgliedstaaten, durch ihr nationales Recht die Bedingungen festzulegen, unter denen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel erfolgt und die konkreten Rechtswirkungen dieser Feststellung eintreten. Eine solche Feststellung muss es jedenfalls ermöglichen, die Sach- und Rechtslage wiederherzustellen, in der sich der Verbraucher ohne diese missbräuchliche Klausel befunden hätte (vgl etwa EuGH C-6/22 Rz 18). Dabei ist eine objektive Prüfung vorzunehmen, unabhängig davon, ob der Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass der Vertrag aufrechterhalten werden soll (vgl etwa EuGH C-645/22 Rz 31).
[18] 1.6. Der Kläger weist in seiner Revision zu Recht darauf hin, dass es nach unionsrechtlichen Kriterien zunächst darauf ankommt, ob der betreffende Vertrag ohne die Klausel unverändert fortbestehen kann: Art 6 Abs 1 Klausel-RL zielt aber nicht darauf ab, die Nichtigkeit sämtlicher Verträge herbeizuführen, die missbräuchliche Klauseln enthalten, sondern darauf, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so ihre Gleichheit wiederherzustellen, wobei der betreffende Vertrag – abgesehen von der Änderung, die sich aus dem Wegfall der missbräuchlichen Klauseln ergibt – grundsätzlich unverändert bestehen bleiben muss. Sofern die letztere Bedingung erfüllt ist, kann der betreffende Vertrag bestehen bleiben, soweit ein solcher Fortbestand des Vertrags ohne die missbräuchlichen Klauseln nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist, was anhand eines objektiven Ansatzes zu prüfen ist (EuGH C-625/21 Rz 28).
[19] 1.7. Der Verstoß der Rentenwahlklausel gegen § 879 Abs 3 ABGB ergibt sich daraus, dass die Klausel keine ausreichenden Vorgaben für die Festlegung der Rechnungsgrundlagen enthält. Dieser Mangel macht die Klausel deshalb inhaltlich unangemessen, weil sie es dem Versicherer – bei der im Verbandsprozess vorzunehmenden kundenfeindlichsten Auslegung – ermöglicht, das bei Vertragsabschluss bestehende Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung zulasten des Versicherungsnehmers nach seinem Willen zu verschieben (vgl 7 Ob 13/23x). Der Kläger geht selbst davon aus, dass das verpönte Element der Klausel nicht das dem Versicherungsnehmer eingeräumte Wahlrecht an sich, sondern die Unbestimmtheit der Gegenleistung nach Ausübung des Wahlrechts ist. Das entspricht auch dem Prozessstandpunkt der Beklagten, die ebenfalls davon ausgeht, dass der Kläger weiterhin sein Rentenwahlrecht ausüben kann. Dieser Standpunkt wird dadurch erhärtet, dass auch das vom Kläger erworbene Versicherungsprodukt nach dem Inhalt der – insoweit auch nach der Konvertierung unveränderten – Versicherungspolizze weiterhin eine „Kapitalversicherung mit Rentenwahlrecht“ ist.
[20] 1.8. Die konkrete Ausgestaltung dieser Rente erfordert eine entsprechende beiderseitige Einigung auf die später zum Tragen kommenden Konditionen, weshalb der Versicherer dafür ein konkretisiertes Angebot an den Versicherungsnehmer zur Ausübung des Rentenwahlrechts legen darf, ohne dass dies eine verpönte Geschäftspraxis nach § 28a KSchG wäre (vgl 7 Ob 97/22y und 7 Ob 153/22h). Die Klausel ist ja gerade an der mangelnden Bestimmtheit der entscheidenden Parameter für die Berechnung der Rente gescheitert und hat dem Versicherungsnehmer daher dafür keine ausreichende Klarheit gebracht.
