European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00145.23F.0514.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden, soweit sie nicht in Rechtskraft erwachsen sind (Punkt 2. des Urteilsspruchs des Erstgerichts und Punkt 1. des Urteilsspruchs des Berufungsgerichts), aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der 1961 geborene Kläger war ab 1. September 2001 bei unterschiedlichen Dienstgebern als Taxilenker mit einer Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden beschäftigt.
[2] Ein üblicher Arbeitstag unter der Woche begann dabei um 7:10 Uhr mit Schülerfahrten. Anschließend fuhr der Kläger nach Hause und führte üblicherweise von 11:30 bis 13:15 Uhr wieder Schülerfahrten durch, wenn es keine anderen (Fahr‑)Aufträge gab. Danach hatte er wieder frei. Zudem war der Kläger „immer“ für den Abend‑ und Nachtdienst eingeteilt, der durchschnittlich von 19:00 Uhr bis 4:00 oder 5:00 Uhr dauerte. Dieser Abenddienst war „grundsätzlich“ jeden Tag zu leisten, wobei zumindest sechs Dienste im Monat bis 5:00 Uhr dauerten.
[3] Zwischen 1. September 2001 und 1. Jänner 2022 leistete der Kläger in 184 Monaten an mehr als fünf Tagen Nachtdienst, der von 19:00 bis mindestens 5:00 Uhr dauerte. Die Nachtarbeit, insbesondere an den Wochenenden von Freitag bis Sonntag, war Teil des Anforderungsprofils der Tätigkeit des Klägers.
[4] Mit Bescheid vom 23. Juni 2022 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der Kläger zum Feststellungszeitpunkt 1. Jänner 2022 insgesamt 546 Versicherungsmonate erworben habe, lehnte aber die „Anerkennung“ von Schwerarbeitszeiten in den Zeiträumen von 1. September 2001 bis 30. April 2003, 20. Mai 2003 bis 25. April 2004, 1. Juni 2004 bis 26. September 2004, 1. Dezember 2004 bis 31. März 2005, 13. Mai 2005 bis 25. September 2005, 1. November 2005 bis 19. April 2006, 8. Mai bis 18. Juli 2006 und 21. Juli 2006 bis 31. Dezember 2021 ab.
[5] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die von ihm in den genannten Zeiträumen erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.
[6] DasErstgericht stellte die Monate September 2001 bis April 2003, Juni 2003 bis März 2004, Juni 2004 bis September 2004, Dezember 2004 bis März 2005, Juni 2005 bis September 2005, November 2005 bis März 2006, Juni 2006, August 2006 bis Oktober 2006 sowie die Monate Dezember 2006 bis Februar 2020, jeweils mit Ausnahme der Monate April und November, also 184 Monate Schwerarbeitszeiten iSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV fest (Spruchpunkt 1.). Das Mehrbegehren wies es (rechtskräftig) ab (Spruchpunkt 2.).
[7] Das Berufungsgericht stellte fest, dass der Kläger bis zum Feststellungszeitpunkt 1. Jänner 2022 insgesamt 546 Versicherungsmonate erworben habe (Spruchpunkt 1.), wies dagegen das auf Feststellung von Schwerarbeitsmonaten gerichtete Begehren zur Gänze ab. Obwohl der Kläger quasi „Tag und Nacht“ gearbeitet habe, liege keine SchwerarbeitiSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV vor. Die Feststellungen des Erstgerichts gäben zwar keinen Aufschluss über die nähere Gestaltung der Tagdienste an den Wochenenden undden schulfreien Tagen oder darüber, ob und in welchem Ausmaß in die Nachtdienste Arbeitsbereitschaft gefallen sei. Das sei letztlich aber nicht entscheidend, weil der Kläger jeden Tag in der Nacht gearbeitet habe, sodass der für die Anerkennung von Schwerarbeitsmonaten notwendige Wechsel zwischen Tag‑ und Nachtdiensten nicht erfolgt sei. Auch wenn die Tätigkeit des Klägers möglicherweise massive Schlafdefizite verursacht habe, ziele § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV nur auf eine Störung des Schlafrhythmus durch unregelmäßige Nachtarbeit im Rahmen eines Schicht- oder Wechseldienstes ab, der hier aber nicht vorliege.
[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil keine Rechtsprechung zu Konstellationen vorliege, bei denen offensichtlich unter Missachtung arbeitszeitlicher Regelungen täglich ein Tag‑ und ein Nachtdienst geleistet werde.
[9] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit dem er die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt. Hilfsweise stellt er auch einen Aufhebungsantrag.
[10] Die Beklagte beantragt, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist zulässig und im Sinn der hilfsweise begehrten Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.
[12] 1. Vorauszuschicken ist, dass der Kläger zwar erklärt, das Berufungsurteil zur Gänze anzufechten. Nach dem maßgeblichen Revisionsantrag (RS0043624 [insb T1]) ist die Feststellung der Versicherungszeiten iSd § 247 Abs 1 ASVG (Spruchpunkt 1. des Berufungsurteils) aber kein Gegenstand des Revisionsverfahrens mehr. Dass der Kläger bis zum 1. Jänner 2022 insgesamt 546 Versicherungsmonate erworben hat, war zwischen den Parteien auch nie strittig. Neben der schon in erster Instanz erfolgten Teilabweisung der Klage ist daher auch die Feststellung der Versicherungszeiten durch das Berufungsgericht in Rechtskraft erwachsen.
[13] 2. Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV gelten Tätigkeiten dann als besonders belastend bzw als Schwerarbeit (§ 607 Abs 14 ASVG bzw § 4 Abs 4 APG), wenn sie in einem Schicht‑ oder Wechseldienst auch während der Nacht (zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr) jeweils im Ausmaß von mindestens sechs Stunden und zumindest an sechs Arbeitstagen im Kalendermonat erbracht werden, sofern in diese Arbeitszeit nicht überwiegend Arbeitsbereitschaft fällt.
[14] 2.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stellt reine Nachtarbeit kein Belastungsmoment iSd SchwerarbeitsV dar, das zum Vorliegen von Schwerarbeit führt (10 ObS 81/22t Rz 16; 10 ObS 104/17t ErwGr 2.1. ua). Die besonders belastenden Arbeitsbedingungen liegen vielmehr in der unregelmäßigen Nachtarbeit im Rahmen eines Schicht‑ oder Wechseldienstes, die notwendigerweise einen Wechsel zwischen Tag‑ und Nachtdienst voraussetzt (RS0126106). Es muss daher ein Schicht‑ oder Wechseldienst (im Rahmen eines periodischen Dienst‑ bzw Schichtplans) erbracht werden, das heißt, es muss vor, nach oder zwischen den sechs Nachtdiensten zumindest ein Wechsel zu einem Tagdienst stattfinden (10 ObS 39/17h ErwGr 2.; 10 ObS 103/10k ErwGr 2.2.; Rainer/Pöltner in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 4 APG Rz 136; Milisits, Schwerarbeitsverordnung 22 ua). Regelmäßig geleistete 24‑Stunden‑Dienste stellen daher keine Schwerarbeit dar (10 ObS 104/17t ErwGr 4.).
[15] 2.2. Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV liegt zwar schon dann vor, wenn nur an sechs Arbeitstagen im Kalendermonat – in einzelnen Schicht- oder Nachtdiensten – unregelmäßige Nachtarbeit geleistet wurde (10 ObS 23/16d [ErwGr 2.4.1.] ua). Es darf aber nicht „überwiegend“, also mehr als der Hälfte der Zeit bzw mindestens drei Stunden, bloße Arbeitsbereitschaft vorliegen (10 ObS 103/10k [ErwGr 2.2.] ua). Unter Arbeitsbereitschaft ist dabei der Aufenthalt an einem vom Dienstgeber bestimmten Ort mit der Verpflichtung zur jederzeitigen Aufnahme der Arbeit im Bedarfsfall zu verstehen (RS0051351; jüngst 10 ObS 81/22t Rz 23 = DRdA 2023/45 [Pasz] mwN).
[16] 3. Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, dass der Oberste Gerichtshof von einem Zusammenhang zwischen § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV und den arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen ausgeht, was vor allem in der Verwendung der dort definierten Begriffe zum Ausdruck kommt (vgl 10 ObS 104/17t; 10 ObS 81/22t). Vor diesem Hintergrund ist die Annahme konsequent, § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV sei in ein arbeitszeitrechtliches Regime eingebettet und setze demgemäß (implizit) voraus, dass zwischen den wechselnden Diensten eine Ruhezeit nach § 12 AZG liegt. Ob die Kohärenz der Bestimmungen so weit geht, dass nur dem Arbeitszeitrecht entsprechende Dienste Schwerarbeitszeiten begründen können, also – mit den Worten der Beklagten – fortgesetzte Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz nicht mit Schwerarbeitsmonaten honoriert werden können, oder teleologische Erwägungen dazu führen, dem § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV (argumentum a minori ad maius) auch den Wechsel von Tag‑ zu Nachtdienst ohne dazwischen liegende Ruhezeit zu unterstellen (vgl Brandstetter, Glosse zu 10 ObS 104/17t in JAS 2018, 66 [72 f]), muss hier zumindest derzeit aber nicht entschieden werden.