[21] 1.9. Für das Zustandekommen des vom Versicherer vorzunehmenden Anbots zur konkreten Höhe der Rente besteht beim Versicherer allerdings kein freies Ermessen, er ist vielmehr an die regulatorischen Vorgaben des Aufsichtsrechts gebunden. Der Versicherer kann nicht „irgendeinen“ Tarif heranziehen, um eine Rente zu berechnen, sondern es muss ein davor der FMA gemeldeter Tarif sein, der ein dem Kundenschutz dienendes Produktfreigabeverfahren durchlaufen hat (vgl Schauer, Transparenzgebot, die Wievielte?, ZVers 2022, 1, Konwitschka, Pro Wirksamkeit, contra Gesamtnichtigkeit, VbR 2023/27, jeweils mwN). Beide Autoren haben zwar die Rechtslage unter Zugrundelegung von lediglich als intransparent beurteilten Rentenwahlklauseln beurteilt, dennoch lassen sich ihre Überlegungen auch für die Frage der Gesamtnichtigkeit des Vertrags unter Zugrundelegung der gröblichen Benachteiligung der Rentenwahlkausel fruchtbar machen. Entscheidend ist nämlich, dass der Versicherungsnehmer weiterhin über ein Rentenwahlrecht verfügt (diesen Umstand außer Acht lassend: „den Verbraucher zu zwingen, die Kapitalleistung in Anspruch zu nehmen“ und damit für Gesamtnichtigkeit: Haghofer, Rentenwahlrecht ohne wirksame Rechnungsgrundlagen, VbR 2021/27). Die konkrete Ausgestaltung dessen kann ohnehin nur über eine zum Zeitpunkt der Ausübung dieses Wahlrechts zu erzielende Einigung festgelegt werden, für die sowohl aufsichtsrechtliche Vorgaben als auch gesetzliche Informationspflichten (§ 2 Abs 1 Z 4 LV-InfoV 2018) vorgesehen sind. Somit kann der Vertrag aus Sicht des Klägers unverändert fortbestehen, eine Veränderung des Vertrags zu seinen Lasten bewirkt der Wegfall der Klausel, die ohnehin keine ausreichenden Vorgaben zur Rentenberechnung enthalten hat, nicht.
[22] Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass der Wegfall der Rentenwahlkausel hier nicht zur Gesamtnichtigkeit des Vertrags zwischen den Streitteilen führt.
2. Zur Kapital- und Höchststandsgarantie (Klauseln 1–3):
[23] 2.1. Eine für missbräuchlich erklärte Vertragsklausel ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich als von Anfang an nicht existent anzusehen, so dass sie gegenüber dem Verbraucher keine Wirkungen haben kann. Folglich muss die gerichtliche Feststellung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel grundsätzlich dazu führen, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne diese Klausel befunden hätte (EuGH C‑520/21 Rz 57; C-154/15 , C-307/15 und C-308/15 Rz 61). Die Klauseln 1–3 entfalten für den Kläger keine Wirkung mehr, er wird durch sie weder berechtigt noch verpflichtet, weshalb für ihn die Sach- und Rechtslage, in der er sich ohne die Klauseln befände, bereits wiederhergestellt ist und damit der Vertrag in seiner nunmehrigen Ausgestaltung grundsätzlich auch unverändert fortbestehen kann.
[24] 2.2. Soweit der Kläger argumentiert, es bestehe ein Wertungswiderspruch dahingehend, dass ein Versicherungsnehmer der zur Rettung des Vertrags – um sich von den unliebsamen Klauseln zu lösen – eine Konvertierung vorgenommen habe gegenüber dem untätigen Versicherungsnehmer schlechter gestellt werde, übersieht er, dass eine solche Motivationslage beim Kläger nach den Feststellungen gerade nicht vorgelegen hat. Vielmehr hat der Kläger nach den Feststellungen die Entwicklung des ursprünglichen Produkts verfolgt und sich in der Folge für ein anderes Produkt mit höherer Prämie ohne Kapitalgarantie entschieden, weil er einen höheren Ertrag erzielen wollte. Es kam ihm damit aber offensichtlich gerade nicht auf die Kapital‑ und Höchststandsgarantie und deren Ausgestaltung an, sondern auf einen unabhängig von einer Garantie zu erzielenden höheren Ertrag, für den er bewusst auf die Garantie verzichtet hat. Auf eine Verwirkung oder Verjährung des Rechts des Klägers, die Missbräuchlichkeit der Klauseln geltend zu machen und die Frage der Restitutionswirkung (vgl etwa EuGH C-520/21 Rz 58, 66) kommt es daher gar nicht an.
[25] 3. Angesichts der zahlreich vorhandenen und eindeutigen Rechtsprechung des EuGH zum Thema des Umgangs mit unwirksamen Vertragsklauseln erübrigt sich im Sinne der Acte-clair-Theorie dessen (vom Kläger angeregte) Anrufung (RS0082949).
[26] 4. Der Revision des Klägerswar daher keine Folge zu geben.
[27] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.
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