[17] 3.1. Denn das Berufungsgericht schließt den Wechsel zwischen Tag‑ und Nachtdienst aus, weil der Kläger an jedem Arbeitstag in der Nacht gearbeitet habe. Das lässt sich aus dem Sachverhalt in dieser Form aber nicht ableiten, weil das Erstgericht bislang nur festgestellt hat, dass der Abend‑ und Nachtdienst „grundsätzlich jeden Tag zu leisten“ und der Kläger dafür „immer [...] eingeteilt“ war. Dass und wann er diesen tatsächlich geleistet hat, steht daher nicht fest. Die Feststellung, Nachtarbeit „insbesondere“ am Wochenende sei Bestandteil seiner Tätigkeit gewesen, legt im Zusammenhalt mit den Ausführungen in der Beweiswürdigung, wonach „sechs Nachtdienste […] bei durchschnittlich 4,33 Wochen pro Monat (daher zumindest 8,66 Freitage und Samstage) jedenfalls im Rahmen der Plausibilität“ lägen, weshalb der Kläger auch dann, sollte er „einmal ein Wochenende nicht gearbeitet haben, die[se] Schwelle dennoch überschreiten" würde, vielmehr nahe, dass das Erstgericht davon ausgegangen ist, der Kläger habe Nachtdienste vorwiegend am Wochenende erbracht. Tagdienste insbesondere in Form der Schülerfahrten leistete er nach den Feststellungen hingegen nur an „üblichen Arbeitstag[en] unter der Woche“, nicht aber am Wochenende. Dies würde auch dem Vorbringen des Klägers entsprechen, wonach er „vor allem am Wochenende" in der Nacht, unter der Woche dagegen „vorwiegend tagsüber“ gearbeitet habe. Ob das Erstgericht tatsächlich von so gelagerten (und auch wirklich geleisteten) Tag- und Nachtdiensten oder doch von der vom Berufungsgericht angenommenen täglichen Nachtarbeit ausgegangen ist, lässt sich mangels ausreichend deutlicher Feststellungen nicht definitiv klären.
[18] 3.2. Träfe die (nach den Feststellungen mögliche) Darstellung des Klägers zu, hätte es – wie von ihm behauptet – durchaus zu Wechseln zwischen den unter der Woche geleisteten Tagdiensten und den einzelnen Nachtdiensten am Wochenende kommen können. Selbst unter dieser Prämisse lägen Schwerarbeitszeiten aber nur vor, sofern in die Nachtdienste nicht überwiegend Arbeitsbereitschaft gefallen wäre. Abhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung können dazu auch Standzeiten eines Taxilenkers zählen. Auch für die Beantwortung dieser Fragen fehlen entsprechend klare Feststellungen.
[19] 4. Zusammenfassend erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weil anhand der bisher getroffenen (unvollständigen und undeutlichen) Feststellungen nicht beurteilt werden kann, ob aufgrund der zeitlichen Lagerung der Dienste der für Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV notwendige Wechsel zwischen Tag- und Nachtdiensten vorliegt. Erst wenn das verneint wird und feststeht, dass der Kläger täglich Nacht- und an einzelnen Tagen zusätzlich noch Tagdienste geleistet hat, stellt sich die vom Berufungsgericht formulierte Zulassungsfrage, ob auch (praktisch) durchgehend, also unter Missachtung gesetzlicher Ruhezeiten geleistete Tag- und Nachtdienste Schwerarbeitszeiten darstellen können.
[20] 5. Im fortgesetzten Verfahren werden daher – allenfalls nach Erörterung mit den Parteien und Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage – möglichst konkrete und eindeutige Feststellungen zu treffen sein, wann, wie lange und in welcher Abfolge der Kläger tagsüber und/oder in der Nacht gearbeitet hat. Weiters werden zur Beurteilung des Vorliegens „bloßer“ Arbeitsbereitschaft möglichst genaue Feststellungen über den tatsächlichen Inhalt der Tätigkeit des Klägers während der Nachtdienste zu treffen sein.
[21] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)